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Kein zusätzlicher Pflegebedarf für Entleerung der Harnflasche bei selbständiger Notdurftverrichtung

ELISABETH BISCHOFREITER

Die Einstufungsverordnung (EinstV) zum Bundespflegegeldgesetz (BPGG) sieht im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung zwei unterschiedliche Betreuungsleistungen vor: Neben der eigentlichen „Verrichtung der Notdurft“ in § 1 Abs 4 EinstV wird in § 1 Abs 3 EinstV der zeitliche Bedarf für die „Entleerung und Reinigung des Leibstuhles“ normiert.

Die im Zusammenhang mit der (selbständigen!) Verrichtung der Notdurft erforderlichen und unter 375 § 1 Abs 3 EinstV zu qualifizierenden Hilfeleistungen (in casu: Reinigung und Leerung der Harnflasche) fallen nicht unter § 1 Abs 4 EinstV.

Sachverhalt

Der 1963 geborene Kl leidet an den Folgen einer Nervenschädigung im Rückenmark und lebt seit November 2023 in einem Pflegeheim. Der Kl ist aktuell rollstuhlmobil; mit dem Rollator kann er nur unter naher Supervision und Hilfestellung einer Pflegeperson gehen, dies aufgrund der Gang- und Koordinationsstörung vor allem die linke Körperseite betreffend. Auch besteht eine eingeschränkte Hantierfähigkeit wie Feinmotorikstörung in den Händen bei verminderter Handkraft und Streckdefizit einzelner Finger beidseits. Ohne Anhalten ist der Kl nicht stehfähig und benötigt Hilfestellung bei der Verrichtung der großen Notdurft ein- bis zweimal täglich. Zur Erleichterung der Pflege uriniert der Kl, wenn er im Bett liegt, in eine Harnflasche, die sich neben dem Bett befindet. Diese kann er selbst ergreifen; sie muss nach zweimaligem Harnlassen vom Pflegepersonal entleert und gereinigt werden, weil es sonst zu Verschütten und Verunreinigung der Bettwäsche kommen würde. Die ca halbgefüllte Harnflasche muss über 24 Stunden 6- bis 7-mal entleert und gereinigt werden.

Verfahren und Entscheidung

Mit Bescheid vom 6.2.2024 erkannte die Bekl dem Kl Pflegegeld der Stufe 3 ab 1.11.2023 zu. Mit seiner dagegen erhobenen Klage begehrt der Kl die Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes.

Das Erstgericht stellte einen monatlichen Betreuungs- und Hilfsbedarf von 163 Stunden fest und sprach dem Kl ein Pflegegeld der Stufe 4 zu. Das Erstgericht ging davon aus, dass beim Kl der Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft nicht relevant unterschritten werde, weshalb es dafür einen Bedarf von 30 Stunden im Monat ansetzte. Den Richtwert für die Entleerung und Reinigung der Harnflasche berücksichtigte es nicht mehr gesondert.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge, hob das Ersturteil auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das Berufungsgericht ging erkennbar von einem feststehenden Bedarf von 150,5 Stunden aus. Nach dem derzeitigen Verfahrensstand sei nämlich eine Betreuung nur bei der Verrichtung der großen Notdurft erforderlich, wobei hierfür nur ein Pflegebedarf von 2,5 Stunden pro Monat als angemessen zu veranschlagen sei, sodass der Mindestwert wesentlich unterschritten werde. Das Entleeren der Harnflasche falle hingegen unter die Betreuungsleistung nach § 1 Abs 3 EinstV. Aufgrund eines relevanten Überschreitens des hierfür vorgesehenen Richtwerts könne von 15 Stunden monatlich ausgegangen werden. Da nicht feststehe, wie der Kl außerhalb des Bettes die kleine Notdurft verrichte und ob dabei Hilfestellungen erforderlich seien, wurde das Verfahren als ergänzungsbedürftig eingestuft.

Der Rekurs wurde vom OGH als zulässig, aber nicht berechtigt erachtet.

Originalzitate aus der Entscheidung

1.1 In dritter Instanz ist strittig, ob im Anlassfall bei der Berechnung des für die Verrichtung der Notdurft erforderlichen Pflegebedarfs der in § 1 Abs 4 EinstV dafür normierte Wert von täglich 4 x 15 Minuten (= 30 Stunden im Monat) zu berücksichtigen ist. […]

2.1 Das Rechtsmittel tritt der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach für die festgestellten Unterstützungsleistungen im Anlassfall im Zusammenhang mit der Verrichtung der großen Notdurft ein Pflegebedarf von (nur) 2,5 Stunden pro Monat zu veranschlagen ist, argumentativ nicht im Ansatz entgegen. Der Kläger vertritt – wie das Erstgericht – allerdings die Ansicht, dass zu diesem Pflegebedarf auch die erforderliche Hilfeleistung bei der Verrichtung der kleinen Notdurft (Entleerung und Säuberung der Harnflasche) hinzuzählen sei, sodass in weiterer Folge der Mindestwert von 30 Stunden anzuwenden sei, weil die Verrichtungen insgesamt dann einen Aufwand verursachen würden, der nicht mehr deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwerts liege.

2.2 Das Argument des Rechtsmittels blendet hier allerdings den Umstand aus, dass es dem Kläger (wenn er im Bett liegt) durch die Verwendung einer Harnflasche ermöglicht wird, seine Notdurft selbstständig zu verrichten. Zur Entleerung und Reinigung der Harnflasche bedarf er allerdings der Hilfe einer anderen Person. Nach der zutreffenden Ansicht des Berufungsgerichts ist für die Bemessung dieser Unterstützung in einem solchen Fall nicht auf § 1 Abs 4 EinstV zurückzugreifen […]. Vielmehr ist hier auf die speziellere Regel des § 1 Abs 3 EinstV abzustellen, der für die Entleerung und Reinigung des Leibstuhls einen Richtwert von 4 x 5 Minuten am Tag (10 Stunden im Monat) festlegt. Die Verwendung einer Harnflasche entspricht wertungsmäßig dem eines Leibstuhls (bzw einer Leibschüssel), zumal mit einem Leibstuhl (einer Leibschüssel) nicht nur Stuhl, sondern auch Urin aufgenommen werden soll […]. Das Berufungsgericht hat im Anlassfall in zulässiger […] Überschreitung des in § 1 Abs 3 EinstV festgelegten Werts einen Pflegebedarf von 15 Stunden angenommen, was von beiden Streitteilen auch in dritter Instanz nicht mehr angezweifelt wird.

3. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die EinstV zum BPGG im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung zwei unterschiedliche Betreuungsleistungen vorsieht. Neben 376 der eigentlichen „Verrichtung der Notdurft“ in § 1 Abs 4 EinstV wird in § 1 Abs 3 EinstV der zeitliche Bedarf für die „Entleerung und Reinigung des Leibstuhles“ normiert. Der Senat schließt sich hier der vom Berufungsgericht vertretenen Ansicht an, dass die im Zusammenhang mit der (selbstständigen!) Verrichtung der Notdurft erforderlichen und unter § 1 Abs 3 EinstV zu qualifizierenden Hilfeleistungen (in casu: Reinigung und Leerung der Harnflasche) nicht unter § 1 Abs 4 EinstV fallen. […]

5. Auch der Hinweis im Rechtsmittel, es müsse dem Kläger aus den Gründen der Menschenwürde ermöglicht werden, die Notdurft auf einer Toilette zu verrichten und es könne von ihm nicht verlangt werden, eine Harnflasche zu verwenden, verfängt nicht. § 1 Abs 3 EinstV normiert ausdrücklich die Verwendung des Leibstuhls für pflegebefohlene Personen. Auch aus der dazu ergangenen Judikatur […] ist nicht abzuleiten, dass es die Menschenwürde verletzt, wenn die Notdurft auf einem Leibstuhl (also auch außerhalb einer Toilette) verrichtet wird. Entsprechendes gilt für die Verwendung einer Harnflasche […].

6. Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4 bestehe nicht schon deshalb, weil (nach den bisherigen Feststellungen) im Anlassfall im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung – abgesehen von typischen, den Mindestwert des § 1 Abs 4 EinstV unterschreitenden Teilverrichtungen – nur Hilfsleistungen bei der selbstständigen Verrichtung der Notdurft iSd § 1 Abs 3 EinstV anfallen, ist somit nicht zu beanstanden.

7. Der Oberste Gerichtshof ist nicht Tatsacheninstanz, sodass er nicht überprüfen kann, ob sich die vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist […].

Erläuterung

Im gegenständlichen Verfahren wurde der OGH erstmals mit der Frage befasst, ob der in § 1 Abs 4 EinstV festgelegte Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft auch dann heranzuziehen ist, wenn ein Betreuungsbedarf für die Verrichtung der großen Notdurft besteht und zusätzlich ein solcher für die Entleerung einer Harnflasche.

Die Besonderheit des gegenständlichen Falles liegt darin, dass der Kl zwar Hilfestellung bei der Verrichtung der großen Notdurft ein- bis zweimal täglich benötigt. Wenn der Kl im Bett liegt, ist er jedoch selbständig in der Lage, in eine neben seinem Bett befindliche Harnflasche, die er selbst ergreifen kann, zu urinieren. Diese Harnflasche muss über 24 Stunden 6- bis 7-mal vom Pflegepersonal entleert und gereinigt werden, damit es zu keiner Verunreinigung der Bettwäsche kommt.

Der OGH stellt zunächst klar, dass die EinstV zum BPGG zwei unterschiedliche Betreuungsleistungen vorsieht: die Verrichtung der Notdurft nach § 1 Abs 4 EinstV und die Entleerung und Reinigung des Leibstuhls nach § 1 Abs 3 EinstV.

Für die „Verrichtung der Notdurft“ ist ein Mindestwert von 4x15 Minuten pro Tag, daher 30 Stunden pro Monat vorgesehen. Dieser Mindestwert umfasst neben den notwendigen Handgriffen bei diesem Hygienevorgang, dem Richten der Kleidung vor und nach der Benutzung der Toilette (Leibstuhl, Leibschüssel), der Intimhygiene wie das Säubern nach dem Wasserlassen und dem Stuhlgang, dem Waschen der Hände, auch das Reinigen der Toilette bzw Entleeren des Leibstuhl oder der Leibschüssel (OGH 21.12.2010, 10 ObS 152/10s). Bei erheblichem Unterschreiten dieses Mindestwerts kann die Anerkennung des pauschalierten Mindestwerts nicht mehr in Betracht kommen, sondern wird vielmehr der tatsächliche Zeitaufwand veranschlagt (RS0109875). Beispielsweise ist von einem Pflegebedarf von 10 Minuten pro Tag (5 Stunden pro Monat) auszugehen, wenn der Betroffene nur zu jedem Gang auf das WC erinnert und anschließend kontrolliert werden muss, ob er die Notdurft tatsächlich verrichtet hat (OGH 22.5.2001, 10 ObS 106/01p).

Die „Entleerung und Reinigung des Leibstuhls“ stellt eine eigene Betreuungsleistung dar, die in § 1 Abs 3 EinstV geregelt ist. Für diese Verrichtung ist ein Richtwert von 4x5 Minuten pro Tag, daher 10 Stunden im Monat, festgelegt. Voraussetzung ist, dass die pflegebedürftige Person die Notdurft unter Zuhilfenahme des Leibstuhls (der Harnflasche) selbständig verrichten kann. Ansonsten ist der Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft nach § 1 Abs 4 EinstV von 30 Stunden pro Monat anzusetzen. In diesem Fall erfolgt jedoch keine zusätzliche Berücksichtigung des Richtwerts für die Entleerung und Reinigung des Leibstuhls oder einer Harnflasche (OGH 17.12.2012, 10 ObS 161/12t).

Der OGH gelangt zu dem Schluss, dass das Reinigen und Leeren der Harnflasche dann nicht unter § 1 Abs 4 EinstV fällt und daher zusätzlich gem § 1 Abs 3 EinstV zu berücksichtigen ist, wenn die Notdurft selbständig verrichtet werden kann. Gegenständlich ist somit für die Verrichtung der großen Notdurft der tatsächliche Pflegebedarf im Ausmaß von 2,5 Stunden pro Monat anzusetzen und für die Reinigung der Harnflasche 15 Stunden pro Monat. Ob der Kl die kleine Notdurft außerhalb des Betts verrichten kann und welcher Pflegebedarf hierfür anzusetzen ist, wird im fortgesetzten Verfahren zu klären sein. 377