158Alkoholbedingtes Fernbleiben vom Vorstellungstermin – Anspruchsverlust nach § 10 AlVG nur bei subjektiver Vorwerfbarkeit
Alkoholbedingtes Fernbleiben vom Vorstellungstermin – Anspruchsverlust nach § 10 AlVG nur bei subjektiver Vorwerfbarkeit
Der Revisionswerberin war seitens des Arbeitsmarktservice (AMS) ein Vermittlungsvorschlag als Service-Center-Mitarbeiterin übermittelt worden. Die Bewerbung hätte im Rahmen der persönlichen Teilnahme an einer am 5.6.2024 stattfindenden Vorauswahl stattfinden sollen, an der die Revisionswerberin allerdings nicht teilnahm. Das AMS sprach daraufhin mit Bescheid vom 26.6.2024 aus, dass die Revisionswerberin gem § 38 iVm § 10 AlVG für den Zeitraum von 42 Tagen ab 6.6.2024 ihren Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe, weil sie das Zustandekommen einer vom AMS zugewiesenen Beschäftigung vereitelt habe.
In der dagegen eingebrachten Beschwerde brachte die Revisionswerberin vor, dass sie an Alkoholsucht leide und am Tag des Vorauswahlverfahrens sowie in den darauffolgenden Tagen nicht in der Lage gewesen sei, sich zu melden oder bei der Vorauswahl zu erscheinen. Das AMS wies die Beschwerde als unbegründet ab. Die von der Revisionswerberin angegebene „Alkoholproblematik“ sei bekannt. Eine Krankmeldung liege aber für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum nicht vor. Auch habe sie dem AMS nach Kenntnisnahme des Vermittlungsvorschlages nicht bekanntgegeben, dass ihr auf Grund ihrer Suchterkrankung eine Teilnahme am Tag der Vorauswahl nicht möglich sei. Der Revisionswerberin hätte bewusst sein müssen, welche Auswirkungen die vermehrte Alkoholeinnahme auf sie habe und sie hätte Vorkehrungen treffe müssen, um den Termin einzuhalten.
Die Revisionswerberin stellte einen Vorlageantrag, beantragte eine mündliche Verhandlung und führte in einem ergänzenden Schriftsatz aus, dass sie nicht vorab habe bekanntgeben können, ob ihr eine Teilnahme am Tag des Vorauswahlverfahrens möglich sei, weil bei ihr „psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“, nämlich Abhängigkeits- und Entzugssyndrom, Zyklothymia und episodisch paroxysmale Angst, diagnostiziert worden sei. Es könne ihr kein vorsätzliches Handeln vorgeworfen werden, da sie ihre Erkrankung nicht nach Belieben steuern oder planen könne.
Das BVwG wies die Beschwerde ohne mündliche Verhandlung ab. Es werde nicht verkannt, dass es sich bei Alkoholabhängigkeit um eine Erkrankung handle, dennoch könne der Umstand, dass die Revisionswerberin Alkoholikerin sei, sie nicht davon befreien, Anstrengungen zur Beendigung der Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Aus Entscheidung des VwGH vom 29.3.2000, 99/08/0159, ergebe sich, dass sich eine alkoholkranke Person während eines Dienstverhältnisses vom Alkohol fernzuhalten habe; dies müsse auch für das Bewerbungsverfahren gelten. Zudem erkläre sich die Revisionswerberin trotz ihrer Alkoholkrankheit für arbeitsfähig und beziehe seit Jahren Notstandshilfe. Eine generelle Termin- und Arbeitsunfähigkeit habe sie nicht vorgebracht, weshalb sie verpflichtet gewesen sei, zur Vorauswahl zu erscheinen.
Der VwGH ließ gegen diese Entscheidung eingebrachte ao Revision zu und hob die Entscheidung des BVwG mit folgender Begründung auf:
Eine arbeitslose Person ist nach der Rsp des VwGH dann nicht verhalten, sich zu bewerben, wenn und solange sie infolge Krankheit arbeitsunfähig ist. Darunter ist zu verstehen, dass einer arbeitslosen Person auf Grund einer akuten Erkrankung – somit eines vorübergehenden, die Arbeitsfähigkeit iSd § 8 Abs 1 AlVG nicht ausschließenden Leidenszustandes – eine Bewerbung (aktuell) nicht möglich bzw nicht zumutbar ist. Trotz Fehlens einer Erkrankung, die bei objektiver Betrachtung die Teilnahme an einem Vorstellungsgespräch unmöglich oder unzumutbar macht, kann ein (bedingt) vorsätzliches Handeln allerdings auch dann nicht angenommen werden, wenn die vermittelte Person darlegt, dass sie sich aus nachvollziehbaren Gründen für nicht in der Lage erachtet hat, auf Grund einer (akuten) Erkrankung zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen.
Hinsichtlich der im Revisionsfall strittigen Frage, ob das Nichterscheinen der Revisionswerberin zur Vorauswahl für die zugewiesene Stelle als qualifiziertes Verschulden in Form von (zumindest bedingtem) Vorsatz und damit als Vereitelung iSd § 10 Abs 1 Z 1 AlVG 368 zu werten ist, verweist der VwGH darauf, dass die Revisionswerberin schon in ihrer Beschwerde auf ihre Alkoholkrankheit hingewiesen und dies im ergänzenden Schriftsatz dahingehend präzisiert hat, dass sie die bei ihr diagnostizierten Verhaltensstörungen durch Alkohol nicht „regulieren, planen oder steuern“ könne. Darauf ist das BVwG nicht näher eingegangen. Abgesehen von der Feststellung, dass die Revisionswerberin „alkoholabhängig“ sei und auf Grund von „Alkoholkonsum“ nicht in der Lage gewesen sei, zum Vorauswahltermin zu erscheinen, hat es keinerlei Feststellungen zur Krankheitsgeschichte der Revisionswerberin, ihrer körperlichen und psychischen Verfassung am Tag des Vorauswahltermins oder den konkreten Gründen ihres Nichterscheinens, getroffen. Derartige Feststellungen waren jedoch zur Beurteilung der Frage, ob der Revisionswerberin zumindest bedingter Vorsatz vorzuwerfen sei, mit Blick auf ihr Vorbringen zur Unbeherrschbarkeit ihrer Alkoholabhängigkeit erforderlich.
Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall auch maßgeblich vom zitierten VwGH-Erkenntnis 99/08/0159 vom 29.3.2000, in dem das Vorbringen, das „Alkoholproblem“ sei als eine „nicht beherrschbare Sucht, als Krankheit“ einzustufen, dem Neuerungsverbot unterlag. Dass sich eine alkoholkranke Person während eines Dienstverhältnisses – und somit auch während eines Bewerbungsverfahrens – vom Alkohol fernzuhalten habe, trifft zwar zu, beantwortet aber nicht die Frage, ob der Revisionswerberin das Nichterscheinen zum Vorauswahltermin iSe bedingten Vorsatzes subjektiv vorwerfbar war.
Das BVwG hätte sich daher mit dem Vorbringen der Revisionswerberin zur fehlenden Vorsätzlichkeit ihres Handelns auseinandersetzen und insb auch nachvollziehbar begründen müssen, weshalb der Revisionswerberin nicht nur – sei es auch grobe – Fahrlässigkeit, sondern zumindest bedingter Vorsatz in Bezug auf das Nichtzustandekommen der Beschäftigung vorzuwerfen sei. Eine solche Annahme hätte das BVwG nicht ohne mündliche Verhandlung treffen dürfen. Die Revisionswerberin hat die Auswirkungen ihrer Alkoholabhängigkeit in der Beschwerde und im ergänzenden Schriftsatz zum Vorlageantrag so konkret geltend gemacht, dass das BVwG nicht mit dem Hinweis, es seien keine noch zu klärenden Tatsachenfragen in konkreter und substantiierter Weise aufgeworfen worden, darüber hinwegsehen hätte dürfen. Vielmehr hätte es weitere Erhebungen durchführen müssen bzw sich in der mündlichen Verhandlung selbst ein Bild von der Revisionswerberin machen und sie zu ihrer Alkoholabhängigkeit näher befragen müssen.
Dass die Revisionswerberin laut ihrem eigenen Vorbringen außerhalb ihrer im Vorfeld nicht planbaren und nicht vorhersehbaren Suchtperioden iSd § 8 AlVG arbeitsfähig und arbeitswillig ist, kann die erforderliche Auseinandersetzung mit der Frage des qualifizierten Verschuldens schon deshalb nicht ersetzen, weil nach der Rsp des VwGH ein vorübergehender, die Arbeitsfähigkeit iSd § 8 Abs 1 AlVG nicht ausschließender Leidenszustand auch für die im Rahmen des § 10 Abs 1 AlVG vorzunehmende Prüfung, ob der arbeitslosen Person ein (bedingt) vorsätzliches Handeln überhaupt vorgeworfen werden kann, von Relevanz sein und einen solchen Vorsatz ausschließen kann. Sollten jedoch Zweifel entstehen, ob die Revisionswerberin überhaupt arbeitsfähig iSd § 8 AlVG war, weil sie etwa generell nicht in der Lage war, eine geregelte Arbeitszeit einzuhalten, ein Vorstellungsgespräch zu führen und in den Arbeitsalltag einzusteigen, so wäre diese Frage von Amts wegen zu prüfen. Im Fall ihrer Verneinung käme ein Anspruchsverlust wegen des Nichterscheinens zur Vorauswahl von vornherein nicht in Betracht. Voraussetzung für ein Vorgehen gem § 10 AlVG ist nämlich, dass die arbeitslose Person überhaupt verfügbar nach § 7 AlVG – somit insb arbeitsfähig – ist. Eine Sanktion nach § 10 AlVG darf also vom AMS nicht verhängt werden, wenn (schon) die Verfügbarkeit nicht gegeben ist. Kommt das BVwG in einem Verfahren, dessen Sache ein Anspruchsverlust nach § 10 AlVG ist, zum Schluss, dass die Sanktion mangels Verfügbarkeit zu Unrecht verhängt wurde, muss es den bei ihm angefochtenen, den Anspruchsverlust nach § 10 AlVG aussprechenden Bescheid daher (schon aus diesem Grund) ersatzlos beheben. Es wäre aber in einem weiteren, vom AMS einzuleitenden Verfahren die Einstellung des Leistungsbezugs mangels Arbeitsfähigkeit zu prüfen.
Der VwGH hob das Erkenntnis des BVwG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.