Betriebsratswahlen unter dem COVID-19-Regime

Autoren: GEORG SCHIMA / JOHANNA PINCZOLITS
aus: DRdA 4/2020

Das LG Graz hat jüngst die erstmalige Durchführung einer Betriebsratswahl einem Wahlvorstand untersagt und sich dabei auf die neue Vorschrift des § 170 Abs 1 ArbVG und die COVID-19-LockerungsVO gestützt. Der Beitrag zeigt auf, dass beide Begründungsstränge nicht zu überzeugen vermögen (wobei die VO mittlerweile ohnehin geändert wurde) und beschäftigt sich neben der Auslegung von und auch rechtspolitischer Kritik an § 170 Abs 1 ArbVG, darüber hinaus mit den Möglichkeiten der Organisation einer Betriebsratswahl in einer Weise, die das Ansteckungsrisiko minimiert. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob der AG angesichts der mit 29.5.2020 erfolgten Beseitigung jeglicher gesundheitlicher Vorkehrungsmaßnahmen in der COVID-19-LockerungsVO für betriebsverfassungsrechtliche Zusammenkünfte berechtigt ist, einseitig gewisse Maßnahmen zur Prävention von Ansteckungen anzuordnen.

  1. Die Entscheidung des LG Graz zur Untersagung einer Betriebsratswahl

  2. Kritische Betrachtung des Beschlusses des LG Graz

    1. Inhalt und Sinn und Zweck des § 170 Abs 1 ArbVG

    2. Konsequenzen des § 170 Abs 1 ArbVG für Betriebsratswahlen

    3. Abhaltung von Betriebsversammlungen während der COVID-19-Situation

    4. Die Organisation einer Betriebsratswahl in der COVID-19-Situation

    5. Zusammenfassende Bemerkung zum Beschluss des LG Graz

  3. § 170 ArbVG unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit von Versammlungen nach dem ArbVG

  4. Einseitige Verschärfung von gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen bei der Betriebsratswahl durch den Arbeitgeber

  5. Zusammenfassung

1.
Die Entscheidung des LG Graz zur Untersagung einer Betriebsratswahl

Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht hat kürzlich eine in den Medien – gemessen an ihrer Bedeutung – vergleichsweise wenig beachtete Entscheidung getroffen. Mit Beschluss vom 18.5.2020* erkannte es über den von einem Grazer Unternehmen mit rund 1.000 AN, das über keinen BR verfügt, gestellten Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung, dass dem bekl Wahlvorstand „zur Sicherung des Anspruches der klagenden (gefährdeten) Partei auf Unterlassung der Abhaltung einer Betriebsratswahl verboten [werde], am 19. Mai 2020 und so lange die Durchführung einer Betriebsratswahl nach der geltenden COVID-19-Gesetzgebung nicht möglich ist – längstens jedoch bis 31. Oktober 2020 – eine Betriebsratswahl im Betrieb oder in den Betrieben der gefährdeten Partei abzuhalten“.

Wenngleich sich die Rechtslage kurz nach dem Beschluss des LG Graz durch erneute Novellierung der COVID-19-LockerungsVO* geändert hat (dazu unten Pkt 2.3.), ist die Entscheidung nach wie vor relevant, weil sie sich nicht nur auf diese (im Entscheidungszeitpunkt strengere) VO, sondern auch auf eine bestimmte (nicht zutreffende; siehe im Folgenden) Interpretation des § 170 Abs 1 ArbVG stützt, die seit dem Gerichtsbeschluss nicht geändert wurde.

Begründet hat das LG Graz seine Entscheidung folgendermaßen und dabei – soweit aus dem Beschluss ersichtlich – die Argumentation der kl/gefährdeten Partei im Wesentlichen übernommen: § 170 Abs 1 ArbVG idF BGBl I 2020/23BGBl I 2020/23sehe vor, dass sich die Tätigkeitsdauer von Organen der betrieblichen Interessenvertretung nach diesem Gesetz, die im Zeitraum vom 16.3. bis 31.10.2020 ende, bis zur Konstituierung eines entsprechenden Organs der betrieblichen Interessenvertretung verlängere, das nach dem 31.10.2020 unter Einhaltung der dafür vorgesehenen Fristen gewählt worden sei. Gem § 40 ArbVG sei der bekl bzw als Antragsgegner auftretende Wahlvorstand ein Organ der Arbeitnehmerschaft und falle daher unter den von § 170 Abs 1 ArbVG verwendeten* Begriff des „Organs der betrieblichen Interessenvertretung“, sodass dieser von der „Verlängerungsautomatik“ des § 170 Abs 1 ArbVG erfasst sei. Der Grund für die Verlängerungsautomatik sei nach den Erläuternden Bemerkungen zum 2.* und 3.* COVID-19-Gesetz darin zu sehen, dass die geordnete Durchführung von Betriebsratswahlen und Wahlen zu anderen Organen der betrieblichen Interessenvertretung aufgrund der aktuellen COVID-19-Krise „nicht möglich“ sei. Auch die COVID-19-LockerungsVO * (idF BGBl II 2020/207BGBl II 2020/207) könne daran nichts ändern, weil diese Veranstaltungen von mehr als zehn Personen untersage. Die Voraussetzungen der in der VO vorgesehenen Ausnahme für „Zusammenkünfte zu beruflichen Zwecken, wenn diese zur Aufrechterhaltung der beruflichen Tätigkeit erforderlich“ seien, lägen bei einer Betriebsratswahl nicht vor.

2.
Kritische Betrachtung des Beschlusses des LG Graz

Die oben wiedergegebene Entscheidung mag gut gemeint sein, ist aber eine Fehlentscheidung, zu der eine wenig sorgfältige Eil-Gesetzgebung freilich beigetragen hat. Mittlerweile hat sich – wie schon erwähnt – auch die Rechtslage (freilich nur auf Verordnungsebene) geändert (siehe unten).

2.1.
Inhalt und Sinn und Zweck des § 170 Abs 1 ArbVG

Als es Mitte März 2020 in Österreich zum „Lockdown“ kam, mussten zahlreiche gesetzliche Entscheidungen getroffen werden. Ein Problem von vielen war dabei, dass man in Anbetracht der – zunächst sehr restriktiven – Verbote betreffend Zusammenkünfte von Menschen* davon ausgehen musste, dass Betriebsratswahlen vorerst nicht würden stattfinden können. Um ein Vertretungsvakuum zu verhindern, sah der Gesetzgeber im 2. COVID-19-Gesetz* in § 170 Abs 1 ArbVG vor, dass sich die Tätigkeitsdauer der Organe bis zur Konstituierung neuer Organe verlängert, welche nach dem 30.4.2020 gewählt worden sind, wobei der Gesetzgeber schon ankündigte, dass durch VO erforderlichenfalls eine Verlängerung erfolgen solle. Diese Verlängerung geschah dann nicht durch VO (zumal das 2. COVID-19-Gesetz auch keine derartige Ermächtigung enthielt), sondern durch Novellierung des § 170 Abs 1 ArbVG mit dem 3. COVID-19-Gesetz.*

Was der Sinn und Zweck der oben schon wiedergegebenen Regelung war, geht zwar aus den Materialien zum 2. COVID-19-Gesetz noch nicht klar hervor, sehr wohl aber aus jenen zum 3. COVID-19-Gesetz, wenn es dort heißt: „Durch die Änderungen in Abs 1* sollen vertretungslose Zeiten verhindert werden.“*

Diese Ratio und gesetzgeberische Erwägung spricht sehr klar gegen die vom LG Graz im oben erwähnten Beschluss gezogene Schlussfolgerung, die „Verlängerungsautomatik“ betreffend die Belegschaftsvertretungsorgane auch auf einen Wahlvorstand zu beziehen, der erstmals im Betrieb eine Betriebsratswahl organisiert und das damit zu begründen, es handle sich auch beim Wahlvorstand gemäß gesetzlicher Anordnung in § 40 ArbVG um ein Organ der Arbeitnehmerschaft und damit auch um eines der „betrieblichen Interessenvertretung“ iSd § 170 Abs 1 ArbVG.

Dem Umstand, dass der Gesetzgeber des § 170 Abs 1 ArbVG damit einen dem Gesetz bislang fremden Terminus gewählt hat, weil § 40 ArbVG – wie gesagt – von „Organen der Arbeitnehmerschaft“spricht, sollte man dabei nicht entscheidende Bedeutung beimessen, sondern ihn eher als nicht ganz untypische legistische Fehlleistung eines Eil-Gesetzgebers qualifizieren.

Eine Verlängerung der „Amtsdauer“ eines Wahlvorstandes, der erstmalig eine Betriebsratswahl organisiert, ergibt aber in diesem Zusammenhang keinen Sinn und beseitigt vor allem kein Vertretungsvakuum, sondern verlängert dieses sogar und brächte einzig und allein die – kaum ins Gewicht fallende – Erleichterung mit sich, dass der Wahlvorstand nicht wegen Untätigkeit von der Betriebsversammlung enthoben werden kann.*

§ 170 Abs 1 ArbVG ist somit teleologisch zu reduzieren und sein Anwendungsbereich nicht auf den Wahlvorstand zu beziehen, der erstmals eine Betriebsratswahl organisiert.

2.2.
Konsequenzen des § 170 Abs 1 ArbVG für Betriebsratswahlen

Bei bestehenden Betriebsräten hat § 170 Abs 1 ArbVG in der Tat zur Folge, dass sich deren Amtsdauer verlängert und deshalb eine Wahl vor Ablauf dieser Amtsdauer (unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorlauffristen) nicht wirksam stattfinden kann. Denn eine Betriebsratswahl, die in die Amtsdauer eines gültig gewählten BR eingreift, ist nicht bloß anfechtbar iSd § 59 ArbVG, sondern sogar nichtig gem § 60 ArbVG.* Da § 170 Abs 1 ArbVG aber kein absolutes Verbot der Durchführung einer Betriebsratswahl enthält (und richtiger-weise ein solches auch nicht auf der Grundlage sonstiger COVID-19-Gesetzgebungs- oder Verordnungsakte existiert; dazu unten), spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass eine mit einem BR (zB wegen dessen Agierens in der COVID-19-Krise) unzufriedene Belegschaft den BR mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in der Betriebsversammlung enthebt und danach einen BR neu wählt. Eine solche Vorgangsweise geriet zwar nicht in Konflikt mit § 170 Abs 1 ArbVG, aber zunächst – außer in ganz kleinen Betrieben – möglicherweise mit den Vor-schriften der aufgrund des COVID-19-Maßnahmengesetzes und § 15 EpidemieG erlassenen COVID-19-LV idF BGBl II 2020/207BGBl II 2020/207. Gem § 10 der COVID-19-LV idF BGBl II 2020/207BGBl II 2020/207waren zunächst Veranstaltungen mit mehr als zehn Personen untersagt.*

Anzumerken ist bereits an dieser Stelle, dass man es durch geschickte Organisation einer Betriebsratswahl (Abhaltung an mehreren Tagen oder Orten) im Regelfall sehr wohl bewerkstelligen konnte bzw kann, nicht in Berührung mit der COVID-19-LV (und zwar schon in der vor dem 29.5.2020 geltenden Fassung) zu kommen; dies wurde im Provisorialverfahren vor dem LG Graz jedoch nicht vorgebracht.* Das LG Graz geht von einer Zusammenkunft von mehr als 100 Personen pro Wahllokal pro Stunde aus,* macht aber nicht deutlich, warum schon daraus die Unzulässigkeit der Abhaltung der Wahl folgen sollte (siehe dazu unten). Als „Veranstaltungen“ (in der genannten Gesetzesfassung) galten insb geplante Zusammenkünfte und Unternehmungen zur Unterhaltung, Belustigung, körperlichen und geistigen Ertüchtigung und Erbauung. Laut der demonstrativen Aufzählung in der VO waren vor allem kulturelle Veranstaltungen, Sportveranstaltungen, Hochzeiten, Filmvorführungen, Ausstellungen, Kongresse, Angebote zur Förderung von Pflege und Erziehung in Familien, Hilfen zur Bewältigung familiärer Probleme unter den Begriff „Veranstaltung“ zu subsumieren. Grundsätzlich ergab sich uE bei Auslegung dieser demonstrativen Aufzählung nicht eindeutig, dass es sich bei Betriebsratswahlen um „Veranstaltungen“ gem § 10 COVID-19-LV idF BGBl II 2020/207BGBl II 2020/207handelte. Aufgrund der in § 10 Abs 5 Z 3 COVID-19-LV normierten Ausnahme von „Zusammenkünften zu beruflichen Zwecken, wenn diese zur Aufrechterhaltung der beruflichen Tätigkeit erforderlich sind“, musste man jedoch annehmen, dass auch Betriebsratswahlen unter den Veranstaltungsbegriff gem § 10 Abs 2 COVID-19-LV idF BGBl II 2020/207BGBl II 2020/207zu subsumieren waren. Denn diese sind auch „Zusammenkünfte für berufliche Zwecke“. Mit der Änderung vom 13.5. wurde in der COVID-19-LV das Wort „unbedingt“ vor dem Wort „erforderlich“ gestrichen. Musste nach der vor dem 15.5.2020 geltenden Rechtslage die Zusammenkunft für die Aufrechterhaltung der beruflichen Tätigkeit „unbedingt erforderlich“ sein, reichte es nun, wenn diese bloß „erforderlich“ ist. Spätestens seit dieser Änderung der COVID-19-LV idF BGBl II 2020/207BGBl II 2020/207 ist uE anzunehmen, dass die Wahl eines BR, die als „gesetzliche Obliegenheit“ der Belegschaft zur Aufrechterhaltung der betrieblichen Tätigkeit erforderlich ist, möglich war. Mit der Novellierung dieser VO* vom 27.5.2020, in Kraft seit 29.5.2020, stellte der Gesetzgeber klar, dass bei der Abhaltung von Betriebsratswahlen keine Beschränkungen nach der COVID-19-LV bestehen (dazu Näheres unten). Freilich würde das die – auch erstmalige – Wahl eines BR noch immer verhindern, wenn man der – indes nicht überzeugenden (siehe oben) – Rechtsansicht des LG Graz folgt, dass auch der Wahlvorstand, der erstmals eine Betriebsratswahl organisiert, von der in § 170 Abs 1 ArbVG normierten „Verlängerungsautomatik“ erfasst ist. Diesem Interpretationsverständnis wurde durch die am 29.5.2020 in Kraft getretene, erneute Novellierung der COVID-19-LV aber endgültig der Boden entzogen, wie im Folgenden gezeigt wird.

2.3.
Abhaltung von Betriebsversammlungen während der COVID-19-Situation

Die seit 29.5.2020 geltende Novellierung der COVID-19-LV sieht in § 10 Abs 2 vor, dass Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen untersagt sind.* Unverändert dabei bleibt der Veranstaltungsbegriff.* Eine signifikante Änderung enthält § 10 Abs 11 COVID-19-LV. Neben der unveränderten Ausnahme betreffend Zusammenkünfte zu beruflichen Zwecken stellt der Verordnungsgeber „Zusammenkünfte gemäß Arbeitsverfassungsgesetz nun explizit von allen Beschränkungen – zB in punkto Abstand und Maskentragepflicht – frei.* Somit umfasst diese Ausnahmeregelung ua Betriebsversammlungen und Betriebsratswahlen; diese können daher – ohne gesetzliche Beschränkungen aufgrund der COVID-19-Situation – durchgeführt werden. Auch wenn der Verordnungsgeber keine Beschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19 bei der Durchführung von Betriebsratswahlen vorsieht, können – um gerade in großen Unternehmen eine Menschenansammlung zu vermeiden – die gesetzlichen Bestimmungen des ArbVG dafür genutzt werden, um die Betriebsversammlung zur Wahl des Wahlvorstandes in Teilgruppen abzuhalten. So kennt § 44 ArbVG die Möglichkeit der Einberufung der Betriebs-(Gruppen-, Betriebshaupt-)versammlung in Teilversammlungen, wenn nach Zahl der AN, Arbeitsweise oder Art des Betriebes die Abhaltung dieser oder die Teilnahme der AN an diesen nicht oder nur schwer möglich ist. Diese gesetzliche Regelung stellt auf einen Beschluss des BR bzw des Betriebsausschusses über die Abhaltung von Teilversammlungen ab, den es jedoch im Fall einer erstmaligen Betriebsratswahl (noch) nicht gibt. Dies ist als analogiefähige Lücke * zu qualifizieren, sodass bei Vorliegen der Voraussetzungen uE auch die Einberufung der Betriebsversammlung zur Wahl des Wahlvorstandes durch subsidiär Einberufungsberechtigte * in Form von Teilversammlungen möglich ist. Die Entscheidung über die Abhaltung von Teilversammlungen obliegt grundsätzlich dem BR (Betriebsausschuss); der AG hat diesbezüglich von Gesetzes wegen keine Einflussmöglichkeit. Daher ist es – uE auch bei der erstmaligen Betriebsratswahl – möglich, die Betriebsversammlung dahingehend zu organisieren, dass diese in mehreren Teilversammlungen abgehalten und damit auch das Ansteckungsrisiko weiter minimiert wird.*

Weiters stellt sich die Frage, ob eine Betriebsversammlung auch audiovisuell abgehalten werden könnte. Während es in Deutschland für Sitzungen des BR/Gesamt-BR/Konzern-BR etc und für Betriebsversammlungen ganz neu, nämlich durch Gesetzesänderung vom 20.5.2020 (rückwirkend in Kraft getreten am 1.3.2020), eine explizite Regelung* betreffend Video- und Telefonkonferenz bzw die audiovisuelle Durchführung gibt,* hinkt Österreich diesbezüglich hinterher und kennt nichts Vergleichbares. Zwar sieht die BRWO kein explizites Verbot einer audiovisuell durchgeführten Betriebsversammlung vor, jedoch müsste hier uE – insb aufgrund der im Gesetz explizit genannten Präsenzquoren – zunächst eine Gesetzesänderung vorgenommen werden, um die audiovisuelle Durchführung einer Betriebsversammlung zu ermöglichen.

2.4.
Die Organisation einer Betriebsratswahl in der COVID-19-Situation

Auch wenn mit 29.5.2020 alle davor – allenfalls – gegoltenen COVID-19-Beschränkungen für Betriebsratswahlen aufgehoben wurden, ist der Bedarf nach gewissen gesundheitlichen Vorkehrungen doch nach wie vor gegeben. Die BRWO sieht auch diverse Möglichkeiten vor, den Ablauf der Betriebsratswahl so zu gestalten, dass große Ansammlungen von Menschen vermieden werden können. Demnach kann die Stimmabgabe zur Wahl des BR an mehreren Orten gleichzeitig erfolgen. In diesem Szenario ist die Bestellung von Wahlkommissionen notwendig, welche die Wahl an jenen Orten leiten, an denen der Wahlvorstand nicht anwesend ist. Die Wahlkommissionen bestehen aus jeweils drei Mitgliedern.* Zudem sind Wählergruppen, die einen Wahlvorschlag eingebracht haben, der auch zugelassen wurde, berechtigt, für jeden Wahlort höchstens zwei Zeugen namhaft zu machen.* Daher kann die Anzahl der bei einer Betriebsratswahl notwendigerweise gleichzeitig (im Wahllokal) anwesenden Personen – abhängig von Betriebsgröße, Anzahl der Wahlvorschläge – stark variieren.* Die Betriebsratswahl kann auch an mehreren Tagen stattfinden, um eine weitere Verteilung der wählenden AN zu erwirken.* All diese Erwägungen hat das LG Graz nicht angestellt, sondern den – unrichtigen – Eindruck erweckt, es müsse bei einer Betriebsratswahl (bei der der Wahlvorstand schon im Amt war) zwangsläufig zu großen Menschenansammlungen kommen.

Die BRWO beinhaltet außerdem die Möglichkeit der Abstimmung mittels Wahlkarte; diese Abstimmungsalternative ist jedoch nur bei begründeter Abwesenheit * möglich. Es gibt da-her kein generelles Recht auf Briefwahl, jedoch schafft die Ausstellung von Wahlkarten zumindest für AN, die ein hohes Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs nach Ansteckung mit COVID-19 haben, die Alternative, mittels Wahlkarte zu wählen.

2.5.
Zusammenfassende Bemerkung zum Beschluss des LG Graz

Das LG Graz hat in einer sehr unreflektierten Entscheidung zu Unrecht dem Wahlvorstand die (erstmalige) Durchführung einer Betriebsratswahl untersagt. Weder bietet die – legistisch missglückte – Bestimmung des § 170 Abs 1 ArbVG dafür eine Grundlage, noch ist es – und zwar auch auf der Grundlage der im Entscheidungszeitpunkt maßgebenden (mittlerweile weiter liberalisierten) Fassung der COVID-19-LV – richtig, dass eine Betriebsratswahl (und umso weniger eine, bei der der Wahlvorstand schon im Amt ist) nur unter Bildung größerer Menschenansammlungen durchgeführt werden kann.

Schließlich lässt die Entscheidung des LG auch jede Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, woraus sich ein subjektives Recht des klagenden und den Sicherungsantrag stellenden AG auf Unterlassung der Betriebsratswahl ergeben soll. Dass die Wahlanfechtungsbestimmungen der §§ 59 f ArbVG ein solches Recht grundsätzlich nicht ausschließen, wenn eine Betriebsratswahl trotz Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen durchgeführt werden soll,* ist eine Sache. Die für Veranstaltungen/Versammlungen aufgrund der COVID-19-Pandemie geltenden Beschränkungen durch Gesetz und VO sind aber öffentlich-rechtlicher Natur und dienen primär dem Schutz der Allgemeinheit. Daraus ein subjektives Recht des AG auf Unterlassung abzuleiten, ist verwegen und bedürfte überzeugender Begründung. Auf der Grundlage der – nicht richtigen – Rechtsmeinung des LG Graz hätte vielmehr die zu-ständige Verwaltungsbehörde einschreiten und die Wahl untersagen müssen. Dafür fehlte jedoch eine ausreichende Rechtsgrundlage.

3.
§ 170 ArbVG unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit von Versammlungen nach dem ArbVG

In den Materialien zur Erstfassung des § 170 Abs 1 ArbVG begründete der Gesetzgeber die Verlängerung der Tätigkeitsdauer von Organen der betrieblichen Interessenvertretung bis zunächst 30.4. und nach der Novellierung bis 31.10.2020 damit, dass Betriebsratswahlen unter Bedachtnahme auf die aktuelle COVID-19-Krise „nicht möglich“ seien. Durch die Änderung * der COVID-19-LV, die in der aktuellen und seit 29.5.2020 geltenden Fassung explizit eine – sogar von den sonst nach wie vor geltenden Beschränkungen bei der Durchführung von Versammlungen befreite – Regelung für „Zusammenkünfte gemäß Arbeitsverfassungsgesetz normiert, sind – wie erläutert – Betriebsratswahlen sowie die diesen vorangehenden Betriebsversammlungen zur Wahl des Wahlvorstandes (aber auch zB zur Enthebung des BR) uneingeschränkt möglich.

Sofern man den Anwendungsbereich oder zumindest den Regelungszweck von § 10 Abs 11 der COVID-19-LV * (mit Wirkung zum 29.5.2020) nicht von vornherein auf die erstmalige Durchführung von Betriebsratswahlen beschränkt (wofür die VO selbst keinerlei Anhalts-punkte liefert), ist die Sinnhaftigkeit von § 170 Abs 1 ArbVG vor diesem Hintergrund generell in Frage zu stellen. Denn dessen Zweck besteht, wie erwähnt, ja darin, die Funktionsperiode bestehender Betriebsräte zu verlängern, um einerseits die Abhaltung einer Wahl nach Ablauf der Funktionsperiode in der Zeit bis zum 31.10.2020 und andererseits ein Vertretungsvakuum zu vermeiden. Oben wurde bereits gesagt, dass diese Regelung nicht die Enthebung des BR durch die Betriebsversammlung gem § 62 Z 3 ArbVG verhindert. Dasselbe muss für den Rücktritt des BR nach § 62 Z 4 ArbVG gelten. In beiden Fällen endet die Tätigkeitsdauer des BR ungeachtet der durch § 170 Abs 1 ArbVG grundsätzlich verfügten Verlängerung des Mandats.

Durch die Novellierung der COVID-19-LV mit Wirkung vom 29.5.2020 ist zunächst auf Verordnungsebene klargestellt, dass eine (auch erstmalige) Betriebsratswahl und die damit einhergehende Einberufung der Betriebsversammlung zur Wahl des Wahlvorstandes uneingeschränkt zulässig ist. Außerdem entzieht – wie schon erwähnt – diese Novellierung der VO einer Interpretation von § 170 Abs 1 ArbVG, wie sie das LG Graz vertritt, uE vollends den Boden. Es wurde aber bereits gezeigt, dass schon eine an ihrem Sinn und Zweck und den Gesetzesmaterialien orientierte Auslegung der gesetzlichen Norm die Sichtweise des LG Graz bei erstmaligen Betriebsratswahlen nicht trägt.

Bei bestehenden Betriebsräten führt indes kein Weg daran vorbei, dass § 170 Abs 1 ArbVG die Durchführung einer Betriebsratswahl wegen Auslaufens der Mandatsdauer vor dem 31.10.2020 nur ermöglicht, wenn entweder die Betriebsversammlung den BR gem § 62 Z 3 ArbVG enthebt oder der BR gem § 62 Z 4 ArbVG zurücktritt.* Die Sachgerechtheit dieser Regelung kann man in Anbetracht der aufgezeigten Möglichkeiten, Betriebsratswahlen unter Vermeidung zu großer Menschenansammlungen zu organisieren, mittlerweile bezweifeln.

4.
Einseitige Verschärfung von gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen bei der Betriebsratswahl durch den Arbeitgeber

Der Verordnungsgeber sieht seit der mit 29.5.2020 wirksam gewordenen Novellierung der COVID-19-LV nun explizit keinerlei Beschränkungen mehr bei der Durchführung von Betriebsratswahlen bzw bei Betriebsversammlungen vor.* So gibt es weder Abstandsregelungen noch eine Maskenpflicht bei der Abhaltung der Betriebsratswahl. Dies ist bemerkenswert und nicht ganz konsistent, bedenkt man, dass derartige Beschränkungen bei Veranstaltungen anderer Art nach wie vor in Geltung sind, auch wenn sie laufend stufenweise gelockert werden.*

Vor diesem Hintergrund könnten AG ein ausgeprägtes betriebliches Interesse haben, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz auch bei der Durchführung von Betriebsratswahlen vorzuschreiben, die sich zB an den in Geschäften oder bei kulturellen Veranstaltungen geltenden Beschränkungen orientieren. Zu prüfen ist, inwiefern der AG zur Anordnung solcher Maßnahmen berechtigt ist. Dabei handelt es sich um ein durchaus heikles Problem, weil die Fürsorgepflicht des AG, die auch die Bewahrung von AN vor ansteckenden Krankheiten im Betrieb einschließt,* sowie das unleugbare unternehmerische Interesse des AG, größere Ausfälle dringend benötigter Arbeitskräfte hintanzuhalten, möglicherweise mit einem Dogma des Betriebsverfassungsrechts kollidiert, nämlich der unbedingten Pflicht des AG, sich jeder Einflussnahme auf Betriebsratswahlen zu enthalten und absolut neutral zu agieren.*

Der AG hat im Rahmen seiner Fürsorgepflicht Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, um eine Ansteckung zwischen den AN mit COVID-19 so gering wie möglich zu halten.* UE ist bei der Beantwortung der Frage, inwiefern der AG bei der Organisation der Betriebsratswahl – im Hinblick auf Maßnahmen zum Schutz der AN – mitwirken kann, zunächst auf die Örtlichkeiten der Betriebsversammlung bzw der Betriebsratswahl abzustellen. Gem § 72 ArbVG sind dem Wahlvorstand zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben Räumlichkeiten in einem der Größe des Betriebes und den Bedürfnissen des Wahlvorstandes angemessenen Ausmaß vom Betriebsinhaber unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.* Grundsätzlich haben die Räumlichkeiten innerhalb des Betriebes zu liegen. Nur wenn dies nicht möglich ist, können auch Räume außerhalb des Betriebes auf Kosten des AG zur Verfügung gestellt werden.* Wenn der AG betriebliche Räumlichkeiten im eigenen Betrieb zur Verfügung stellt, so kann dieser uE bei der Abhaltung einer Betriebsversammlung eine Maximalanzahl an zusammentreffenden Mitarbeitern pro Raum festlegen. Zudem könnte er aufgrund der ihn treffenden Fürsorgepflicht auch beim Ablauf der Wahl weitere Maßnahmen anordnen, wie das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes, das Benutzen von Desinfektionsmitteln oder die Einhaltung von Abstandregelungen. Als wichtiger Grundsatz hat dabei aber zu gelten, dass der AG einerseits nicht schikanös vorgehen darf und andererseits die angeordneten Beschränkungen nicht über das Maß hinausgehen dürfen, das für AN im Betrieb generell gilt. Wenn also ein AG seinen AN beim Aufenthalt in allgemein nutzbaren Teilen der Betriebsräumlichkeiten (dh in Gängen, Teeküchen, Betriebskantinen etc) nicht das Tragen von Schutzmasken zwingend vorschreibt,* darf er das uE auch bei Betriebsratswahlen nicht tun.* Denn Maßnahmen, die sich nur auf Wahlen beziehen, begründen schnell die Vermutung, auf Benachteiligung der Betriebsratstätigkeit abzuzielen.* Außerdem wären unsachlich strenge Maßnahmen als un-zulässige Einflussnahme auf den Wahlvorgang zu beurteilen. Denn es ist naheliegend, dass stärkere Beschränkungen einen negativen Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben können.

Der AG hat aber keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen, ob die Betriebsversammlung zur Wahl des Wahlvorstandes in Teilversammlungen abgehalten werden soll. Diese Entscheidung obliegt – wie bereits oben ausgeführt – den subsidiär Einberufungsberechtigten. Der AG kann – zulässig – nur insofern mittelbar darauf Einfluss nehmen, als betriebliche Räumlichkeiten aufgrund verordneter Sitzplatzbegrenzung zB nur mehr die Hälfte der bisherigen Kapazität aufweisen und sich dann für Vollversammlungen uU nicht mehr eignen.*

Findet die Betriebsversammlung außerhalb der Arbeitsstätte und daher in Räumlichkeiten, die nur für diese Versammlungen zur Verfügung gestellt wurden, statt, sind die Eingriffs-möglichkeiten des AG begrenzter. Auch in diesem Fall kann der AG uE jedoch auf gewisse Hygienevorschriften hinweisen sowie Schutzmasken und/oder Desinfektionsmittel zur Verfügung stellen. Ob die Fürsorgepflicht das sogar gebietet, ist fraglich. Und ebenso fraglich ist, ob die AN kraft der sie treffenden Treuepflicht von solchen Angeboten Gebrauch zu machen verpflichtet sind. Der Umstand, dass der Verordnungsgeber in § 10 Abs 11 der COVID-19-LV seit 29.5.2020 Betriebsversammlungen selbst von jenen Beschränkungen freigestellt hat, die in fast allen anderen Bereichen noch immer gelten, scheint prima vista gegen so eine Pflicht zu sprechen. Andererseits ist das beträchtliche betriebliche Interesse des AG nicht zu leugnen, die Lahmlegung ganzer Abteilungen aufgrund von Ansteckungen zu verhindern. Die Organisatoren der Betriebsversammlung bzw Betriebsratswahl trifft daher uE schon eine gewisse Verpflichtung zur Ergreifung angemessener und zumutbarer Schutzmaßnahmen zur Minimierung des Ansteckungsrisikos.* AN, die sich daran gar nicht halten und nachweislich unverantwortlich handeln, riskieren im Extremfall sogar den Verlust der Entgeltfortzahlung, wenn ihnen vorwerfbar ist, ihre Erkrankung grob fahrlässig herbeigeführt zu haben.*

5.
Zusammenfassung

Aus dem Sinn und Zweck des § 170 Abs 1 ArbVG ergibt sich, dass dieser anders als vom LG Graz mit Beschluss vom 18.5.2020* entschieden, keine erstmaligen Betriebsratswahlen verhindert. Vielmehr ist § 170 Abs 1 ArbVG dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass sich der Anwendungsbereich nicht auf den Wahlvorstand bezieht, der erstmals eine Be-triebsratswahl organisiert. Auch eine Auslegung von § 170 Abs 1 ArbVG in der Weise, dass dieser sogar § 62 Z 3 und Z 4 ArbVG derogiert, dh einen bestehenden BR auch gegen den Willen der (qualifizierten) Mehrheit der Belegschaft oder des BR selbst „einzementiert“, ist nicht vertretbar.

Zudem ist die Sinnhaftigkeit von § 170 Abs 1 ArbVG vor diesem Hintergrund generell in Frage zu stellen. In den Materialien zur Erstfassung des § 170 Abs 1 ArbVG begründete der Gesetzgeber die Verlängerung der Tätigkeitsdauer von Organen der betrieblichen Interessenvertretung bis zunächst 30.4. und nach der Novellierung bis 31.10.2020 damit, dass Be-triebsratswahlen unter Bedachtnahme auf die aktuelle COVID-19-Krise „nicht möglich“ seien. Durch die erneute Novellierung der COVID-19-LV mit Wirkung vom 29.5.2020 sind nun jedoch „Zusammenkünfte nach dem ArbVG“ sogar ohne jegliche Schutzmaßnahmen (!) wieder möglich. Dem Zweck von § 170 Abs 1 ArbVG wurde dadurch uE ohnehin der Boden entzogen.

Betriebsratswahlen lassen sich schon de lege lata so organisieren, dass beim eigentlichen Wahlvorgang – abhängig von der Anzahl der wahlwerbenden Gruppen (Wahlzeugen) – nur wenige Personen gleichzeitig im Wahllokal anwesend sein müssen. Und Betriebsversammlungen können in Teilversammlungen abgehalten werden, wobei auch die Video-Übertragung in mehrere Räume möglich ist.

Da nach der COVID-19-LV für Betriebsversammlungen bzw Betriebsratswahlen nicht ein-mal mehr Abstandsregelungen und Maskenpflicht gelten, hat der AG ein anerkennenswertes betriebliches Interesse, gewisse angemessene Schutzmaßnahmen anzuordnen. Er muss dabei aber das Verbot der Wahlbeeinflussung und der Benachteiligung der Betriebsratstätigkeit beachten und darf grundsätzlich nicht über den sonst im Betrieb geltenden Standard hinausgehen.

Da auch ein zweiter Lockdown nicht ausgeschlossen werden kann und die Arbeit im Homeoffice in der künftigen Arbeitswelt mit Sicherheit stärkere Verbreitung finden wird, wäre es uE wichtig, dem deutschen Beispiel zu folgen und das ArbVG sowie die BRWO dahingehend zu novellieren, sodass audiovisuelle Betriebsversammlungen und Betriebsratssitzungen möglich werden.