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Kein Export von Rehabilitationsgeld bei langjährigem Wohnsitz und überwiegender Berufstätigkeit in anderem Mitgliedstaat

PIA ANDREAZHANG
Art 3, 11 VO 883/2004; § 143a ASVG
EuGH 5.3.2020, C-135/19, Pensionsversicherungsanstalt

Das Rehabilitationsgeld ist eine Leistung bei Krankheit iSd VO 833/2004. Es besteht keine Exportpflicht für Österreich, wenn die Mehrheit der Versicherungsmonate in dem Wohnsitz- Mitgliedstaat gesammelt wurde und seit vielen Jahren keine Verbindung mehr zum österreichischen System der sozialen Sicherheit besteht.

SACHVERHALT

Die 1965 geborene Kl lebte und arbeitete bis zum Jahr 1990 in Österreich. Sie sammelte dabei insgesamt 59 Versicherungsmonate, wobei davon 32 Monate als „Ersatzzeiten“ qualifiziert wurden. 1990 übersiedelte sie nach Deutschland und erwarb dort 235 Versicherungsmonate. Zuletzt war sie im Jahr 2013 als Bürokauffrau beschäftigt.

Die Kl ist nach wie vor österreichische Staatsbürgerin, hat aber seit 1990 keinerlei Leistungen aus Österreich mehr erhalten. Sie hat Kontakt zu ihren in Österreich lebenden Eltern sowie zwei Geschwistern.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragte bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) in Österreich die Gewährung einer Invaliditätspension. Die PVA stellte das Vorliegen vorübergehender Invalidität fest, bestritt aber die Verpflichtung, das Rehabilitationsgeld nach Deutschland auszuzahlen. Sie begründete dies insb mit der geringen Anzahl an erworbenen Versicherungsmonaten in Österreich sowie der fehlenden Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit.

Die Kl erhob dagegen Klage. Das Erstgericht stellte fest, dass Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV im gesetzlichen Ausmaß vorliege, da vorübergehende Invalidität vorliege.

Dagegen erhob wiederum die PVA Berufung, der vom Gericht zweiter Instanz nicht Folge gegeben wurde. Gegen diese E erhob die PVA die Revision an den OGH.

Trotz der bisherigen stRsp des OGH, wonach das Rehabilitationsgeld aus primärrechtlichen Überlegungen 260 zu exportieren ist (vgl OGH 20.12.2016, 10 ObS 133/15d, RS0131207), setzte der OGH das Verfahren aus und legte dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung (https://www.drda.at/a/382_INFAS_32/95-Vorabentscheidungsersuchen-an-den-EuGH-zur-Exportpflicht-von-Rehabilitationsgeldhttps://www.drda.at/a/382_INFAS_32/95-Vorabentscheidungsersuchen-an-den-EuGH-zur-Exportpflicht-von-Rehabilitationsgeld) vor.

Die erste Frage betrifft die Einordnung des Rehabilitationsgeldes nach Art 3 der VO (EG) 883/2004, also ob es sich dabei um eine Leistung bei Krankheit, bei Invalidität oder bei Arbeitslosigkeit handle. Mit der zweiten Frage wollte der OGH wissen, ob die Verordnung im Lichte des Primärrechts dahingehend auszulegen sei, dass der ehemalige Wohnsitz- und Beschäftigungsstaat (also im vorliegenden Fall Österreich) verpflichtet ist, eine Leistung wie das Rehabilitationsgeld zu exportieren, wenn der Großteil der Versicherungszeiten in einem anderen Staat erworben wurde und seit der Wohnsitzverlegung aus dem ursprünglichen Staat keine Leistungen aus der KV und PV bezogen wurden.

Der EuGH stellt in seiner E fest, dass das Rehabilitationsgeld einerseits als Leistung bei Krankheit zu qualifizieren ist und andererseits in der vorliegenden Konstellation keine Exportpflicht gegeben ist.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 29 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld eine Leistung bei Krankheit, eine Leistung bei Invalidität oder eine Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst a, c bzw. h der Verordnung Nr. 883/2004 darstellt. […] 32 Eine Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 deckt das Risiko einer Erkrankung ab, die dazu führt, dass der Betroffene seine Tätigkeiten vorübergehend aussetzt (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C‑503/09, EU:C:2011:500, Rn. 37).
33 Hingegen soll eine Leistung bei Invalidität im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung grundsätzlich das Risiko eines bestimmten Grades der Erwerbsunfähigkeit abdecken, wenn wahrscheinlich ist, dass die Erwerbsunfähigkeit bleibend oder dauerhaft sein wird (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C‑503/09, EU:C:2011:500, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Eine Leistung bei Arbeitslosigkeit deckt das Risiko des Einkommensverlusts ab, den der Arbeitnehmer wegen des Verlusts seiner Beschäftigung erleidet, während er noch arbeitsfähig ist. […]
36 Zunächst geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das Rehabilitationsgeld unabhängig davon geschuldet wird, ob der Betroffene eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, so dass es nicht als Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung eingestuft werden kann.
37 Zur Einstufung des Rehabilitationsgeldes als Leistung bei Invalidität oder als Leistung bei Krankheit ist darauf hinzuweisen, dass es nach § 255b ASVG bei einer voraussichtlichen Invalidität von mindestens sechs Monaten gezahlt wird, wenn der Betroffene die Voraussetzungen für den Bezug einer Altersrente nicht erfüllt. […]
39 Daraus folgt, dass eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld das Risiko vorübergehender Erwerbsunfähigkeit abdecken soll und daher als Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung anzusehen ist.
40 Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, dass das Rehabilitationsgeld nach § 143a Abs. 1 und 2 und § 143b ASVG vom Krankenversicherungsträger gezahlt wird und dass sich seine Höhe nach dem Betrag des Krankengeldes richtet.
41 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld eine Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 darstellt. […]
42 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass sie einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgeldes versagt wird. […]
44 Folglich dürfen die Voraussetzungen dafür, dass ein Recht auf Beitritt zu einem System der sozialen Sicherheit besteht, nicht zum Ausschluss von Personen vom Anwendungsbereich der fraglichen Rechtsvorschriften führen, für die diese Rechtsvorschriften nach der Verordnung Nr. 883/2004 gelten (Urteil vom 8. Mai 2019, Inspecteur van de Belastingdienst, C‑631/17, EU:C:2019:381, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen, wobei sich nach Titel II der Verordnung bestimmt, welche Rechtsvorschriften dies sind. […]
49 Eine Person wie die Revisionsgegnerin des Ausgangsverfahrens fällt a priori weder unter die Sonderregelungen der Art. 12 bis 16 der Verordnung 261 Nr. 883/2004 […] noch unter die von Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d der Verordnung erfassten Fälle […].
51 Nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 unterliegt eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende den nationalen Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person, d. h. im vorliegenden Fall den deutschen Rechtsvorschriften. […]
53 Somit kann der zuständigen Stelle des Herkunftsmitgliedstaats der Revisionsgegnerin des Ausgangsverfahrens, der Republik Österreich, in Anbetracht der in den Rn. 43, 44 und 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs im vorliegenden Fall kein Vorwurf gemacht werden, weil sie ihr das Rehabilitationsgeld versagt hat. Diese Versagung führte nämlich nicht dazu, dass eine Person vom Anwendungsbereich der fraglichen Rechtsvorschriften ausgeschlossen wird, für die diese Rechtsvorschriften nach der Verordnung Nr. 883/2004 gelten, und ihr somit der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften für sie gelten.
54 Nach alledem ist die Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgeldes versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat. […]“

ERLÄUTERUNG

Der EuGH hat sich in der vorliegenden Entscheidung mit der Einordnung des Rehabilitationsgeldes in das System der VO 883/2004 sowie der Frage der Exportierbarkeit desselben beschäftigt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes an der Schnittstelle zwischen Krankheit und Invalidität handelt es sich dabei um eine mit Spannung erwartete Entscheidung.

Die Antwort des EuGH auf die erste Frage ist nicht allzu überraschend, nachdem sowohl der OGH (vgl 20.12.2016, 10 ObS 133/15d; 21.2.2017, 10 ObS 48/16f; 21.2.2017, 10 ObS 75/16a) als auch ein Großteil der österreichischen Lehre das Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit iSd VO 883/2004 einstuft (vgl ua Felten, Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung zum SV-Leistungsrecht, ZAS 2016/45; Spiegel in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm Vor § 251a ASVG [Stand 1.3.2018, rdb.at]).

Das Rehabilitationsgeld wird ebenso wie das Krankengeld berechnet, es wird von der KV ausbezahlt und diese leistet auch das begleitende Case Management. Es deckt darüber hinaus eine bloß vorübergehende Gefahr ab („vorübergehende Invalidität/Berufsunfähigkeit für zumindest sechs Monate“). Gegen die Einordnung als Leistung bei Krankheit würde sprechen, dass das Rehabilitationsgeld dennoch unbefristet gewährt wird, ein Antrag auf eine Pension aus Gründen der geminderten Arbeitsfähigkeit eingebracht werden und eine Mindestanzahl an Versicherungsmonaten vorliegen muss. Nach einer Abwägung erscheint die Einordnung als Leistung bei Krankheit dennoch passender, wobei immer auch die Nähe zur Leistung aufgrund von Invalidität beachtet werden muss.

Die Entscheidung, dass das Rehabilitationsgeld im vorliegenden Fall nicht zu exportieren ist, ergibt sich im Wesentlichen aus den Umständen des Einzelfalls. Eine darüber hinausgehende Bedeutung, also insb, dass das Rehabilitationsgeld in keinem Fall zu exportieren wäre, kann daraus aber nicht abgeleitet werden. Der EuGH verweist in seiner Begründung darauf, dass die Kl schon seit vielen Jahren keinen Wohnsitz und auch keine Verbindung mehr zum System der sozialen Sicherheit in Österreich hat und den weitaus überwiegenden Anteil der Versicherungsmonate in Deutschland gesammelt hat. Dies steht im Einklang mit der Rsp des EuGH in den Rs Stewart (EuGH 21.7.2011, C-503/09) und Rs Hudzinski (EuGH 12.6.2012, C-611/10), in welchen er für die primärrechtliche Begründung des Exports von Leistungen eine hinreichende Nahebeziehung fordert.

Es gilt aber weiterhin, dass die unionsrechtliche Freizügigkeit nicht beschränkt werden darf. Der Anspruch auf Rehabilitationsgeld setzt eine Mindestanzahl an Versicherungsmonaten in Österreich voraus und der EuGH hat schon mehrfach ausgesprochen, dass durch Versicherungsbeiträge erworbene Vergünstigungen durch die Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte nicht verloren gehen dürfen.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Rsp zu einer strengeren Auslegung durch die österreichischen Gerichte führt. Es ist mA weiterhin davon auszugehen, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob ein primärrechtlich fundierter Anspruch auf Export des Rehabilitationsgeldes in den Wohnsitz-Mitgliedstaat besteht. 262