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Kollektivvertragliche Rechtsetzungsbefugnis: Ausgeschiedene Arbeitnehmer:innen und Rückwirkung

THOMAS MATHY (INNSBRUCK)
  1. Die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG erstreckt sich auch auf rückwirkend wirksame Ansprüche aus zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des KollV noch aufrechten Arbeitsverhältnissen, unabhängig davon, ob diese zum Zeitpunkt des Abschlusses des KollV aufrecht sind oder nicht.

  2. Die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien gem § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG betrifft nur jene bereits entstandenen kollektivvertraglichen Ansprüche, die über das Ende des Dienstverhältnisses hinaus noch (weiterhin) aufrecht bestehen, wie zB Ruhegenussansprüche oder ähnliche Ansprüche.

  3. Die Kollektivvertragsparteien sind bei der Gestaltung des KollV im Rahmen einer „abgeschwächten Grundrechtsbindung“ an den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz gebunden.

[1] Die Kl war von 1.5.2021 bis 31.5.2022 bei der Bekl angestellt. Auf das Arbeitsverhältnis gelangte der KollV für die Angestellten bei Ärztinnen, Ärzten und Gruppenpraxen in Wien (im Folgenden: „Arzt- Ang-KollV“) zur Anwendung. Der am 21.7.2022 abgeschlossene Arzt-Ang-KollV trat rückwirkend mit 1.1.2022 in Kraft (Art I) und sieht in Art XIX Folgendes vor:

„IST-Gehaltserhöhung:

Sämtliche Gehälter sind mit 1.1.2022 um 4,3 % zu erhöhen und auf den nächsthöheren vollen € aufzurunden.“

[2] Eine Übergangs- bzw Einführungsregelung über die Anwendung dieser Ist-Gehaltserhöhung in Bezug auf zwar am 1.1.2022 aufrechte, aber vor dem 21.7.2022 beendete Dienstverhältnisse ist im KollV nicht enthalten.

[3] Die Kl begehrte von der Bekl 909,13 € brutto sA. Aufgrund der rückwirkend mit 1.1.2022 in Kraft getretenen Ist-Gehaltserhöhung laut dem Arzt-Ang-KollV seien sämtliche IST-Gehälter rückwirkend mit 1.1.2022 um 4,3 % erhöht worden, weshalb der Kl ausgehend von ihrem zuletzt maßgeblichen Ist-Gehalt der der Höhe nach unstrittige Klagsbetrag zustehe.

[4] Die Bekl wandte ein, die Ist-Gehaltserhöhung räume den AN rückwirkend mit 1.1.2022 einen neuen Anspruch ein, den sie vorher noch nicht gehabt hätten und der für bereits ausgeschiedene AN keine Rechtswirkung habe. Anders als beim kollektivvertraglichen Mindestgehalt werde das Ist- Gehalt zwischen AG und AN vereinbart und beruhe daher auf einer einzelvertraglichen Grundlage. Die Kollektivvertragsparteien hätten nur im Umfang der Änderung eines bereits bestehenden kollektivvertraglichen Anspruchs eine Regelungsbefugnis für bereits ausgeschiedene AN.

[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt und wies lediglich ein Zinsenmehrbegehren unbekämpft ab. Rechtlich ging es davon aus, dass der am 21.7.2022 vereinbarte KollV auf der Grundlage von § 2 Abs 2 Z 2, 3 ArbVG dazu befugt gewesen sei, auch mit Wirkung zu Gunsten der (per 31.5.2022 aus dem Dienstverhältnis zur Bekl ausgeschiedenen) Kl die verfahrensgegenständliche Ist-Gehaltserhöhung um 4,3 % anzuordnen. [...]

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. [...]

[7] Die ordentliche Revision erklärte das Berufungsgericht für zulässig, da zur Frage, ob eine rückwirkende Erhöhung des Ist-Gehalts durch Kollektivvertragsparteien auch für zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschiedene AN Gültigkeit habe, keine Rsp existiere und es zudem um die Auslegung von Kollektivvertragsbestimmungen gehe.

[8] Dagegen richtet sich die Revision der Bekl mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen iS einer Klagsabweisung, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Kl beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[10] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, allerdings nicht berechtigt.

[11] Die Revision bestreitet weder, dass die Anordnung der Rückwirkung der Wirksamkeit von Kollektivverträgen grundsätzlich zulässig ist (vgl RS0075311 [T2]), noch, dass (schlichte) Ist- Lohnklauseln (wie im hier vorliegenden Fall) in Kollektivverträgen zulässig sind (RS0053047). Sie wendet sich lediglich gegen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass eine rückwirkende Ist-Gehaltserhöhung nach § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG auch für zum Zeitpunkt des Abschlusses des KollV nicht mehr in einem Dienstverhältnis stehende AN anzuwenden sei. Es handle sich nicht um Ansprüche, für die eine Regelungsbefugnis der kollektivvertragsfähigen Körperschaften bestehe. Eine allfällige Ungleichbehandlung zwischen aktiven und ehemaligen DN sei zudem sachlich gerechtfertigt.

[12] 1. Tatsächlich ist für die Lösung der Rechtsfrage nicht auf § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG abzustellen:

[13] 1.1. Gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG können durch Kollektivverträge die gegenseitigen aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten der AG und der AN geregelt werden. Die Rsp versteht § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG als Generalklausel, nach der der typische, wesentliche oder regelmäßig wiederkehrende Inhalt eines Arbeitsverhältnisses einer kollektivvertraglichen Regelung unterworfen werden kann, insb auch Regelungen über Entgelt und Arbeitszeit (8 ObA 77/18h; RS0050949 [T6]).

[14] 1.2. Wie der OGH zur vergleichbaren Rechtslage nach § 9 Abs 2 KollVG, BGBl [Nr] 76/1947 , der durch die in Worten gleichlautende Bestimmung des § 11 Abs 2 ArbVG, BGBl [Nr] 22/1974 ersetzt wurde (siehe auch ErläutRV 840 BlgNR XIII. GP, 60), ausführte, erfasst ein rückwirkend in Kraft gesetzter KollV auch jene Dienstverträge, die zwar am Tag der Kundmachung schon aufgelöst 470 waren, aber am Tag des Wirksamkeitsbeginns noch bestanden haben (4 Ob 64/56 = Arb 6477; 4 Ob 51/56 = Arb 6481, vgl RS0064938; 4 Ob 28/61 mwN aus der damaligen Rsp = SZ 34/69 = Arb 7396 = RS0065002; Resch in Jabornegg/Resch, ArbVG § 11 Rz 14 [Stand 1.4.2019, rdb.at]; Lindmayr, Handbuch der Arbeitsverfassung8 Rz 70; aA ohne nähere Begründung Pfeil in Gahleitner/Mosler, ArbVG6 § 11 Rz 13). In der E 4 Ob 28/61 führte der OGH begründend ua aus: „Der zeitliche Geltungsbereich des Kollektivvertrags, nicht aber der Zeitpunkt des Abschlusses des Kollektivvertrags entscheidet darüber, auf welche einzelnen Dienstverträge des kollektivvertragsangehörigen DG mit seinen DN sich der Inhalt des Kollektivvertrags bezieht.“ Die Regelungsbefugnis für rückwirkend wirksame Ansprüche aus zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des KollV noch aufrechten Arbeitsverhältnissen, unabhängig davon, ob diese zum Abschlusszeitpunkt noch aufrecht sind oder nicht, ergibt sich somit aus § 11 Abs 2 ArbVG.

1.3. § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG ist für den hier vorliegenden Sachverhalt nicht einschlägig:

[15] Die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien ist bezüglich ausgeschiedener AN durch § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG begrenzt (RS0050917). Die in § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG genannten Rechtsansprüche müssen, damit die Regelungsmacht des § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG gegeben ist, auf KollV beruhen (RS0050917 [T2]). Die ErläutRV führen dazu aus, dass sich nach der bis vor Einführung des § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG, BGBl [Nr] 22/1974, geltenden Rechtslage die kollektivvertragliche Regelung von Ruhegenüssen oder ähnlichen Ansprüchen nach Ausscheiden der AN aus dem Arbeitsverhältnis problematisch erwiesen habe, es ergäben sich Bedenken bezüglich der Regelung erworbener Rechtsansprüche von Personen, die keine AN mehr seien. Der Entwurf folge in seiner Konzeption dem durch die Rsp bereits anerkannten Grundsatz, dass dem KollV die prinzipielle Regelungsbefugnis bezüglich der Ruhegenussansprüche oder ähnlicher Ansprüche von AN nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zukomme, diese solle aber nicht mehr per analogiam gewonnen werden müssen, sei aber formell (die frühere Regelung müsse durch KollV erfolgt sein) und materiell (auf Inhaltsnormen) beschränkt (ErläutRV 840 BlgNR XIII. GP, 55 f).

[16] § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG sieht somit eine Regelungsbefugnis durch die Kollektivvertragsparteien für ausgeschiedene AN (nur) für jene bereits entstandenen kollektivvertraglichen Ansprüche vor, die über das Ende des Dienstverhältnisses hinaus noch (weiterhin) aufrecht bestehen, wie zB Ruhegenussansprüche oder ähnliche Ansprüche. Um solche Ansprüche geht es jedoch im vorliegenden Fall nicht.

[17] 1.4. Auch die Entscheidung des OGH zu 9 ObA 79/09x bestätigte die kollektivvertragliche rückwirkende Änderung der Gehälter auch für bereits ausgeschiedene AN, wenn sich diese zum Zeitpunkt, zu dem der KollV die Rückwirkung der Lohnerhöhungen angeordnet hatte, noch in einem aufrechten Dienstverhältnis zur Bekl befunden hatten. [...]

[18] 1.5. Dass die Kollektivvertragsparteien nicht nur die Mindestgehälter regeln, sondern auch Ist- Lohnerhöhungen vereinbaren dürfen, bestreitet die Revision nicht. Wieso es sich bei Ist-Löhnen somit nicht um einen von § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG umfassten Regelungstatbestand handeln soll, vermag die Revision nicht nachvollziehbar darzulegen.

[19] 2. Die Revision bestreitet weiters nicht, dass die Kollektivvertragsparteien bei der Gestaltung des KollV im Rahmen einer „abgeschwächten Grundrechtsbindung“ an den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz gebunden sind (RS0018063 [T3]). Sie schafft es allerdings nicht, eine sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen aktiven und ehemaligen AN darzulegen. Es ist zwar richtig, dass bei aktiven AN eine Ist-Lohnerhöhung durch eine einzelvertragliche Vereinbarung allenfalls auch erst nach dem Inkrafttreten des KollV durch Einzelvertrag beseitigt werden kann, allerdings können AG und AN auch bereits bei Festsetzung eines überkollektivvertraglichen Gehalts vereinbaren, dass damit (überschaubare) Ist-Lohnerhöhungen bereits vorweggenommen sind, solange nicht dadurch kollektivvertragliche Mindestsätze unterschritten werden (RS0034064). Nachdem auch der Zeitraum, für den rückwirkend eine Gehaltserhöhung zu leisten ist, so wie auch im konkreten Fall regelmäßig überschaubar ist, werden selbst, wenn eine derartige Einzelvereinbarung nicht bereits während des aufrechten Dienstverhältnisses getroffen wurde, die Interessen des DG im Verhältnis zu den Interessen der ausgeschiedenen DN nicht ungebührlich beeinträchtigt. Wieso ein aus dem Dienstverhältnis ausgeschiedener DN für den Zeitraum, in dem ihm bei noch aufrechtem Dienstverhältnis eine Ist-Lohnerhöhung nachträglich gebühren würde, anders behandelt werden soll als ein aktiver DN, führt die Revision nicht aus. [...]

ANMERKUNG
1.

Die vorliegende E befasst sich mit einer rückwirkend in Kraft gesetzten (schlichten) Ist-Lohn-Klausel. Strittig war, ob diese auf eine AN Anwendung findet, deren Arbeitsverhältnis zwar im Zeitpunkt des Abschlusses des KollV bereits beendet, aber zum Zeitpunkt des (rückwirkend angeordneten) Wirksamkeitsbeginns des KollV noch aufrecht war.

Die Bekl argumentierte, dass den Kollektivvertragsparteien nur iRd § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG Regelungsmacht hinsichtlich bereits ausgeschiedener AN zukomme: Eine schlichte Ist-Lohn-Klausel ändere jedoch keinen kollektivvertraglichen Anspruch (iSd § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG), sondern einen überkollektivvertraglichen (maW: im Arbeitsvertrag vereinbarten) Anspruch. Im Ergebnis könne die schlichte Ist- Lohn-Klausel für bereits ausgeschiedene AN daher weder auf Z 2 noch auf Z 3 des § 2 Abs 2 ArbVG gestützt werden. Der OGH folgt dieser Argumentation jedoch nicht und begründet seine gegenteilige Auffassung mit der Judikatur unter Geltung des 471 KollVG 1947 (BGBl 1947/76) sowie der Entstehungsgeschichte des § 2 Abs 2 ArbVG.

Die E überzeugt sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung. Im Folgenden sollen die Ausführungen des OGH nicht nur in einen breiteren Kontext gestellt werden, sondern mit der Rückwirkung des KollV und der Grundrechtsbindung der Kollektivvertragsparteien auch zwei Themen aufgegriffen werden, die der OGH nur am Rande erwähnt, aber vor dem Hintergrund der jüngeren Judikatur des BVerfG wieder an Brisanz gewinnen dürften.

2.
Regelungsbefugnis für ausgeschiedene AN
2.1.
Allgemeines

Der zulässige Inhalt des KollV wird durch § 2 Abs 2 ArbVG umschrieben. Eine explizite Bezugnahme auf ausgeschiedene AN erfolgt dabei nur in § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG. Dennoch entspricht es gesicherter Auffassung, dass die Kollektivvertragsparteien für ausgeschiedene AN auch iRd § 2 Abs 2 Z 4 ArbVG („Sozialpläne“) sowie iRd § 2 Abs 2 Z 6 ArbVG („gemeinsame Einrichtungen der KollVParteien“) Regelungen mit normativer Wirkung treffen können (Strasser in Floretta/Strasser [Hrsg], ArbVG-HK [1975] 29 f; Strasser in Jabornegg/Resch/Kammler [Hrsg], ArbVG [LoseBl 1. Lfg 2002] § 2 Rz 45 und Rz 49; Runggaldier in Brameshuber/Tomandl [Hrsg], ArbVG [LoseBl 1. Lfg 2005] § 2 Rz 24 und Rz 27; Mosler/Felten in Gahleitner/Mosler [Hrsg], Arbeitsverfassungsrecht § 2 Rz 63 und Rz 69 [arbvg.oegbverlag.at, Stand 1.7.2023]; Kietaibl, Arbeitsrecht I12 [2023] 215 f). Aus dem Umstand, dass einer der Regelungstatbestände des § 2 Abs 2 ArbVG nicht ausdrücklich auch auf ausgeschiedene AN Bezug nimmt, lässt sich daher noch nicht schließen, dass dieser eine Regelung der Rechtsbeziehung zwischen AG und ausgeschiedenem AN nicht zulässt. Der vom OGH auch in der vorliegenden E wiedergegebene Rechtssatz, dass „[d]ie Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien [...] bezüglich ausgeschiedener Arbeitnehmer durch § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG begrenzt [ist]“ (RISJustiz RS0050917), erweist sich damit zumindest als missverständlich.

2.2.
Änderung kollektivvertraglicher Ansprüche gem § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG

Mit § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG erhalten die Kollektivvertragsparteien die Befugnis, kollektivvertragliche Rechtsansprüche (gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG) der aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedenen AN zu ändern. Mit dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber gewährleisten, dass die Kollektivvertragsparteien zur „Regelung von Ruhegenüssen oder ähnlichen Ansprüchen“ auch „zwischen ehemaligen Arbeitgebern und ihren inzwischen ausgeschiedenen Arbeitnehmern und den anspruchsberechtigten Hinterbliebenen“ berechtigt sind (RV 840 BlgNR 13. GP 55).

Die Genese des § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG verdeutlicht, welche Rechtsetzungsbefugnis der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung gewährleisten wollte: Der zweite Teilentwurf zur Kodifikation des österreichischen Arbeitsrechtes sollte die Kollektivvertragsparteien dazu ermächtigen, „die Begründung des Arbeitsverhältnisses sowie die aus dem Arbeitsverhältnis oder dessen Nachwirkung entspringenden gegenseitigen Rechte und Pflichten“ zu regeln (§ 82 Abs 2 lit a II. TE, DRdA 1963, 112). Neben den Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis sollten sowohl das vorvertragliche Schuldverhältnis (zB Formvorschriften für das Zustandekommen von Arbeitsverhältnissen) als auch das nachvertragliche Schuldverhältnis (zB Regelung des Ruhestandsverhältnisses) durch die Kollektivvertragsparteien umfassend geregelt werden können (vgl DRdA 1963, 146). Im Gegensatz dazu sah der Ministerialentwurf zum ArbVG zwar grundsätzlich keine Befugnis zur Schaffung von Abschlussnormen vor, beinhaltete aber weiterhin eine weitreichende Regelungsbefugnis für das nachvertragliche Schuldverhältnis (§ 5 Abs 2 Z 3 ME: „die Rechtsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedener Arbeitnehmer“). Seine bis heute maßgebliche Fassung erhielt § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG schließlich durch die RV, die die im ME vorgesehenen Formulierung um zwei Einschränkungen ergänzte: Nicht nur, dass es sich um bestehende kollektivvertragliche Ansprüche gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG handeln muss, vielmehr dürfen diese auch bloß geändert und nicht neu begründet werden.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Regelungsgegenstand des § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG die Änderung des – nach Beendigung des Arbeitsvertrages bestehenden – nachvertraglichen Schuldverhältnisses ist (zB Änderung kollektivvertraglicher Bestimmungen betreffend Betriebspensionen, Konkurrenzklauseln [Reissner in Auer-Mayer/Burgstaller/Preyer [Hrsg], AngG [LoseBl 45. Lfg 2023] § 36 Rz 32; Kohlegger in Reissner [Hrsg], AngG4 [2022] § 36 Rz 19; aA Resch in Löschnigg/Melzer [Hrsg], AngG II11 [2021] § 36 Rz 13] oder Diensterfindungen [vgl § 16 PatG]). Zu Recht führt der OGH daher aus, dass die streitgegenständliche Ist-Lohn-Klausel nicht § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG unterliegt (vgl Rz 16). Als eine die Hauptleistungspflicht des aufrechten Arbeitsverhältnisses regelnde Bestimmung beurteilt sich deren Zulässigkeit nach § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG.

2.3.
Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG

Anknüpfend an den Wortlaut des § 11 Abs 2 EAG 1919 (StGBl 1920/16) sowie des KollVG 1947 ( BGBl 1947/76 ) stellt der Tatbestand des § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG auf „die gegenseitigen aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten der AN und der AG“ ab. Solange das Arbeitsverhältnis aufrecht ist, können die Kollektivvertragsparteien daher nicht nur dessen Inhalt festlegen, sondern auch Regelungen für die Zeit nach Erlöschen des Arbeitsvertrages treffen (vgl RV 840 BlgNR 13. GP 55; Grillberger, Drittbegünstigte bei Pensionsvereinbarungen, DRdA 1973, 12). Bei rückwirkenden Kollektivvertragsbestimmungen zieht dies freilich die Notwendigkeit der Abgrenzung nach sich: Die zentrale Frage ist, zu welchem Zeitpunkt ein aufrechtes Arbeitsverhältnis gegeben sein muss: bei 472 Abschluss, bei Kundmachung oder während des zeitlichen Geltungsbereichs des KollV?

Während die Judikatur zunächst die Auffassung vertrat, dass dem KollV keinerlei Regelungsmacht in Bezug auf ausgeschiedene AN zukomme (GG St. Pölten Cr 189/25 Arb 3505; LGZ Wien 44 Cg 49/37 Arb 4778), nahm sie bereits unter Geltung des KollVG 1947 den gegenteiligen Standpunkt ein: Vor Abschluss des KollV ausgeschiedene AN können Ansprüche aus diesem ableiten, wenn der KollV seine Rückwirkung anordnet (OGH 4 Ob 28/61 Arb 7396); Gleiches gilt, wenn der KollV einen Anspruch von der Erfüllung einer bestimmten Mindestbeschäftigungsdauer zu einem gewissen Stichtag abhängig macht, an dem der AN noch im aufrechten Arbeitsverhältnis stand (OGH 4 Ob 51/56 Arb 6481; OGH 4 Ob 64/56 Arb 6477). Das ist insofern bemerkenswert, als § 9 Abs 2 KollVG 1947 vorsah, dass die Bestimmungen des KollV „als Bestandteil der Dienstverträge“ gelten (ausführlich zu der daraus abgeleiteten Fiktionstheorie Mair, Die Außenseiterwirkung des Kollektivvertrags: Der Kollektivvertrag als der „richtige“ Vertrag? [2020] 130 f; zum damaligen Streitstand Strasser, Kollektivvertrag und Verfassung [1968] 10 ff). Im Schrifttum wurde daraus vereinzelt geschlussfolgert, dass „der Dienstvertrag [...] das notwendige Medium [bildet], um die kollektivvertragliche Norm im Rahmen des individuellen Dienstverhältnisses zum Ausdruck zu bringen“ (Leitich, Kollektivvertragsangehörigkeit ohne Dienstverhältnis? JBl 1957, 312 [314]). Im Gegensatz dazu ging der OGH davon aus, dass bei einem rückwirkend zu einem bestimmten Stichtag wirksam werdenden KollV dessen Bestimmungen „Bestandteil jedes Dienstvertrages [wird], der an diesem Stichtag mit einem kollektivvertragsangehörigen Dienstgeber bestanden hat oder später abgeschlossen wurde“; maßgeblich sei daher ausschließlich der „zeitliche Geltungsbereich des Kollektivvertrages, nicht aber der Zeitpunkt des Abschlusses des Kollektivvertrages“ (OGH 4 Ob 28/61 Arb 7396).

Mit dieser Positionierung des OGH schien die Frage der Anwendung rückwirkender Kollektivvertragsbestimmungen auf im Zeitpunkt ihres Abschlusses bereits ausgeschiedene AN lange Zeit geklärt: Sowohl Strasser (in Floretta/Strasser [Hrsg], ArbVG-HK 94) als auch Resch (in Jabornegg/Resch/Kammler [Hrsg], ArbVG [LoseBl 54. Lfg 2019] § 11 Rz 14) verweisen ohne weitere Begründung lediglich auf die „neueren“ Entscheidungen des OGH zum KollVG 1947. Die von Pfeil (in Gahleitner/Mosler [Hrsg], Arbeitsverfassungsrecht § 11 Rz 13 aE [arbvg.oegbverlag.at, Stand 1.7.2023]) vertretenen Gegenpositionen, welche ein zum Zeitpunkt des Abschlusses des KollV aufrechtes Arbeitsverhältnis verlangt, wird zwar nicht näher begründet; diese Passage findet sich allerdings wortgleich schon bei Weißenberg/Cerny (Arbeitsverfassungsgesetz [1974] § 11 Erl 3) sowie bei Borkowetz (Kollektivvertragsgesetz3 [1971] § 9 Erl 8), wobei sie bei letzterem mit der Judikatur zum EAG 1919 belegt wird.

Die Entwicklung vom KollVG 1947 zum ArbVG untermauert die Auffassung, dass die Formulierung des § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG zwar ein Arbeitsverhältnis voraussetzt, dass dieses im Zeitpunkt des Abschlusses des KollV aber nicht mehr zwangsläufig aufrecht sein muss. Anders als das KollVG 1947 sieht das ArbVG nicht mehr vor, dass der einwirkungsfähige Teil des KollV als Bestandteil des Arbeitsvertrages gilt. Die Bestimmungen des normativen Teils des KollV sind vielmehr unmittelbar rechtsverbindlich (§ 11 Abs 1 ArbVG). Dementsprechend erweist sich die Ansicht als überholt, dass ein Arbeitsverhältnis ein notwendiges Medium sei, damit die (einwirkungsfähigen) Bestimmungen des KollV Wirkung entfalten können.

Anderes lässt sich auch aus §§ 8, 12 ArbVG nicht ableiten, die den Kreis der Personen festlegen, die der Normwirkung des KollV unterliegen. Vordergründig knüpfen beide Bestimmungen an die Stellung als AN an, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des KollV gegeben bzw später erlangt werden muss (vgl § 8 Z 1 ArbVG: „[...] Arbeitnehmer, die zur Zeit des Abschlusses des Kollektivvertrages Mitglieder der am Kollektivvertrag beteiligten Parteien waren oder später werden“; § 12 Abs 1 ArbVG: „[...] Arbeitnehmer eines kollektivvertragsangehörigen Arbeitgebers [...]“). Ein solches Verständnis greift aber offensichtlich zu kurz: Ausgeschiedene AN wären dann nämlich weder nach § 8 ArbVG kollektivvertragsangehörig noch nach § 12 ArbVG kollektivvertragsunterworfen. Eine Auslegung der §§ 8, 12 ArbVG, die dazu führt, dass ausgeschiedene AN nicht zum Kreis der Personen zählen, für die der KollV Normwirkung entfaltet, kann jedoch nicht richtig sein: Der Gesetzgeber ermächtigt die Kollektivvertragsparteien durch § 2 Abs 2 Z 3 ArbVG explizit und durch § 2 Abs 2 Z 4 und Z 6 ArbVG implizit dazu, Regelungen mit Normwirkung für ausgeschiedene AN zu treffen. Vor diesem Hintergrund beschränkt sich der Begriff „Arbeitnehmer“ in §§ 8, 12 ArbVG nicht allein auf Personen, die in einem aufrechten Arbeitsverhältnis stehen, sondern umfasst auch mittlerweile ausgeschiedene AN.

3.
Rückwirkung und „abgeschwächte“ Grundrechtsbindung
3.1.
Rückwirkung des KollV: § 11 Abs 2 ArbVG vs § 5 ABGB?

Der OGH hält in der vorliegenden E auch daran fest, dass die Kollektivvertragsparteien grundsätzlich auch ein rückwirkendes Inkrafttreten ihrer Regelungen vorsehen können (vgl auch VfGH V 85, 86/92 DRdA 1996/2, 30 [Rebhahn]). Dies wurde von einem Teil des Schrifttums kritisiert: Zwar erlaube § 11 Abs 2 ArbVG den Kollektivvertragsparteien, Vorschriften über den Wirksamkeitsbeginn des KollV festzulegen. Dies ermögliche jedoch nur, einen späteren Wirksamkeitsbeginn vorzusehen. Der KollV sei nämlich nicht nur an das Rückwirkungsverbot des § 5 ABGB gebunden; vielmehr könne er als eine im Stufenbau der Arbeitsrechtsordnung unter dem Gesetz stehende Rechtsquelle – anders als ein Gesetz im formellen Sinn – auch nicht als lex specialis zu § 5 ABGB qualifiziert werden (Mayer-Maly, 473 Österreichisches Arbeitsrecht [1970] 195; vgl auch Marhold/Brameshuber/Friedrich, Österreichisches Arbeitsrecht4 [2021] 554). Dem kann nicht gefolgt werden: Zwar trifft es zu, dass der KollV grundsätzlich § 5 ABGB unterliegt. Als Gesetz iSd §§ 1-14 ABGB werden sämtliche generell-abstrakten Rechtsnormen verstanden (Kehrer in Fenyves/Kerschner/Vonkilch [Hrsg], ABGB3 [Klang] § 2 ABGB Rz 4). Allerdings enthält § 5 ABGB kein absolutes Rückwirkungsverbot (Pfeil in Gahleitner/Mosler [Hrsg], Arbeitsverfassungsrecht § 11 Rz 13 [arbvg.oegbverlag.at, Stand 1.7.2023]). Vielmehr leitet die hA aus dieser Bestimmung lediglich eine Auslegungsregel ab: Eine Rückwirkung ist bloß im Zweifel nicht anzunehmen (Kodek in Rummel/Lukas [Hrsg], ABGB4 § 5 Rz 12; Kozak in Kozak [Hrsg], ABGB und Arbeitsrecht [2019] § 5 Rz 2). Vor diesem Hintergrund lässt sich aus § 5 ABGB auch nur ableiten, dass der KollV als materielles Gesetz bloß im Zweifel nicht zurückwirkt. Im Kern ordnet auch § 11 Abs 2 ArbVG nichts anderes an: Mangels abweichender Regelung über seinen Wirksamkeitsbeginn entfaltet der KollV erst mit dem auf die Kundmachung im „Amtsblatt zur Wiener Zeitung“ – nunmehr: Kundmachung auf der elektronischen Verlautbarungs- und Informationsplattform des Bundes (vgl § 6 Abs 1 WZEVIGesetz) – folgenden Tag seine normative Wirkung. Selbst wenn man § 11 Abs 2 ArbVG – entgegen der hA – nicht ohnehin als lex specialis zu § 5 ABGB qualifiziert (vgl OGH 4 Ob 28/61 Arb 7396; Strasser/Jabornegg, Arbeitsrecht II4 [2001] 160), steht diese Bestimmung einer Rückwirkung des KollV daher nicht entgegen.

3.2.
Grundrechtsbindung des KollV

Als Schranke rückwirkender Kollektivvertragsbestimmungen kann damit allenfalls der aus dem Gleichheitssatz abgeleitete Vertrauensschutz fungieren. Obwohl es sich bei Grundrechten traditionell um staatsgerichtete (Abwehr-)Rechte handelt (zB Thienel, Soziale Grundrechte in Österreich? Zur Durchsetzung sozialer Garantien in Verfassungsrang, in ÖJK [Hrsg], Aktuelle Fragen des Grundrechtsschutzes [2005] 119 [122]), bekennt sich der OGH seit langem dazu, dass sich (normativ wirkende) kollektivvertragliche Regelungen an den Vorgaben des Gleichheitssatzes messen lassen müssen. Entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Auffassung, die eine unmittelbare Bindung des KollV an die Grundrechte fordert (Jabornegg, Grenzen kollektivvertraglicher Rechtssetzung und richterliche Kontrolle, JBl 1990, 205 [214 f]; Strasser/Jabornegg, Arbeitsrecht II4 155; Marhold/Brameshuber/Friedrich, Österreichisches Arbeitsrecht4 573; Kietaibl, Arbeitsrecht I12 219 f), geht der OGH von einer „bloß“ mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte aus (grundlegend OGH 9 ObA 602/92 DRdA 1993/45, 369 [Resch] = ZAS 1995/1, 12 [Schrammel]). Demnach erfahren die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln des Zivilrechtes (zB § 16, § 879 Abs 1, § 1295 Abs 2 ABGB) eine Konkretisierung durch die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen. Das führt regelmäßig zu einer „abgeschwächten

Grundrechtsbindung“ (Pernthaler, Die arbeitsrechtlichen Rechtsetzungsbefugnisse im Lichte des Verfassungsrechts, in FS Strasser [1983] 3 [11]), weil die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte eine Differenzierung der Schutzintensität je nach der konkreten Unterlegenheitssituation nicht nur erlaube, sondern vielmehr auch gebiete. Die Schutzintensität könne bei mittelbarer Drittwirkung der Grundrechte gegenüber Privaten nur „in extrem gelagerten Ausnahmsfällen“ die gleiche sein wie gegenüber dem Staat (OGH 9 ObA 602/92 DRdA 1993/45, 369 [Resch] = ZAS 1995/1, 12 [Schrammel]; vgl auch Schickmair, Grundrechtsgeltung in der Privatwirtschaftsverwaltung, JAS 2022, 343 [344 f]). Vor diesem Hintergrund leitet die Judikatur aus der Interessenwahrungspflicht der Kollektivvertragsparteien in stRsp eine abgeschwächte Grundrechtsbindung ab (OGH 8 ObA 20/99w DRdA 2000/22, 235 [Runggaldier] = ecolex 2000, 140 [Mazal] = Arb 11.889; OGH 8 ObA 30/00w DRdA 2001/40, 430 [Resch] = Arb 12.056; OGH 9 ObA 146/12d infas 2013 A 69; OGH 9 ObA 140/21k EvBl 2022/78, 615 [Hargassner]). Demgegenüber wird im Schrifttum verbreitet die Auffassung vertreten, dass zwischen der unmittelbaren Grundrechtsbindung des einfachen Gesetzgebers und der mittelbaren Grundrechtsbindung der Kollektivvertragsparteien letztlich kein Unterschied bestehe (Strasser/Jabornegg, Arbeitsrecht II4 155; Runggaldier in Brameshuber/Tomandl [Hrsg], ArbVG [Lose-Bl 1. Lfg 2005] § 2 Rz 35; Marhold/Brameshuber/Friedrich, Österreichisches Arbeitsrecht4 573 f). Dies dürfte wohl auch darauf zurückzuführen sein, dass sich der Judikatur – trotz des Bekenntnisses zur „abgeschwächten“ Grundrechtsbindung des KollV (RIS-Justiz RS0038765 [T9]) bzw zum weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Kollektivvertragsparteien (RIS-Justiz RS0038552 [T25]) – bislang nicht entnehmen lässt, wie sich die Grundrechtsbindung der Kollektivvertragsparteien von jener des einfachen Gesetzgebers unterscheidet (ausführlich Felten, Gestaltungsmacht der Kollektivvertragsparteien, DRdA 2025, 171 [174 f]).

Im Gegensatz dazu hat das BVerfG kürzlich klargestellt, welchen gleichheitsrechtlichen Maßstäben eine tarifvertragliche Regelung genügen muss: Sofern es sich um eine Regelung „im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ handle, bei der „spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen“ nicht erkennbar seien, habe eine bloße Willkürkontrolle stattzufinden (BVerfG 11.12.2024, 1 BvR 1109/21, 1 BvR 1422/23, Rz 163 f). In die gleiche Richtung deutet auch die Mindestlohn-RL 2022/2041/EU: Nicht nur, dass der Sekundärrechtsgeber für tarifvertragliche Mindestlöhne – anders als für gesetzliche Mindestlöhne (vgl Art 5 Mindestlohn-RL 2022/2041/EU) – keine Kriterien oder Referenzwerte festsetzt, die es zu berücksichtigen gilt. Vielmehr geht er davon aus, dass die tarifvertraglichen Mindestlöhne angemessen sind (ErwG 13 Mindestlohn-RL 2022/2041/EU).

Ein Ansatzpunkt zur Konkretisierung des Maßstabes, an welchem sich der KollV aufgrund der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte messen 474 lassen muss, könnte sich jedoch der Judikatur des VfGH zum Gleichheitssatz entnehmen lassen: Die Zuspitzung auf die Frage, wie sich die Grundrechtsbindung der Kollektivvertragsparteien von jener des einfachen Gesetzgebers unterscheidet, darf nämlich nicht den Blick darauf verstellen, dass der gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab kein einheitlicher ist. Dieser variiert vielmehr nach Maßgabe der jeweils geregelten Materie (ausführlich Pöschl in Merten/Papier [Hrsg], Handbuch der Grundrechte VII/12 [2014] § 14 Rz 48 f). Während sich der Gestaltungsspielraum etwa bei Personensteuern als gering erweist, ist dieser bei Objektsteuern beträchtlich (Khakzadeh in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Bundesverfassungsrecht [2021] Art 7 B-VG Rz 64). Einen bemerkenswert weiten Spielraum räumt der VfGH dem einfachen Gesetzgeber auch im öffentlichen Dienstrecht ein: Das Dienst-, Besoldungs- und Pensionsrecht muss nur „im Großen und Ganzen in einem angemessenen Verhältnis zu den Dienstpflichten“ stehen (VfGH B 650/85 VfSlg 11.193; zuletzt etwa VfGH G 219/2023 ua VfSlg 20.631). Zwar lässt sich diesen Erkenntnissen des VfGH nicht entnehmen, weshalb hier dem einfachen Gesetzgeber ein derart weiter Gestaltungsspielraum zukommt. Allerdings liegt der Gedanke nicht fern, dass die Begründung in den Spezifika des öffentlichen Dienstrechtes liegt: Der einfache Gesetzgeber beschränkt sich in diesem Bereich regelmäßig darauf, ein mit der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes erzieltes Verhandlungsergebnis umzusetzen (vgl zB RV 11 BlgNR 15. GP 73: zum BDG 1979; AA 186 BlgNR 27. GP 44: zur 2. Dienstrechts-Novelle 2021). Sofern es sich dabei tatsächlich um den tragenden Grund für das weite Ermessen des einfachen Gesetzgebers im öffentlichen Dienstrecht handelt, kann für das in den kollektivvertraglichen Regelungen zum Ausdruck kommende Verhandlungsergebnis der Sozialpartner kein anderer Maßstab gelten. Den normativen Ansatzpunkt für diesen weiten Gestaltungsspielraum bildet dann das Gebot des Art 120a Abs 2 B-VG, welches zur Achtung der Autonomie der Sozialpartner und zur Förderung des sozialpartnerschaftlichen Dialogs verpflichtet (vgl ausführlich Felten, DRdA 2025, 178 ff).

3.3.
Rückwirkung des KollV: Verfassungsrechtliche Grenzen

Der VfGH leitet aus dem Gleichheitssatz in mittlerweile stRsp Grenzen für die Rückwirkung von Gesetzen ab: Sofern ein berechtigtes Vertrauen in die Rechtslage besteht, beurteilt sich die Zulässigkeit der Rückwirkung anhand einer Abwägung zwischen dem Gewicht des Eingriffs in die jeweilige Rechtsposition und den Gründen für die Anordnung der Rückwirkung (grundlegend VfGH G 228/89 VfSlg 12.186). Vergleichbaren Anforderungen muss auch ein rückwirkender KollV genügen (Pfeil in Gahleitner/Mosler [Hrsg], Arbeitsverfassungsrecht § 11 Rz 14 [arbvg.oegbverlag.at, Stand 1.7.2023]; vgl zur Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf den Bestand kollektivvertraglicher Bestimmungen auch BAG 4 AZR 216/99 NZA 2000, 1297).

Im vorliegenden Fall lässt die angeordnete Rückwirkung keine Verletzung des aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten Vertrauensschutzes befürchten: Nicht nur, dass KollV für die Angestellten bei Ärztinnen, Ärzten und Gruppenpraxen in Wien – soweit ersichtlich – stets zum 1. Jänner in Kraft gesetzt wurden (vgl zB Arzt-Ang-KollV 2016, Arzt- Ang-KollV 2019), vielmehr muss in einem Jahr, welches mit 8,6 % (VPI) die höchste Inflationsrate seit mehreren Jahrzenten verzeichnet, auch mit einer rückwirkenden Lohnerhöhung gerechnet werden.