Die Koalitionsfreiheit im österreichischen Recht

FRANZMARHOLD (WIEN)
Der Beitrag untersucht die Auswirkungen der jüngeren Rsp des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) auf das Streikrecht in Österreich. Wesentliche Konsequenz ist die Aufgabe des Konzepts bloßer Streikfreiheit. Die Koalitionsfreiheit hat aber auch Auswirkungen im Verhältnis zwischen den gesetzlichen und freiwilligen Interessenvertretungen, so zB bei der Zusammensetzung des Bundeseinigungsamtes und bei Eingriffen des (Verfassungs-)Gesetzgebers in kollektivvertragliche Regelungen von Koalitionen.
1.
Rechtsgrundlagen

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Koalitionsfreiheit in Österreich und deren Bedeutung, insb in der gerichtlichen Praxis, ist überschaubar. Grundlegende Fragen der Koalitionsfreiheit stellten sich in der jüngeren Judikatur bislang – soweit ersichtlich – gar nicht. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Koalitionsfreiheit flammte immer dann auf, wenn gerade keine große Koalition die Regierung bildete und deswegen die Frage nach den den Sozialpartnern vorbehaltenen Regelungsbereichen, die durch die Koalitionsfreiheit geschützt sind, eine gewisse Aktualität hatte.

Der Normenbestand steht zu diesem Befund in einem gewissen Missverhältnis. Zahlreiche insb internationale Rechtsquellen garantieren den Koalitionen ihre Freiheit und verpflichten – auch völkerrechtlich – die Republik, diese Koalitionsfreiheit zu 413achten. So hat sich Österreich bereits im Staatsvertrag von Saint-Germain* verpflichtet, „das Recht des Zusammenschlusses zu allen nicht dem Gesetz zuwiderlaufenden Zwecken sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber“ zu garantieren. Aufgrund zahlreicher Übereinkommen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ist Österreich verpflichtet, die Koalitionsfreiheit zu respektieren. Zu erwähnen sind das Übereinkommen Nr 11 über das Vereins- und Koalitionsrecht der Landarbeiter*, Nr 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, Nr 89 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechts zu Kollektivverhandlungen und schließlich Nr 135 über den Schutz und Erleichterungen für AN-Vertreter im Betrieb.*

Nicht nur, aber auch völkerrechtlich, ist die Koalitionsfreiheit durch Art 11 EMRK gewährleistet. Die EMRK steht bekannterweise in Österreich im Verfassungsrang, hinsichtlich des Rechtsschutzes ist aber darauf hinzuweisen, dass nach der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges, insb nach Anrufung des VfGH, der Rechtszug zur Menschenrechtskommission und zum Menschenrechtsgerichtshof offen steht. Als weitere internationale Garantien der Koalitionsfreiheit sind Art 5 der Europäischen Sozialcharta und Art 8 Abs 1 des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu nennen.

Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene sind zunächst Pkt 11 ff der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der AN sowie Art 5 und 6 der revidierten Europäischen Sozialcharta zu nennen.

Über den engeren Bereich der Koalitionsfreiheit, verstanden als das Recht des freien Zusammenschlusses von AG- und AN-Organisationen, hinaus geht Art 28 der Grundrechtecharta (GRC). Er gibt allen Organisationen der AN und AG das Recht auf Kollektivverhandlungen. Von Art 28 GRC sind daher auch die gesetzlichen Interessenvertretungen der AN und AG erfasst, spricht doch dieser Artikel umfassend von den jeweiligen Organisationen der AG und AN.* Die Koalitionsfreiheit ieS, als das Recht, sich frei und friedlich zusammenzuschließen, schützt Art 12 GRC im Zusammenhang mit der Vereinigungsfreiheit.

Innerstaatliche Garantien der Koalitionsfreiheit sind weniger zahlreich. Zu erwähnen sind der innerstaatlich im Verfassungsrang stehende Art 11 EMRK, der in der Folge den Schwerpunkt meiner Ausführungen bilden wird. Verfassungsrechtlich wird das Koalitionswesen in Art 18 Abs 5 B-VG angesprochen, der es dem Bundespräsidenten untersagt, auf dem Gebiet des Koalitionswesens Notverordnungen zu erlassen.* Auf einfachgesetzlicher Ebene wird die Koalitionsfreiheit offenbar in Umsetzung des internationalen Übereinkommens der internationalen Arbeitsorganisation Nr 11 – im § 235 Landarbeitsgesetz – angesprochen.* Danach ist jede Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit verboten. Die zentrale Rechtsquelle des kollektiven Arbeitsrechts in Österreich, das Arbeitsverfassungsgesetz, spricht zwar in vielfacher Hinsicht Rechte von freiwilligen Berufsvereinigungen an – insb im Zusammenhang mit der Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit und den Rechten der Gewerkschaften im Betrieb –, die Ausdrücke Koalition oder Koalitionsfreiheit sind dem ArbVG aber terminologisch fremd. Dem gegenüber deutet zwar das Koalitionsgesetz von 1870 eine umfassende Regelung des Koalitionswesens an, beschränkt sich aber auf die Normierung der Unverbindlichkeit von Arbeitskampfabreden und stellt Streik und Aussperrungsabreden durch Mittel der Einschüchterung oder der Gewalt unter Strafdrohung. Das Antiterrorgesetz aus 1930 untersagt Organisationszwang generell und regelt, unter welchen Bedingungen der AG Beiträge für kollektivvertragsfähige Berufsvereinigungen einheben darf. Zu beiden zuletzt genannten Gesetzen gab es eine Diskussion darüber, ob ihnen derogiert worden sei. Spätes tens durch das Bundesrechtsbereinigungsgesetz von 1999 ist diese Diskussion jedoch obsolet, da für beide Gesetze die Weitergeltung ausdrücklich angeordnet wurde.*

2.
Inhalt der Koalitionsfreiheit
2.1.
Von der Streikfreiheit zum Streikrecht

Zentrale Rechtsquelle für den Schutz der Koalitionsfreiheit in Österreich ist sohin Art 11 EMRK. Er garantiert allen Menschen das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, einschließlich des Rechts, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten. Die Reichweite dieser Garantie unterlag einem erheblichen Rechtsprechungswandel. In seinem ersten Erk zu Art 11 EMRK* bezeichnete der VfGH Art 11 EMRK wegen des Beschränkungskataloges seines Abs 2 nicht als unmittelbar vollziehbar. Er galt also als non self-executing.* Das überrascht schon deswegen, weil der Katalog des Art 11 Abs 2 EMRK mit seinen Ausnahmen zu Gunsten der äußeren und der inneren Sicherheit, der Zulässigkeit von Einschränkungen betreffend Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung wesentlich enger gezogen ist als der undeterminierte Gesetzesvorbehalt 414des Art 12 Staatsgrundgesetz.* Dennoch kam der VfGH zum Ergebnis, Art 11 EMRK sei nicht unmittelbar anwendbar. Dies konnte spätestens seit den Entscheidungen des EGMR in den Rs Schmidt und Dahlström gegen das schwedische Königreich* nicht mehr aufrechterhalten werden. Darin brachte der EGMR klar zum Ausdruck, dass Art 11 EMRK unmittelbar anwendbare Garantien beinhalte. In eben dieser E überließ es der EGMR aber den Konventionsstaaten, das Grundrecht konkret auszugestalten. Im Einzelnen verwies der EMGR darauf, dass Art 11 EMRK die Konventionsstaaten lediglich dazu verpflichte, die Interessenwahrnehmung durch Gewerkschaften zu sichern. Dazu sei nicht notwendigerweise die Anerkennung eines Streikrechts erforderlich, obwohl dieses ein bedeutsames Mittel der Interessenvertretung sei.* Die Garantie der Interessenwahrnehmung durch Gewerkschaften könne aber auch durch ein wirksames System kollektiver Verhandlungen erreicht werden. Damit folgerte aus Art 11 EMRK keine Anerkennung eines subjektiven Rechts auf Streik.*

Dies sollte sich durch eine Reihe von Entscheidungen, die alle die Türkei betrafen, ändern. In der Rs Karacay* vom 27.6.2007 bezog sich der EGMR noch nicht ausdrücklich auf ein Streikrecht. Der Gerichtshof hielt die Abmahnung eines Beamten wegen Streikteilnahme für einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit. Damit war aber immerhin die Streikteilnahme gegenüber Disziplinarmaßnahmen des AG geschützt. In der darauffolgenden Rs Demir und Baykara* vom 12.11.2008 nahm der EGMR zwar nicht ausdrücklich zum Streikrecht Stellung, bereitete aber methodisch den Weg zur Anerkennung des Streikrechts. Dabei ist von Bedeutung, dass die Rs Demir und Baykara von der Großen Kammer des Gerichtshofes entschieden wurde – und zwar einstimmig. Bemerkenswert ist die vom Gerichtshof angewendete Methode. Der Gerichtshof interpretierte Art 11 EMRK sowohl im Lichte des Art 28 GRC als auch unter der Einbeziehung anderer völkerrechtlicher Rechtsquellen. Der Umstand, dass die Türkei nicht Mitgliedstaat der Union sei bzw andere völkerrechtliche Rechtsquellen, die die Koalitionsfreiheit regeln, nicht ratifiziert habe, spiele dabei keine Rolle. Maßgeblich für die Verpflichtungen der Türkei sei Art 11 EMRK, der eben im Lichte der europäischen Staatenpraxis und den damit verbundenen Wertvorstellungen zu interpretieren sei. Damit war methodisch der Weg zum Streikrecht durch die Große Kammer vorgezeichnet und so machte der Gerichtshof schließlich in der Rs Enerji Yapi-Jol Sen* mit der Anerkennung des Streikrechtes ernst.* Es ist daher nicht überzeugend, wenn gegen die Anerkennung eines Streikrechtes eingewendet wird, dass das Urteil in der Rs Enerji Yapi-Jol Sen nicht in der Großen Kammer gefällt wurde. Methodisch wurde dieses Urteil durch die E der Großen Kammer in der Rs Demir und Baykara vorgezeichnet.* In der Rs Enerji Yapi-Jol Sen bezieht sich der Gerichtshof auf das ILO-Übereinkommen Nr 87 und die dort geschützte Koalitionsfreiheit.* Das Streikrecht folgere unmittelbar und untrennbar aus der Koalitionsfreiheit. Mit der E in der Rs Kaya und Seyhan* setzte der Gerichtshof seine Rsp fort. Unter Hinweis auf seine Vorjudikatur erblickte der Gerichtshof auch in diesem Fall in der Androhung einer Disziplinarmaßnahme für den Fall einer Streikteilnahme die Verletzung von Art 11 EMRK. Es ist offensichtlich, dass die Anerkennung eines Streikrechtes aus Art 11 EMRK die bis dahin herrschende österreichische Arbeitskampfdoktrin verändern musste.

War es bislang hL, die individualrechtlichen Folgen einer Arbeitskampfteilnahme getrennt von der Kollektivaktion zu sehen und juristisch zu bewerten, kann dies nach der neueren Rsp des EGMR zum Streikrecht wohl nicht mehr aufrechterhalten werden.* Die neuere österreichische Literatur sieht daher durch eine rechtmäßige Streikteilnahme die aus dem Arbeitsvertrag entspringende Arbeitspflicht nicht mehr als verletzt an.* Ich verweise diesbezüglich auf die Arbeiten von Krejci,*Kohlbacher,*Wedl,*Felten,*Mosler,*Grillberger,*Löschnigg* sowie Burger* und Risak.* Auch die grundrechtliche Literatur folgt mittlerweile diesem Ansatz.* Einhellig ist die neuere österreichische Lehre aber keineswegs.* Für untauglich halte ich freilich das Argument, dass die 415Entscheidungen des EGMR vor dem Hintergrund zu sehen seien, dass die AN- und Gewerkschaftsrechte in der Türkei weit unter den europäischen und ILO-Standards liegen.* Diese Auffassung kommt nicht umhin, dem EGMR zu unterstellen, Grundrechte je nach Betroffenheit unterschiedlicher Konventionsstaaten unterschiedlich auszulegen.* Das wäre nun tatsächlich das Ende der universellen Geltung der Menschenrechte. Vor solchen Argumentationsmustern sollte man sich daher hüten.

2.2.
Nationaler Gestaltungsspielraum

Während also mit der Anerkennung eines Streikrechtes als Inhalt der Koalitionsfreiheit eine sehr konkrete grundrechtliche Garantie anzuerkennen ist, bindet andererseits Art 11 EMRK den nationalen Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen nicht bis ins letzte Detail. Das Verhältnis zwischen der Ausgestaltung des kollektiven Arbeitsrechts im Österreichischen ArbVG zu Art 11 Abs 2 EMRK ist daher weitgehend friktionsfrei. Auf ein nicht unerhebliches Kollisionsproblem werde ich später zurückkommen. Insofern ist Mosler zuzustimmen, dass sich die Stärkung der Kollektivvertragsautonomie durch Art 11 EMRK und Art 28 GRC nicht unmittelbar auf die österreichische Rechtslage auswirkt.* Die aus Art 11 EMRK abgeleiteten Garantien zugunsten von Koalitionen sind in Österreich weitgehend gewährleistet.

Das ArbVG schützt Gewerkschaftsmitglieder und Gewerkschaftsfunktionäre weitgehend vor negativen Folgen, die sich für ihr Arbeitsverhältnis aus der Gewerkschaftstätigkeit ergeben könnten. Gleiches gilt für die negative Koalitionsfreiheit: Auch aus dem Umstand, keiner Gewerkschaft anzugehören, darf einem AN aus dem Arbeitsverhältnis kein Nachteil erwachsen.* Ebenfalls ausreichend gewährleistet das ArbVG den Zutritt der Gewerkschaften zum Betrieb und sichert die Zusammenarbeit zwischen den Betriebsräten und den freiwilligen überbetrieblichen Interessenvertretungen. Ebenfalls unbedenklich erscheint mir das Nebeneinander von Interessenvertretungen mit Pflichtmitgliedschaft und auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhender Koalitionen.* Während aus Art 9 Abs 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gefolgert wird, dass der Staat nicht durch beliebige Errichtung öffentlichrechtlicher Körperschaften das freie Verbandswesen unterlaufen darf, geht Art 11 EMRK nicht so weit.* Der Gerichtshof respektiert in Anbetracht der sozialen und politischen Sensibilität von staatlichen Maßnahmen, die einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Staates und den Einzelnen herbeiführen sollen, die Verschiedenartigkeit der Regeln in den nationalen Rechten. Angesichts der österreichischen Rechtswirklichkeit ist es nicht vertretbar, in der Existenz von Arbeiterkammern ein Instrument zu sehen, das – um mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen – den freien Vereinigungen durch Pflichtmitgliedschaften in parallelen öffentlich-rechtlichen Verbänden die Lebensmöglichkeit nimmt. Die österreichische Rechtswirklichkeit ist vielmehr durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft und Arbeiterkammern charakterisiert, wobei die Aufgabenteilung zwischen den Arbeiterkammern und den Gewerkschaften die koalitionsgemäße Betätigungsfreiheit, insb des ÖGB, nicht beeinträchtigt. In der Pflichtmitgliedschaft in Arbeiterkammern wird man auch keinen Verstoß gegen den negativen Aspekt der Koalitionsfreiheit erkennen können, obwohl die unterstützende Tätigkeit der Arbeiterkammern für Gewerkschaftsaufgaben letztlich dazu führt, dass durch Beiträge aller AN auch Anliegen des ÖGB befördert werden. Damit ist aber der Wesensgehalt der Koalitionsfreiheit nicht verletzt.

2.3.
Betriebsverfassung und Koalitionsfreiheit

Im Verhältnis zur betriebsverfassungsrechtlichen Interessenvertretung respektiert das ArbVG eindeutig und klar das Lohnfindungsmonopol der überbetrieblichen Interessenvertretungen und damit – jedenfalls auf AN-Seite – der Gewerkschaften als Koalition. Der Regelungsvorrang des KollV in Entgeltfragen ist aufgrund des insofern eingeschränkten Regelungskataloges der §§ 96 bis 97 ArbVG klar erkennbar. Selbst dort, wo im Zusammenhang mit der Einführung von Leistungslöhnen die BV zur Regelung befugt ist, besteht ein – im Übrigen günstigkeitsunabhängiger – Regelungsvorbehalt zu Gunsten des KollV. Ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen betrieblicher Entgeltfindung und Vorrang der Koalitionsfreiheit könnte im Umfang der Anerkennung von unzulässigen sogenannten freien Betriebsvereinbarungen gelegen sein.* Hier wird, funktionell betrachtet, dem BR, wenn auch über die stillschweigende Einzelvertragsergänzung, Einfluss auf die Entgeltgestaltung im Betrieb eröffnet. Da die neuere Rsp aber – eine entsprechende Vereinbarung vorausgesetzt – die Kündigung freier Betriebsvereinbarungen zulässt,* halte ich die Anerkennung unzulässiger Betriebsvereinbarungen in der Form der stillschweigenden Einzelvertragsergänzung mit Art 11 EMRK vereinbar.* Dann ist nämlich die freie BV nicht bestandfester als der KollV und es besteht aufgrund der Nachwirkung 416des KollV durch eine freie BV kein höheres Schutzniveau für die betroffenen AN. Diesen Vorrang des KollV auch gegenüber der freien BV halte ich aufgrund von Art 11 EMRK für geboten.

2.4.
Kollektivverhandlungen und Kollektivvertragsfähigkeit

Ein ganz wesentlicher Inhalt der Koalitionsfreiheit ist das Recht auf Kollektivverhandlungen. Hier räumen die EMRK und insb die Rsp des Gerichtshofes der nationalen Ausgestaltung des Kollektivverhandelns und damit auch des Kollektivvertragsrechts einen weiten Spielraum ein. Schon im Fall der nationalen belgischen Polizeigewerkschaft* aus 1975 sowie im Fall des schwedischen Lokomotivführerverbandes* aus 1976 hat der Gerichtshof erkannt, dass Art 11 Abs 1 EMRK das typische Recht der Koalitionen, die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder durch kollektive Maßnahmen zu verteidigen und für sie zu kämpfen, garantiere.* Daher sind die Mitgliedstaaten verpflichtetet, solche Maßnahmen zu erlauben und zu ermöglichen. Aus Art 11 EMRK folgt daher die Verpflichtung der Konventionsstaaten, Instrumente des Kollektivverhandelns und damit auch Rechtserzeugungsquellen den Koalitionen zur Verfügung zu stellen. Daraus folgt aber nicht eine Pflicht zu einer bestimmten Ausgestaltung, etwa des Kollektivvertragsrechtes oder der Kollektivvertragsfähigkeit. Konventionsstaaten sind keineswegs verpflichtet, jeder Koalition den KollV als Rechtsquelle zu eröffnen.* Sie können die Anerkennung von Kollektivverträgen oder die Zuerkennung von Kollektivvertragsfähigkeit durchaus von Kriterien abhängig machen, die die Repräsentativität einer Koalition für einen bestimmten Wirtschaftszweig sicherstellen.* Wenn daher § 4 Abs 2 Z 2 ArbVG verlangt, dass kollektivvertragsfähige freiwillige Berufsvereinigungen in einem größeren fachlichen und räumlichen Wirkungsbereich tätig werden müssen und § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG fordert, dass nur solche freiwillige Berufsvereinigungen kollektivvertragsfähig sein können, die vermöge der Zahl der Mitglieder und des Umfanges der Tätigkeit eine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung haben, dann sind diese Kriterien mit der Garantie der Koalitionsfreiheit durchaus vereinbar.* Die Konventionsstaaten dürfen nämlich zur Sicherstellung eines funktionierenden Kollektivvertragswesens die Kollektivvertragsfähigkeit auf jene Koalitionen beschränken, die für ihren Wirtschaftszweig repräsentativ sind und im Wirtschaftszweig sozial mächtig genug sind, um die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten.* Damit nimmt das ArbVG auch international betrachtet keine Sonderstellung ein. Was für das österreichische Recht besonders ist, ist die ex-ante-Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit an die Koalitionen und nicht die nachträgliche Anerkennung oder Nichtanerkennung eines kollektiven Regelungswerkes durch Gerichte.* Auch die Zuerkennung von Kollektivvertragsfähigkeiten ist aber – solange sie nur an das Kriterium der Repräsentativität gebunden ist – mit der EMRK vereinbar, dient sie doch lediglich der Rechtssicherheit. Die Verleihung der Kollektivvertragsfähigkeit als hoheitlicher Akt mag zwar etwas „josefinistisch“ anmuten, ich bevorzuge dieses Rechtssystem jedenfalls gegenüber anderen, in denen sich erst nachträglich bei Gericht herausstellt, ob das kollektiv abgeschlossene Regelungswerk wirklich ein Tarifvertrag ist oder nicht.

Eine Besonderheit der Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit nach österreichischem Recht halte ich jedoch mit der Koalitionsfreiheit für unvereinbar. Diese Besonderheit betrifft die Zusammensetzung des Bundeseinigungsamtes. Gem § 141 Abs 3 ArbVG werden die Mitglieder des Bundeseinigungsamtes vom zuständigen Bundesminister aufgrund von Vorschlägen bestellt, die von der Wirtschaftskammer Österreich und von der Bundesarbeitskammer erstattet werden. Nur im Fall deren Säumigkeit ist der zuständige Bundesminister nicht an die Vorschläge der Bundesarbeitskammer und der Wirtschaftskammer Österreichs gebunden. Das Bundeseinigungsamt verhandelt gem § 142 Abs 1 in Senaten, die beschlussfähig sind, wenn außer dem Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter je zwei Mitglieder aus der Gruppe der AG und der AN anwesend sind. Damit stehen vier Interessenvertreter einem Vorsitzenden gegenüber, der nicht aus dem Bereich der Interessenvertretungen, wohl aber nach deren Anhörung, bestellt wird. Die Wirtschaftskammer Österreich und die Bundesarbeitskammer sind als gesetzliche Interessenvertretungen nach § 4 Abs 1 kollektivvertragsfähig. Für eine freiwillige Berufsvereinigung, die die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit durch das Bundeseinigungsamt anstrebt, bedeutet dies, dass Vertreter von bereits kollektivvertragsfähigen Körperschaften darüber entscheiden, ob einer freiwilligen Berufsvereinigung die Kollektivvertragsfähigkeit zuerkannt wird. Es entscheiden also Vertreter jener Körperschaften, die zum kollektiven Aushandeln von Arbeitsbedingungen berechtigt sind darüber, ob eine Koalition ebenfalls zum Aushandeln kollektiver Arbeitsbedingungen zugelassen wird und mit ihnen dadurch in Konkurrenz tritt. Damit entscheiden aber Vertreter von gesetzlichen Interessenvertretungen über den Umfang und den Inhalt der kollektiven Interessenwahrnehmung durch Koalitionen. Das verletzt 417die Koalitionsfreiheit. Das konkrete österreichische Recht verschlimmert diesen Befund sogar noch. Wie Sie alle wissen, statuiert § 6 ArbVG den Vorrang der freiwilligen Berufsvereinigungen. Der Vorrang der freiwilligen Berufsvereinigungen besagt, dass mit der Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit an eine freie Berufsvereinigung und im Falle eines Kollektivvertragsabschlusses durch eine freiwillige Berufsvereinigung die in Betracht kommende gesetzliche Interessenvertretung in diesem Umfang die Kollektivvertragsfähigkeit verliert. Es handelt sich beim Vorrang der freiwilligen Berufsvereinigung daher nicht etwa nur um den Vorrang des Regelungswerkes des von der freiwilligen Berufsvereinigung abgeschlossenen KollV.* Der Grundsatz besagt viel mehr: Er beschränkt die Kollektivvertragsfähigkeit der gesetzlichen Interessenvertretung.

Was bedeutet das aber für die Entscheidung des Bundeseinigungsamtes? Es bedeutet, dass die Mitglieder von Wirtschaftskammer und Bundesarbeitskammer bei ihrer Entscheidung über die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit an eine freiwillige Berufsvereinigung implizit auch über den Umfang ihrer eigenen Kollektivvertragsfähigkeit entscheiden. Pointiert, aber nicht überzeichnet formuliert heißt das, dass die Vertreter der gesetzlichen Interessenvertretungen bei der Zuerkennung oder Abweisung der Kollektivvertragsfähigkeit an eine freiwillige Berufsvereinigung über ihre eigene Kollektivvertragsfähigkeit und damit in eigener Sache entscheiden. Das verletzt Art 11 EMRK. Jetzt könnte man noch euphemistisch dagegen einwenden, die Mitglieder des Bundeseinigungsamtes haben ja nach § 141 Abs 5 Satz 2 ArbVG vor Antritt ihres Amtes dem Vorsitzenden durch Handschlag gewissenhafte und unparteiische Ausübung des Amtes zu geloben. Darum geht es nicht. Es geht nicht darum, einem einzelnen Mitglied des Bundeseinigungsamtes Parteilichkeit zu unterstellen. Es geht darum, dass die Mitglieder des Bundeseinigungsamtes, anders als Laienrichter beim Arbeitsgericht, als Interessenvertreter tätig werden. Dies belegt § 141 Abs 6 letzter Satz ArbVG. Danach ist ein Mitglied des Bundeseinigungsamtes zu entheben, wenn in seiner Berufstätigkeit eine solche Änderung eintritt, dass es nicht mehr geeignet erscheint, „die Interessen der Berufsgruppe wahrzunehmen, zu deren Vertretung es bestellt wurde“. Der Gesetzgeber selbst formuliert also, dass die Mitglieder des Bundeseinigungsamtes zu Interessenwahrnehmung berufen sind. Es ist also der Zusammenhang zwischen dem entsendenden Organ und dem Organmitglied nicht etwa nur auf den Vorschlag beschränkt. Das Mitglied hat auch bei seiner Amtsausübung die Interessen der Berufsgruppe wahrzunehmen. Dieser Vorrang von gesetzlichen Interessenvertretungen vor freiwilligen Berufsvereinigungen ist mit Art 11 EMRK nicht zu vereinbaren. Dazu kommt, dass die antragstellenden Koalitionen verpflichtet sind, zum Nachweis der Erfüllung der Kriterien des § 4 Abs 2 ArbVG Vertretern der gesetzlichen Interessenvertretungen Interna ihrer Organisation zu offenbaren. Die gesetzlichen Interessenvertretungen haben dadurch Zugang zu Daten über den Wirkungsbereich, die Mitgliederstruktur und die finanzielle Ausstattung der mit ihnen im Wettbewerb stehenden freiwilligen Berufsvereinigungen und können auf der Grundlage dieser Informationen ihre eigenen Strategien entwickeln. Die Unterordnung von Koalitionen unter die Entscheidungsmacht gesetzlicher Interessenvertretungen ist mit Art 11 EMRK nicht in Einklang zu bringen. Es wäre an der Zeit und mE durch Art 11 EMRK auch geboten, die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit den Gerichten zu überantworten.

2.5.
Tarifautonomie und staatliche Normgebung

Die einmal erlangte Kollektivvertragsfähigkeit als Ausfluss des Rechtes auf koalitionskonforme Betätigung ist kein Selbstzweck. Sie ist, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat, eine dienende Freiheit, nicht nur eine Freiheit vom Staat, sondern auch eine Freiheit zur kollektiven Wahrnehmung von Interessen und damit zum Interessenausgleich.* Das spielt eine Rolle im Zusammenhang mit der schon nach einfachem österreichischem Gesetzesrecht umstrittenen Frage, ob dispositives Kollektivvertragsrecht zulässig ist.* Mit der Zulassung dispositiver Kollektivvertragsbestimmungen treten die Kollektivvertragsparteien und damit die kollektive Regelungsmacht hinter die Privatautonomie zurück. Dafür wurde und wird Tarifautonomie aber nicht eingeräumt. Sie dient vielmehr dem kollektiven Interessenausgleich unter Berücksichtigung des Schutzes der AN.* Dieser Aufgabe kann sich, vor dem Hintergrund der EMRK gesehen, der KollV durch selbstgewählte Dispositivität nicht entziehen.* Die Rsp des OGH, wonach dispositives Kollektivvertragsrecht nur in Ausnahmefällen zulässig ist und der KollV seine Regelungsmacht nicht an die Einzelvertragsparteien delegieren darf, erfährt so durch die Koalitionsfreiheit auch eine verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Begründung. Ein gänzliches Verbot des dispositiven Kollektivvertragsrechtes ist Art 11 EMRK freilich nicht zu entnehmen.

Damit ist auch die Frage gestellt, ob und wieweit der nationale Gesetzgeber berechtigt ist, in die ausgeübte Tarifautonomie einzugreifen und in Kollektivvertragsverhandlungen gefundene Ergebnisse einseitig zu Gunsten einer Vertragspartei zu 418verändern.* Nehmen wir also den Fall an, im Anwendungsbereich eines KollV haben sich die Kollektivvertragsparteien auf eine Lohnerhöhung von 3 % geeinigt. Der Gesetzgeber greift daraufhin ein und berechtigt die AG dazu, die Hälfte dieser Lohnerhöhung zurückzubehalten. Wer dieses Beispiel für unrealistisch hält, möge sich ein bisschen in Geduld üben.

Für das Verhältnis zwischen Gesetzesrecht und der durch Koalitionsfreiheit geschützten Tarifautonomie ist zunächst festzuhalten, dass die Tarifautonomie den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht einschränkt. Der Gesetzgeber kann durch zweiseitiges zwingendes Recht das Ausmaß arbeitsrechtlicher Ansprüche nach oben beschränken, einseitig zwingendes Recht schaffen und damit die Gestaltungsmacht der Kollektivvertragsparteien beschränken.* Für den Kernbereich koalitionskonformer Betätigung, dem Aushandeln von Entgelten wird auch die gesetzliche Festlegung eines Mindestlohnes nicht verboten sein, solange dessen Höhe gewährleistet, dass überbetriebliche Entgeltgestaltung noch einen Regelungsspielraum vorfindet.* Das ist aber nicht unser Fall. Unser Fall betrifft die Frage, ob dem nationalen Gesetzgeber, allenfalls auch dem nationalen Verfassungsgesetzgeber, gestattet ist, in das bereits kollektiv ausverhandelte Regelungswerk – also in einen bestehenden KollV – einseitig zu Gunsten einer Partei einzugreifen und somit das Regelungswerk inhaltlich zu verändern.* Ich halte dies für unzulässig. Die Kollektivvertragsautonomie ist mE in gleicher Weise wie die Privatautonomie davor geschützt, dass durch Eingriffe des Gesetzgebers in ausgehandelte Verträge ein Vertragswerk hergestellt wird, das von einer Vertragspartei in dieser Form nie abgeschlossen worden wäre. Wie die Parteien eines Einzelvertrages sind auch die Kollektivvertragsparteien davor geschützt, dass durch gesetzgeberische Eingriffe der gemeinsame Vertragswille einseitig verändert wird. Wer diese Vorstellung des einseitigen Eingriffs des Gesetzgebers zu Gunsten einer Kollektivvertragspartei zumindest für Österreich in den Bereich der kranken Phantasie eines Hochschullehrers verweist, den mache ich auf das Sonderpensionenbegrenzungsgesetz* aufmerksam. Hier griff der Verfassungsgesetzgeber unmittelbar in Kollektivverträge ein und begrenzte das Höchstausmaß von Pensionen nicht etwa dadurch, dass er fiskalisch bestimmte Pensionsteile zu Gunsten des Staates konfiszierte, sondern er befreite den AG durch Verfassungsgesetz von einer sich aus einem KollV ergebenden Verpflichtung.

Nun sind die einschlägigen Regelungswerke bisweilen nicht einmal Kollektivverträge und dort wo sie Kollektivverträge darstellen, solche die nicht von Koalitionen abgeschlossen wurden. Zu beachten ist aber, dass Art 28 GRC auch das Kollektiverhandeln gesetzlicher Interessenvertretungen schützt.* Die Dienstordnungen für die Bediensteten der Sozialversicherungsträger nach § 31 Abs 3 Z 9 ASVG iVm § 460 ASVG sind aber als Kollektivverträge mit dem österreichischen Gewerkschaftsbund abgeschlossen worden. Der einseitige Eingriff des Verfassungsgesetzgebers in diesen KollV zugunsten des AG stellt einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit des österreichischen Gewerkschaftsbundes dar. Ob dieser Eingriff verhältnismäßig ist, ist mE stark zu bezweifeln. Zudem handelt es sich um einen Eingriff in den Kernbereich der Kollektivautonomie, nämlich in die Frage der Entgeltgestaltung. Seit jeher werden Betriebspensionen als Entgeltbestandteile begriffen. Es ist mir schon bewusst, dass von dieser Maßnahme ein kleiner privilegierter Personenkreis betroffen ist. Hier geht es aber um ein wichtiges Prinzip: Es steht nämlich die ausgeübte Kollektivvertragsautonomie als Schutzgut des Art 11 EMRK im Belieben des nationalen Gesetzgebers. Dass dieser gegenüber anderen kollektivvertragsfähigen Körperschaften deren kürzlich gewährleistete verfassungsrechtliche Autonomie nach Art 120c des Bundesverfassungsgesetzes durch ein spezielles Verfassungsgesetz wieder zurückgenommen hat, wird verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein. Beim ÖGB handelt sich aber um eine Koalition und dessen koalitionskonforme Betätigung und der Anspruch seiner Mitglieder auf Ausübung der Koalitionsfreiheit steht unter internationalrechtlichem Schutz. Dort wird es mit ziemlicher Sicherheit von Relevanz werden, ob dieser Eingriff in die koalitionskonforme Betätigung einer Gewerkschaft erforderlich war oder die sozialpolitisch gewünschte Maßnahme der Begrenzung von hohen Pensionen nicht auch durch andere Maßnahmen, etwa fiskalischer Natur, hätte erreicht werden können.*

Zusammenfassend erweist sich das österreichische kollektive Arbeitsrecht weitestgehend auch mit den neueren Entwicklungen auf dem Gebiet des Koalitionsrechts konform. Dass die lange Zeit herrschende Lehre von der bloßen Streikfreiheit eine Revision erfahren muss, wird sich hoffentlich auf die Streikwirklichkeit nicht auswirken. Sofern die supranationale Garantie der Koalitionsfreiheit Anpassungen im nationalen Recht erfordert, habe ich diese im Zusammenhang mit der Zusammensetzung des Bundeseinigungsamtes aufgezeigt. Angesichts der Versuchung des Verfassungsgesetzgebers populistisch in die ausgeübte Tarifautonomie von Koalitionen einzugreifen, ist es beruhigend zu wissen, dass die Koalitionsfreiheit in Österreich nicht zur Disposition des Verfassungsgesetzgebers steht.419