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Kindergeldzahlung des unzuständigen Mitgliedstaates

MAXIMILIANFUCHS (INGOLSTADT)
§§ 62, 65 EStG; Art 13 Abs 1, Art 14 Nr 1 lit a, Art 14a Nr 1 lit a VO 1408/71; Art 45/48 AEUV
EuGH 12.6.2012 C-611/10 und C-612/10 Hudzinski/Wawrzyniak
  1. Der koordinationsrechtlich unzuständige Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, aber befugt, nach seinen Rechtsvorschriften eine Familienleistung zu gewähren, auch wenn der Empfänger durch die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erlitten und weder er noch das Kind ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat haben.

  2. Der völlige Ausschluss der Familienleistung im Recht des unzuständigen Staates wegen einer vergleichbaren Leistung im zuständigen Staat steht nicht im Einklang mit den Bestimmungen des AEUV über die Freizügigkeit.

[...]

(14) Herr Hudzinski ist polnischer Staatsangehöriger, wohnt in Polen und ist dort als selbständiger Landwirt tätig. Er ist in diesem Mitgliedstaat auch sozialversichert.

(15) Vom 20.8. bis 7.12.2007 arbeitete Herr Hudzinski als Saison-AN bei einem Gartenbauunternehmen in Deutschland. Für das Jahr 2007 wurde er auf seinen Antrag in Deutschland als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.

(16) Für den Zeitraum, währenddessen Herr Hudzinski in Deutschland arbeitete, beantragte er für seine beiden Kinder, die ebenfalls in Polen wohnen, die Zahlung von Kindergeld gem §§ 62 ff EStG in Höhe von monatlich 154 € pro Kind. [...]

(18) Herr Wawrzyniak ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt zusammen mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in Polen. Dort ist er auch sozialversichert.

(19) Von Februar bis Dezember 2006 arbeitete Herr Wawrzyniak als entsandter AN in Deutschland. Für das Jahr 2006 wurde er in Deutschland zusammen mit seiner Ehefrau als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.

(20) Für den Zeitraum, währenddessen Herr Wawrzyniak in Deutschland arbeitete, beantragte er für seine Tochter die Zahlung von Kindergeld gem §§ 62 ff EStG in Höhe von monatlich 154 €. [...]

(35) In der Rs C-612/10 hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ebenfalls ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: [...]

(38) Hierzu ist festzustellen, dass, wie das vorlegende Gericht zu Recht angenommen hat, die auf die Situation der Kl der Ausgangsverfahren hinsichtlich ihres Anspruchs auf Familienleistungen anwendbaren Rechtsvorschriften durch Art 14 Nr 1 Buchst a bzw Art 14a Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 bestimmt werden. [...]

(42) Da Art 48 AEUV eine Koordinierung und keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsieht, werden im Übrigen die materiellen und formellen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten und folglich zwischen den Ansprüchen der dort Versicherten durch diese Bestimmung nicht berührt, so dass jeder Mitgliedstaat dafür zuständig bleibt, im Einklang mit dem Unionsrecht in seinen Rechtsvorschriften festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen eines Systems der sozialen Sicherheit gewährt werden (vgl ua Urteil vom 30.6.2011, da Silva Martins, C-388/09) [...].

(43) In diesem Rahmen kann das Primärrecht der Union einem Versicherten nicht garantieren, dass ein Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral ist. Somit kann die Anwendung – gegebenenfalls aufgrund der Bestimmungen der VO 1408/71 – einer nationalen Regelung, die in Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit weniger günstig ist, grundsätzlich mit den Anforderungen des Primärrechts der Union auf dem Gebiet der Personenfreizügigkeit vereinbar sein (vgl entsprechend Urteil da Silva Martins, Rn 72).

(44) Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass die Kl der Ausgangsverfahren, die sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen, im vorliegenden Fall die Bundesrepublik Deutschland, begeben haben, um dort eine Arbeit auszuführen, grundsätzlich nur einen Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats haben, die nach der VO 1408/71 allein anwendbar sind, selbst wenn diese, wie im vorliegenden Fall, weniger günstig sind als die Leistungen gleicher Art nach den deutschen Rechtsvorschriften. [...]

(50) In den vorliegenden Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die damit einem Mitgliedstaat, der nach den Vorschriften des Titels II der VO 1408/71 nicht der zuständige Staat ist, unter Umständen, wie sie im Urteil Bosmann in Frage standen, zuerkannte Möglichkeit, einer in seinem Gebiet wohnhaften Person eine Familienleistung zu gewähren, auch für Sachverhalte wie die in den vorliegenden Ausgangsverfahren fraglichen anzuerkennen ist, obgleich diese sich von dem der Rs Bosmann zugrunde liegenden Sachverhalt in mehrfacher Hinsicht unterscheiden.223

(51) Was erstens die Erheblichkeit des Umstands betrifft, dass die Kl der Ausgangsverfahren durch die Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit weder Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verloren noch geringere Leistungen erhalten haben, da sie ihre Ansprüche auf Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat behalten haben, so vermag es dieser Umstand für sich allein nicht auszuschließen, dass ein nicht zuständiger Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, solche Leistungen zu gewähren.

(52) Wenn der Gerichtshof nämlich in Rn 29 des Urteils Bosmann auch darauf hingewiesen hat, dass Wander-AN nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, ist doch dieser Hinweis ausdrücklich als ein Beispiel für die Folgerungen formuliert, die sich aus Art 48 AEUV und dem Zweck dieser Vorschrift für die Auslegung der VO 1408/71 ergeben können.

(53) Zudem ist dieser Hinweis, der im Zusammenhang mit den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens der Rs Bosmann zu sehen ist, nur von nachrangiger Bedeutung gegenüber dem in derselben Randnummer des Urteils Bosmann an erster Stelle genannten und stRsp entsprechenden Grundsatz, wonach die Bestimmungen der VO 1408/71 im Licht des Zwecks des Art 48 AEUV auszulegen sind, der in der Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit für die Wander-AN besteht (vgl ua Urteil da Silva Martins, Rn 70 und die dort angeführte Rsp).

(54) Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass aus dem ersten Erwägungsgrund der VO 1408/71 hervorgeht, dass diese zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Wander-AN beitragen soll.

(55) In diesem Rahmen hat der Gerichtshof indessen festgestellt, dass man gleichzeitig über das Ziel der VO 1408/71 hinausginge und die Zwecke und den Rahmen von Art 48 AEUV außer Betracht ließe, legte man die VO so aus, dass sie einem Mitgliedstaat verbietet, AN sowie deren Familienangehörigen einen weitergehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser VO ergibt (Urteil vom 16.7.2009, von Chamier-Glisczinski, C-208/07, Slg 2009, I-6095, Rn 56).

(56) Die unionsrechtlichen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit sind nämlich insb in Anbetracht der mit ihnen verfolgten Ziele – vorbehaltlich ausdrücklich vorgesehener, diesen Zielen entsprechender Ausnahmen – so anzuwenden, dass sie dem Wander-AN oder den ihm gegenüber Berechtigten nicht Leistungen aberkennen, die allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats gewährt werden (vgl ua Urteil da Silva Martins, Rn 75).

(57) In Anbetracht dieser Umstände ist festzustellen, dass eine Auslegung von Art 14 Nr 1 Buchst a und Art 14a Nr 1 Buchst a der VO 1408/71, die es einem Mitgliedstaat erlaubt, Familienleistungen in einer Situation wie der der Ausgangsverfahren zu gewähren, in der der Wander-AN durch die Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit weder den Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit verloren noch geringere Leistungen erhalten hat, da er seinen Anspruch auf gleichartige Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat behalten hat, nicht ausgeschlossen werden kann, weil sie zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Wander-AN beizutragen vermag, indem diesen ein weitergehender sozialer Schutz gewährt wird, als sich aus der Anwendung dieser VO ergibt, und sie somit am Zweck dieser Vorschriften teilhat, der darin besteht, die Freizügigkeit der AN zu erleichtern. [...]

(60) Nach § 62 Abs 1 EStG hat jedoch Anspruch auf das Kindergeld auch, wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war oder so behandelt wurde. [...]

(66) In den vorliegenden Ausgangsverfahren besteht die Anknüpfung der fraglichen Situationen an das Gebiet des nicht zuständigen Mitgliedstaats, dessen Familienleistungen beansprucht werden, in der unbeschränkten Steuerpflicht für die Einkünfte aus der vorübergehend ausgeführten Arbeit in diesem Mitgliedstaat. Diese Anknüpfung gründet sich auf ein eindeutiges Kriterium und kann, auch in Anbetracht des Umstands, dass die beanspruchte Familienleistung aus Steuereinnahmen finanziert wird, als hinreichend eng angesehen werden. [...]

(68) Nach alledem ist auf die einzige Frage in der Rs C-611/10 und die beiden ersten Fragen in der Rs C-612/10 zu antworten, dass Art 14 Nr 1 Buchst a und Art 14a Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat, der nach diesen Vorschriften nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehren, nach seinem nationalen Recht einem Wander-AN, der unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend eine Arbeit ausführt, auch dann Leistungen für Kinder zu gewähren, wenn erstens festgestellt wird, dass der betreffende Erwerbstätige durch die Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erlitten hat, da er seinen Anspruch auf gleichartige Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat behalten hat, und zweitens, dass weder dieser Erwerbstätige noch das Kind, für das diese Leistung beansprucht wird, ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Mitgliedstaats haben, in dem die vorübergehende Arbeit ausgeführt wurde. [...]

(74) Im Ausgangsverfahren ist die Republik Polen nämlich zugleich der Wohnmitgliedstaat des betroffenen Kindes und der Beschäftigungsmitgliedstaat des entsandten AN, der nach Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 als zuständiger Staat bestimmt ist, dh der Staat, in dessen Gebiet die Gesellschaft, für die dieser normalerweise arbeitet, ihren Betriebssitz hat.

(75) Daraus folgt, dass die Antikumulierungsregeln in Art 76 der VO 1408/71 und Art 10 der VO 574/72 im vorliegenden Fall dem Ausschluss des Anspruchs auf eine Leistung für Kinder nach einer nationalen Antikumulierungsregel wie derjenigen in § 65 EStG nicht entgegenstehen können.

(76) Gleichwohl kann die Anwendung einer solchen Antikumulierungsregel des nationalen Rechts in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren, soweit sie, wie aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte her224vorgeht, offenbar nicht zu einer Kürzung des Betrags der Leistung um die Höhe des Betrags einer in einem anderen Staat gewährten vergleichbaren Leistung, sondern zum Ausschluss dieser Leistung führt, einen erheblichen Nachteil darstellen, der faktisch eine weitaus größere Zahl Wander-AN als sesshafter AN beeinträchtigt, die ihre gesamten Tätigkeiten in dem betreffenden Mitgliedstaat ausübten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

(77) Es sind nämlich vor allem Wander-AN, die in einem anderen Mitgliedstaat, insb in ihrem Herkunftsmitgliedstaat, vergleichbare Leistungen in zudem potenziell sehr unterschiedlicher Höhe beziehen können.

(78) Ein solcher Nachteil scheint umso weniger gerechtfertigt, als die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung aus Steuereinnahmen finanziert wird und der Kl des Ausgangsverfahrens nach den fraglichen nationalen Rechtsvorschriften aufgrund des Umstands, dass er in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war, einen Anspruch auf diese Leistung hat.

(79) Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Zweck der Art 45 AEUV und 48 AEUV verfehlt würde, wenn die Wander-AN, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, die Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren würden, die ihnen allein die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern (vgl in diesem Sinne Urteil da Silva Martins, Rn 74 und die dort angeführte Rsp).

(80) Aus der Rsp des Gerichtshofs ergibt sich außerdem, dass mit den Art 45 AEUV bis 48 AEUV ebenso wie mit der zu ihrer Durchführung erlassenen VO 1408/71 insb verhindert werden soll, dass ein AN, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ohne objektiven Grund schlechter gestellt wird als ein AN, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat (vgl in diesem Sinne Urteil da Silva Martins, Rn 76 und die dort angeführte Rsp). [...]

Anmerkung
1
Ausgangspunkt: Urteil Bosmann

Bereits eine erste Lektüre der vorstehend abgedruckten E zeigt, dass der Richterspruch ganz wesentlich von dem in der Rs Bosmann erlassenen Urteil (EuGH 20.5.2008, C-352/06, Slg 2008, I-3827) geprägt ist. Auch in diesem Urteil ging es um die Vorschriften betreffend die Gewährung des deutschen Kindergeldes (§§ 62 ff Einkommensteuergesetz [EStG]). Zu entscheiden war die Frage, ob von einem deutschen Träger eine Kindergeldzahlung an die belgische Kl mit Wohnsitz in Deutschland für ihre zwei Kinder erfolgen sollte, obwohl nach den Vorschriften der VO 1408/71 sozialrechtlich zuständiger Mitgliedstaat die Niederlande waren. Die deutsche Bundesregierung und auch die Kommission hatten in dem Verfahren insb unter Hinweis auf die Urteile in den Rs Ten Holder (EuGH 12.6.1986, 302/84, Slg 1986, 1821) und Luijten (EuGH 10.7.1986, 60/85, Slg 1986, 2365) die Auffassung vertreten, dass eine Leistung durch den deutschen Träger ausgeschlossen sei, da das koordinationsrechtliche Prinzip der Zuständigkeit nur eines Mitgliedstaates eine Leistung durch den nicht zuständigen Mitgliedstaat ausschließe. Der EuGH sah sich aber durch diese beiden Urteile nicht gehindert, zu judizieren, dass zwar eine Verpflichtung zur Leistungsgewährung durch einen deutschen Träger nicht bestehe, andererseits aber dem Träger des Wohnsitzmitgliedstaats nicht die Befugnis abgesprochen werden könne, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren, wenn dies allein nach den nationalen Vorschriften möglich sei (vgl Rn 27 ff des Urteils Bosmann).

2
Das Urteil Hudzinski/Wawrzyniak

Der Fall Hudzinski/Wawrzyniak war insofern gleich gelagert, als das Sozialrechtsstatut beider Kl nach den einschlägigen koordinationsrechtlichen Vorschriften polnischem Recht unterfiel. Die beiden polnischen und in Polen sozialversicherten Kl, der eine selbständig, der andere AN, beide verheiratet mit Kindern mit Wohnsitz in Polen, waren im Wege einer Entsendung in Deutschland tätig. Für den selbständig tätigen Kl ergab sich das polnische Sozialversicherungsstatut aus Art 14a Nr 1 lit a) VO 1408/71. Im Ergebnis galt das gleiche für den zweiten Kl, der aufgrund von Art 14 Nr 1 lit a) VO 1408/71 während der Ausführung einer Arbeit für seinen polnischen AG weiterhin polnischen Rechtsvorschriften unterlag.

Trotz der Parallelität zu Bosmann legte der Bundesfinanzhof, das höchste deutsche Steuergericht, dem EuGH die Sache vor. Denn er sah deutliche Unterschiede gegenüber dem Sachverhalt in der Rs Bosmann. Im Gegensatz zu Frau Bosmann hatten die beiden polnischen Kl keinen Rechtsnachteil durch ihre Tätigkeit in Deutschland erlangt, da sie vor ihrer Tätigkeit in Deutschland bestehende Ansprüche auf Familienleistungen nach polnischem Recht behielten. Außerdem war Deutschland weder der Wohnmitgliedstaat der Kl noch der Kinder. Und schließlich hatten die beiden Polen einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen in Polen, während Frau Bosmann in den Niederlanden keinen vergleichbaren Anspruch hatte.

Hierzu wiederholt der Gerichtshof zunächst explizit und ausführlich die in der Rs Bosmann entwickelten Grundsätze. Sodann konzentriert sich der Gerichtshof auf das vom Vorlagegericht betonte Argument, dass die Kl keine Ansprüche verloren hätten. Die Ausführungen, die dazu folgen (vgl Rn 51–56 des Urteils Hudzinski/Wawrzyniak), besitzen wenig Überzeugungskraft. Während an früherer Stelle des Urteils (vgl Rn 42 und 43) noch deutlich gemacht wurde, dass angesichts der Tatsache, dass Art 48 AEUV keine Harmonisierung, sondern lediglich eine Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsehe, nicht garantiert werden könne, dass ein Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral sei, werden jetzt Auslegungskriterien für Art 48 AEUV herangezogen, die offensichtlich zu einem anderen Ergebnis führen sollen. So wird gesagt, dass der in dem Urteil Bosmann gemachte Hinweis, wonach Wander-AN nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom225 Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, nur von nachrangiger Bedeutung gegenüber dem gleichzeitig betonten Grundsatz sei, wonach die Bestimmungen der VO 1408/71 im Lichte des Zwecks des Art 48 AEUV auszulegen seien, der in der Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit für die Wander-AN bestehe. Der Gerichtshof schließt seine Begründungserwägungen mit dem sowohl bei Bosmann, aber auch in anderen Urteilen anzutreffenden Satz ab, wonach die unionsrechtlichen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit so anzuwenden seien, dass sie dem Wander-AN oder den ihm gegenüber Berechtigten nicht Leistungen aberkennen, die allein nach dem Recht eines Mitgliedstaates gewährt werden (vgl Rn 56 des Urteils Hudzinski/Wawrzyniak). Hiermit zeigt sich, dass es dem Gerichtshof nicht gelingt, die Bedenken des vorlegenden Gerichts auszuräumen. Die Aporie der Argumentation des Gerichtshofs ist eine doppelte. Die Aussage und der Satz von der Unzulässigkeit eines Rechtsverlustes durch die Wahrnehmung von Freizügigkeit ist völlig unbestritten, aber er trifft auf den Urteilssachverhalt nicht zu, da die Kl kein Recht verloren haben. Und die zweite Schwäche des Arguments liegt darin, dass zur Richtigkeit des Arguments auf das Urteil da Silva Martins verwiesen wird (vgl EuGH 30.6.2011, Rs C-388/09, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht). Denn in dieser Rechtssache ging es eben darum, dass der portugiesische Kl sein Recht auf freiwillige Versicherung in der deutschen Pflegeversicherung durch seinen Wegzug nach Portugal verloren hatte. Vor diesem Hintergrund führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass es dem Gerichtshof nicht gelungen ist, den Bedenken des Bundesfinanzhofs ein stichhaltiges Argument entgegenzusetzen.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof die vorliegende Fallgestaltung nicht anders behandelt als jene in der Rs Bosmann. Dem nach Koordinationsrecht nicht zuständigen Mitgliedstaat Deutschland ist es nicht verwehrt, nach seinem nationalen Recht den Wander-AN die Familienleistung zu gewähren, auch wenn die Betroffenen durch die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erlitten haben und zweitens weder der Erwerbstätige noch die betreffenden Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.

3
Übereinstimmung von § 65 EStG mit EU-Primärrecht

Die weiteren Überlegungen des Gerichtshofs konzentrierten sich auf die Frage, ob die deutsche Regelung in § 65 EStG, welche die Kindergeldgewährung ausschließt, wenn vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt werden, mit EU-Recht in Einklang steht. Dies erforderte zunächst eine Überprüfung anhand des Koordinierungsrechts, speziell anhand der Antikumulierungsregelungen in Art 76 VO 1408/71 und Art 10 VO 574/72. Da jedoch im vorliegenden Falle der Wohnmitgliedstaat des Kindes und der Beschäftigungsmitgliedstaat des entsandten AN identisch waren, konnten diese Vorschriften nicht Platz greifen.

Dennoch bringt der Gerichtshof § 65 EStG zu Fall, weil er die Vorschrift an Primärrecht (konkret Art 45 und 48 AEUV) misst und einen Verstoß dagegen bejaht. Dabei sieht er die Regelung über den völligen Ausschluss des Kindergeldes bei Bestehen einer vergleichbaren Leistung im Ausland als eine Diskriminierung von Wander-AN an, weil faktisch eine weitaus größere Zahl gegenüber sesshaften AN betroffen ist, die ihre gesamten Tätigkeiten in dem betreffenden Mitgliedstaat ausübten.

Gegen diese Argumentation des EuGH sind sowohl vom Ergebnis wie vom methodischen Vorgehen her erhebliche Einwände geltend zu machen. Die deutsche ebenso wie die ungarische Regierung haben in dem Verfahren solche Einwände geltend gemacht (vgl dazu Rn 43–45 der Schlussanträge des GA). Die Kommission hat sich diesem Vorbringen angeschlossen und in seltener Eindringlichkeit davor gewarnt, mehr als einen zuständigen Staat und eine Anspruchskumulation anzunehmen (vgl Rn 45 der Schlussanträge des GA). Der GA hat sich dieser Rechtsauffassung angeschlossen. Mit bemerkenswerter Klarheit und mit einer sehr stringenten Analyse hat er dargetan, dass die deutsche Regelung in § 65 EStG europarechtlich unbedenklich ist (vgl Rn 80–86 der Schlussanträge). Dabei hat er herausgestrichen, dass die das polnische Sozialrechtsstatut begründenden koordinationsrechtlichen Vorschriften des Art 14 Abs 1 lit a) und Art 14a Abs 1 lit a) VO 1408/71 mit dem Unionsrecht vereinbar sind, vor allem mit der Freizügigkeit und dem Gleichheitsgrundsatz. Gerade aus der Rsp des Gerichtshofs gehe hervor, dass die mit den beiden Vorschriften verfolgten Ziele der Förderung der Dienstleistungsfreiheit von Unternehmen und der Freizügigkeit der AN dienten. Des Weiteren betont der GA, dass die deutsche und ungarische Regierung richtigerweise vorgebracht hätten, dass aus dem Urteil Bosmann nur geschlossen werden könne, dass Deutschland als nicht zuständiger Mitgliedstaat bloß die Möglichkeit, nicht aber die Verpflichtung habe, Kindergeld zu gewähren. Erfreulicherweise unterstreicht der GA in diesem Zusammenhang auch die nach der Rsp des Gerichtshofs immer wieder formulierte Befugnis der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und die Tatsache, dass es mangels Harmonisierung auf Unionsebene Sache des Rechts des jeweiligen Mitgliedstaates sei, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit sowie ihre Höhe und die Dauer ihrer Gewährung festzulegen. Und so mündet diese Analyse des GA in die klare Feststellung (Rn 86 der Schlussanträge): „Da das Unionsrecht demnach nicht verlangt, dass die zuständigen deutschen Behörden zu den hier untersuchten Fällen Kindergeld gewähren, können folglich Bestimmungen des nationalen Rechts, wie § 65 Abs 1 Nr 2 EStG iVm § 65 Abs 2 EStG, die für solche Situationen einen Anspruch auf Kindergeld gänzlich oder teilweise ausschließen, nicht als unionsrechtswidrig erachtet werden“.

Der Gerichtshof wäre gut beraten gewesen, dieser Argumentationslinie zu folgen. Stattdessen beruhen die Ausführungen zu Art 45 und 48 AEUV auf unzutreffenden Aussagen. Das Statement, wonach durch die Wahrnehmung der Freizügigkeit Vergünstigungen der sozialen Sicherheit nicht verloren gehen dürfen (Rn 79 des Urteils), greift nicht, weil ein Verlust eines Rechts226 nicht eintritt. Darauf hat die Kommission in ihrer Stellungnahme mit Nachdruck hingewiesen (vgl Schlussanträge des GA Rn 44). Und ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass ein/e AN, der/die von der Freizügigkeit Gebrauch macht, ohne Grund schlechter gestellt wird als ein/e AN, der/die seine/ihre gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat (Rn 80 des Urteils). Die Vergleichsperson kann hier nur ein polnischer AN sein, der sein ganzes Arbeitsleben in Polen zugebracht hat (so zutreffend Driguez, Note, in Europe-Revue mensuelle LexisNexis Jurisclasseur 8/9, 2012, 30, 31). Diesem gegenüber wird der Kl aber nicht schlechter, sondern besser gestellt, wenn man der Auffassung des EuGH folgt.

Auch wenn der Gerichtshof Art 45 und 48 AEUV zum Prüfungsgegenstand macht, ließe sich fragen, ob er dann auch die Prüfung hätte zu Ende führen müssen. Eingriffe in eine Grundfreiheit können gerechtfertigt sein. Wenn man der Argumentationslinie des Gerichtshofes folgt, lag hier eine mittelbare Diskriminierung nahe. Sie kann deshalb zur Erreichung eines bestimmten Ziels geeignet und erforderlich sein. Familienleistungen haben einen sehr starken Bezug zu den Erfordernissen der nationalen Sozialpolitik. Darf ein Mitgliedstaat nicht einer Politik folgen, nach der Familienleistungen denjenigen zugute kommen sollen, die sozialrechtlich gesehen in diesen Mitgliedstaat integriert sind? An dieser Integration fehlt es im Falle der Entsendung, weshalb das Koordinierungsrecht gerade im Interesse der entsandten Person den statusrechtlichen Verbleib im Entsendestaat vorsieht. In dem Fall Hudzinski/Wawrzyniak bringt das Koordinierungsrecht hinsichtlich des Sozialrechtsstatuts zum Ausdruck, dass Polen der zuständige Mitgliedstaat ist. Deshalb ist das zuständige Sozialversicherungsstatut ausschließlich nach polnischem Recht begründet. Hierin kommt zum Ausdruck, dass der Kl sozialrechtsozialrechtlich in Polen integriert ist und trotz Entsendung integriert bleibt. Die Entsendungsregeln bringen mit ihrer Beschränkung auf zwölf Monate zum Ausdruck, dass mit dem Verbleib in der bisherigen Sozialrechtsordnung die Integration in diesem Mitgliedstaat gesehen wird (sehr treffend hierzu Schuler, Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland [1988] 424 ff). Warum sollen außerhalb dieses Regelungswerks, das Art 39 und 42 EG (jetzt: Art 45 und 48 AEUV) entspringt und vom Gerichtshof an keiner Stelle des Urteils als primärrechtlich bedenklich angesehen wird (und vom GA ausdrücklich betont wird, vgl Rn 82 f der Schlussanträge), gerade die vorgenannten primärrechtlichen Vorschriften einen Mitgliedstaat zwingen, zusätzlich Familienleistungen zu erbringen?

Man kann hier zu Recht der kritischen Anmerkung eines französischen Rezensenten folgen, der von einem Paradoxon gesprochen hat, weil einerseits der nicht zuständige Staat nach den Regeln des Kollisionsrechts nicht verpflichtet ist, eine Familienleistung zu erbringen, während andererseits der/die AntragstellerIn alle Chancen hat, die Leistung zu fordern, weil die Nichtleistung einen Verstoß gegen die Freizügigkeit der AN darstellt (Lhernould, Ouverture des droits à prestations familiales dans deux Etatsmembres de l‘Union, Revue de jurisprudence sociale 2012, 583, 584). Weiter äußert dieser Autor, dass der Gerichtshof hier offensichtlich aus dem Vertrag eine Art Günstigkeitsprinzip ableitet, das über die neutrale Logik der Koordinierungsregelungen hinausgeht und das auch das Grundprinzip der Einheitlichkeit des Sozialrechtsstatuts beeinträchtigt. Und er schließt mit der Bemerkung, dass es schwierig sei zu wissen, wie weit dieses Prinzip führen wird. Diesen Äußerungen ist nichts hinzuzufügen.