51Leistungsanspruch im sozialgerichtlichen Verfahren: Keine Bindung an § 366 Abs 2 ASVG
Leistungsanspruch im sozialgerichtlichen Verfahren: Keine Bindung an § 366 Abs 2 ASVG
Die Bestimmung des § 366 ASVG ist systematisch in den Siebenten Teil des ASVG („Verfahren“) eingeordnet, der sich an die Versicherungsträger und nicht an die Sozialgerichte richtet. Im sozialgerichtlichen Verfahren kommt demgemäß nicht § 366 ASVG, sondern § 359 ZPO zur Anwendung.
Die Frage, ob der Versicherte die Mitwirkung berechtigt verweigert bzw der Versicherungsträger sein Ermessen pflichtgemäß iSd § 366 ASVG ausgeübt hat, ist im sozialgerichtlichen Verfahren zwangsläufig als Vorfrage zu prüfen. (Nur) Insofern unterliegt das Vorgehen nach § 366 ASVG der Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz.
Ob Invalidität besteht, hängt nicht davon ab, ob im Verwaltungsverfahren § 366 Abs 2 ASVG richtig angewandt wurde oder nicht. Daher besteht der strittige Anspruch des Kl, ohne dass es auf die Frage der etwaigen Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren ankäme.
[...]
Der Revision wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich seiner bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile insgesamt lautet:
„1. Das Klagebegehren, die bekl Partei sei schuldig, der kl Partei ab 1.3.2022 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen, wird abgewiesen.
2. Bei der kl Partei liegt seit 1.3.2022 für voraussichtlich mindestens sechs Monate vorübergehende Invalidität vor. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sind nicht zweckmäßig. Die kl Partei hat Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation, wobei der weitere Verlauf der Therapie abzuwarten bleibt.
3. Die kl Partei hat ab 1.3.2022 für die weitere Dauer ihrer vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV im gesetzlichen Ausmaß.
[...]
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des Kl auf Invaliditätspension. Stichtag ist der 1.3.2022.
[2] Der 1970 geborene Kl hat die Ausbildung als Schlosser mit Lehrabschlussprüfung absolviert und war von März 1989 bis April 2022 als Metalltechniker in seinem Ausbildungsbetrieb beschäftigt. Er genießt unstrittig Berufsschutz als Metalltechniker.
[3] Der Kl hat aufgrund bestehender Leiden ein stark eingeschränktes Leistungskalkül und kann seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Facharbeiters in der Kfz-Industrie nicht mehr ausüben. Seine Gesundheitsbeeinträchtigungen schließen ihn für sämtliche im Berufsbild des Metalltechnikers möglichen Arbeitstätigkeiten aus; eine berufsschutzerhaltende Verweisbarkeit innerhalb seines Berufsfeldes ist nicht möglich. Dieses Krankheitsbild besteht bereits seit mehreren Jahren und lag zumindest auch im Zeitpunkt der von der Bekl angesetzten Untersuchungstermine (im April, Juli und August 2022) vor.
[3] Der Kl hat aufgrund bestehender Leiden ein stark eingeschränktes Leistungskalkül und kann seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines Facharbeiters in der Kfz-Industrie nicht mehr ausüben. Seine Gesundheitsbeeinträchtigungen schließen ihn für sämtliche im Berufsbild des Metalltechnikers möglichen Arbeitstätigkeiten aus; eine berufsschutzerhaltende Verweisbarkeit innerhalb seines Berufsfeldes ist nicht möglich. Dieses Krankheitsbild besteht bereits seit mehreren Jahren und lag zumindest auch im Zeitpunkt der von der Bekl angesetzten Untersuchungstermine (im April, Juli und August 2022) vor.
[4] Durch regelmäßige fachärztliche Kontrollen sowie bei Inanspruchnahme physio- und ergotherapeutischer oder sonstiger Reha-Maßnahmen in spezifizierten Einrichtungen ist von einer Besserung des Gesundheitszustands auszugehen. Es kann aber nicht vorausgesetzt werden, dass sich der derzeitige Gesundheitszustand im Laufe der nächsten sechs bis neun Monate verbessern wird.
[5] Am 22.2.2022 begehrte der Kl die Gewährung einer Invaliditätspension, wobei er seinem Antrag diverse medizinische Befunde und Berichte anschloss. Zur Ermittlung seines aktuellen Gesundheitszustands lud die Bekl den Kl zunächst zu einer Untersuchung am 11.4.2022 in ihr Kompetenzzentrum. 465 Der Kl sagte diesen Termin mit der Begründung ab, nicht transportfähig zu sein, und übermittelte der Bekl ein ärztliches Zeugnis eines Allgemeinmediziners über seine Transportunfähigkeit. Mit Schreiben vom 29.6.2022 lud die Bekl den Kl neuerlich zu einem Untersuchungstermin am 21.7.2022; ein Transport mit Begleitung wurde im Vorhinein bewilligt. Da der Kl diesem Termin unentschuldigt fernblieb, wurde er erneut unter Androhung von Säumnisfolgen (insb, dass die Entscheidung über den Pensionsantrag ohne die Untersuchung aufgrund der derzeit vorliegenden Unterlagen, die für eine Zuerkennung nicht ausreichten, getroffen werden müsste) für den 29.8.2022 geladen. Auch diesem Termin blieb der Kl unentschuldigt fern.
[6] Mit Bescheid vom 23.9.2022 wies die Bekl den Antrag auf Gewährung der Invaliditätspension unter Hinweis auf §§ 254 und 366 ASVG ab.
[7] Mit seiner Klage begehrt der Kl, ihm ab 1.3.2022 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß, in eventu medizinische Maßnahmen der Rehabilitation und Rehabilitationsgeld zu gewähren. Er genieße Berufsschutz und sei aufgrund seines körperlichen Zustands nicht mehr in der Lage, eine ihm zumutbare Tätigkeit auszuüben. Abgesehen davon, dass das Sozialgericht den von ihm geltend gemachten Anspruch selbständig zu beurteilen und nicht die Entscheidungsgrundlagen des bekämpften Bescheids zu prüfen habe, habe er seine Mitwirkungspflichten nicht schuldhaft verletzt. Die Bekl habe zudem das ihr nach § 366 ASVG eingeräumte Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt.
[8] Die Bekl hielt dem entgegen, dass es dem Kl ohne Beeinträchtigung seines Gesundheitszustands möglich gewesen wäre, einen Untersuchungstermin mittels des von ihr bewilligten Liegendtransports mit der Rettung wahrzunehmen. Obwohl ihm mitgeteilt worden sei, dass eine Untersuchung in ihrem Kompetenzzentrum unabdingbar und er auch über die möglichen Säumnisfolgen informiert worden sei, sei der Kl zu keinem Untersuchungstermin erschienen. Er habe daher seine Mitwirkungspflichten verletzt, sodass der geltend gemachte Anspruch frühestens ab 1.2.2023 (als dem der Untersuchung im gerichtlichen Verfahren folgenden Monatsersten) bestehe.
[9] Das Erstgericht wies das Hauptbegehren ab, gab jedoch dem Eventualbegehren insoweit statt, als es feststellte, dass beim Kl seit 1.2.2023 für zumindest sechs Monate vorübergehende Invalidität vorliege, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien und er ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sowie Rehabilitationsgeld habe. Das weitere Begehren, ihm schon ab dem Stichtag (1.3.2022) medizinische Rehabilitationsmaßnahmen zu gewähren und Rehabilitationsgeld zu bezahlen, wies es ab. Da der Kl im Leistungsverfahren seine Mitwirkungspflicht verletzt und sich erst am 17.1.2023 einer persönlichen Untersuchung beim gerichtlich bestellten Sachverständigen unterzogen habe, bestehe der Anspruch des Kl auf medizinische Rehabilitationsmaßnahmen und Rehabilitationsgeld erst ab dem „Stichtag“ 1.2.2023.
[10] In seiner dagegen erhobenen Berufung beantragte der Kl, das Urteil nur dahin abzuändern, dass festgestellt werde, dass er schon seit 1.3.2022 vorübergehend invalid sei und ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe.
[11] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil.
[...]
[12] Die Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.
[13] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Kl, mit der er begehrt, dem Eventualbegehren zur Gänze stattzugeben. Hilfsweise stellt er auch einen Aufhebungsantrag. [...]
[15] Die Revision ist zulässig, weil sich der OGH mit der Frage, wie weit die Kognitionsbefugnis der Gerichte reicht, wenn der Sachverhalt im vorangehenden Leistungsverfahren in Anwendung des § 366 Abs 2 ASVG festgestellt wurde, noch nicht befasst hat. Sie ist im Ergebnis auch berechtigt. 1. Voranzustellen ist zweierlei:
[16] 1.1. Der Kl beantragt in der Revision zwar grundsätzlich, „dem Klagebegehren zur Gänze“ stattzugeben. Aus dem konkreten Begehren, ihm auch für die Zeit von 1.3.2022 bis 31.1.2023 Rehabilitationsgeld zu zahlen, ergibt sich aber klar, dass er sich – so wie in der Berufung – nur gegen die Abweisung des Eventualbegehrens für diesen Zeitraum richtet. Im darüber hinausgehenden Umfang ist das Ersturteil schon in Rechtskraft erwachsen.
[17] 1.2. Zum anderen hat der OGH, wenn er – wie hier – aufgrund einer gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge in einem zulässigen Rechtsmittel überhaupt in der Rechtsfrage angerufen ist, die materiell-rechtliche Richtigkeit der angefochtenen E nach allen Richtungen hin zu prüfen (RS0043352 [insb T18]).
[18] 2. Im System der sukzessiven Kompetenz muss der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein (vgl RS0124349; 10 ObS 141/22s Rz 15 ua). Der Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens ist demnach zwar durch den Antrag, den Bescheid und das Klagebegehren dreifach eingegrenzt (RS0105139 [T1]; 10 ObS 194/21h Rz 14 ua). Innerhalb dieses Rahmens hat das Gericht den geltend gemachten Anspruch auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz aber selbständig und unabhängig zu beurteilen und nicht bloß den vom Versicherten bekämpften Bescheid auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen (RS0085839; RS0106394).
[19] 3. Darauf aufbauend sind die Vorinstanzen zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die Bekl mit dem bekämpften Bescheid vom 23.9.2022 über den Anspruch des Kl auf Gewährung der Invaliditätspension entschieden hat. Sie haben insoweit daher völlig zu Recht auch „darüber“ abgesprochen (vgl RS0085867). Wenn sie sich für den Zeitraum zwischen dem Stichtag (1.3.2022) und dem der Untersuchung im gerichtlichen Verfahren folgenden Monatsersten (1.2.2023) allerdings auf die Prüfung beschränken, ob die Bekl § 366 Abs 2 466 ASVG gesetzmäßig angewandt habe, ist ihnen nicht zu folgen.
[20] 4. Die Bestimmung des § 366 ASVG ist systematisch in den Siebenten Teil des ASVG („Verfahren“) eingeordnet, der sich an die Versicherungsträger und nicht an die Sozialgerichte richtet. Im sozialgerichtlichen Verfahren kommt demgemäß nicht § 366 ASVG, sondern § 359 ZPO zur Anwendung (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 8.144 zum vergleichbaren § 26 BPGG). Anderes ergibt sich auch aus der vom Berufungsgericht zitierten E 10 ObS 21/21t nicht. Im Gegenteil wurde auch dort betont, dass es sich bei § 366 ASVG um eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen (§§ 361 ff ASVG) handelt (Rz 20). § 366 ASVG war dort nur deshalb relevant, weil daraus die Anwendbarkeit des § 99 Abs 2 ASVG abgeleitet wurde (Rz 25).
[21] 4.1. Die Vorinstanzen gehen zwar zutreffend davon aus, dass § 366 (Abs 1) ASVG eine Nebenpflicht des Anspruchswerbers oder -berechtigten iS einer Duldungspflicht festlegt, deren Erfüllung nicht unmittelbar erzwungen werden, deren Verletzung aber Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen kann (10 ObS 21/21t Rz 22; RS0085511). Diese Auswirkungen sind jedoch im jeweiligen Kontext unterschiedlich:
[22] Während § 99 Abs 2 ASVG an die Verletzung der Pflicht nach § 366 Abs 1 ASVG eine materielle Sanktion in Form der temporären Beseitigung die Leistungspflicht des Versicherungsträgers knüpft (vgl RS0083960; Schramm in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 99 ASVG Rz 15; Schrammel in Tomandl, System, 2.1.5.2.3. [168] ua; weitergehender Auer-Mayer, Mitverantwortung 406 f mwN), berechtigt ihn § 366 Abs 2 ASVG nur, sich mit dem ohne die strittige Untersuchung festgestellten Sachverhalt zu begnügen, um sich in formaler Hinsicht nicht dem Vorwurf unzureichender Ermittlungen auszusetzen (vgl 10 ObS 25/23h Rz 46). § 366 Abs 2 ASVG soll daher nur ein Beweisproblem lösen und dem Versicherungsträger bei fehlender Mitwirkung des Versicherten eine nicht mit Verfahrensmängeln behaftete Entscheidung ermöglichen (Auer-Mayer aaO 398 f).
[23] 4.2. Gegenstand des Verfahrens nach § 99 Abs 2 ASVG ist somit, ob eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorliegt, weil eine Entziehung nur (und erst) unter dieser Voraussetzung in Betracht kommt. Demgemäß ist die Frage, ob der Versicherte die Mitwirkung berechtigt verweigert bzw der Versicherungsträger sein Ermessen pflichtgemäß iSd § 366 ASVG ausgeübt hat, im sozialgerichtlichen Verfahren zwangsläufig als Vorfrage zu prüfen. (Nur) Insofern unterliegt das Vorgehen nach § 366 ASVG der Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz (10 ObS 21/21t Rz 43; Auer-Mayer, Glosse zu 10 ObS 21/21t in DRdA 2022/12). Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist dagegen, ob Invalidität besteht, was nicht davon abhängt, ob im Verwaltungsverfahren § 366 Abs 2 ASVG richtig angewandt wurde oder nicht. Die hier und teilweise auch von anderen zweitinstanzlichen Gerichten vertretene Ansicht, das sozialgerichtliche Verfahren habe sich auf diese Frage zu beschränken, wenn schon der Bescheid darauf abgestellt habe (vgl Greifeneder/Liebhart, aaO Rz 8.147 [FN 1847 zu § 26 BPGG]), liefe auf eine gegen den Grundsatz der sukzessiven Kompetenz verstoßende Bindung der Gerichte an (uU berechtigt gem § 366 Abs 2 ASVG gewonnene) Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens hinaus (vgl RS0106394 [T10]; RS0085839 [T3]; Fink, Die sukzessive Zuständigkeit in Verfahren in Sozialrechtssachen 45 mwN). Ob sich der Bescheid zu Recht auf § 366 Abs 2 ASVG stützen kann, ist für die vom Sozialgericht vorzunehmende materielle Prüfung des geltend gemachten Anspruchs somit nicht relevant (vgl Novak in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG § 366 Rz 1 [aE]; so auch das OLG Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in Sozialversicherungssachen: SSV 24/18; SSV 20/56 ua). Einem darauf bezogenen Einwand des Versicherungsträgers muss demgemäß auch nicht nachgegangen werden.
[24] 5. Im Anlassfall bedeutet das, dass der hier noch strittige Anspruch des Kl besteht, ohne dass es auf die Frage der etwaigen Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren ankäme. Auf Basis des festgestellten Sachverhalts ist zwischen den Parteien nämlich nicht strittig, dass der Kl bereits zum Stichtag vorübergehend invalid war. Ebenso wenig ist strittig, dass zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 255b ASVG vorlagen; denn auch dazu hat sich die Bekl nur darauf gestützt, der Kl habe bloß deshalb erst ab 1.2.2023 Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV, weil er bis dahin seine Mitwirkungspflicht verletzt habe.
[25] Darauf aufbauend sind daher die Aussprüche nach § 367 Abs 4 Z 1 und 4 ASVG in Stattgabe der Revision dahin abzuändern, dass vorübergehende Invalidität schon seit dem 1.3.2022 vorliegt und ab diesem Zeitpunkt auch ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht. Zur besseren Verständlichkeit war das Urteil unter Einschluss der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile neu zu fassen, wobei die einzelnen Aussprüche der Abfolge der Prüfung anzupassen war. [...]
Die vorliegende E befasst sich mit einer besonderen Facette der sukzessiven Kompetenz in Sozialrechtssachen. Soweit ersichtlich äußerte sich der OGH erstmals zur Frage, ob die Gerichte inhaltlich an die im Siebenten Teil des ASVG niedergelegten Verfahrensvorschriften gebunden sind. Wie noch näher darzustellen sein wird, gelangte das Höchstgericht zum Ergebnis, dass die Arbeits- und Sozialgerichte – anders als die Sozialversicherungsträger selbst – nicht an § 366 ASVG gebunden sind. Dies führt zu der für die Rezensentin überraschenden Erkenntnis, dass eine fehlende, eventuell sogar schuldhaft unterbliebene Mitwirkung von Anspruchswerbern im Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern vor den Gerichten ohne Konsequenzen zu bleiben scheint. Die sich daraus 467 ergebenden Schwierigkeiten sollen im Weiteren genauer erläutert werden.
Zunächst ist der Sachverhalt der E in Kürze darzustellen: Der Kl beantragte im Februar 2022 die Gewährung einer Invaliditätspension durch den zuständigen Sozialversicherungsträger. Dem Antrag legte er medizinische Befunde und Berichte bei. Die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) lud den Kl mehrmals zu Untersuchungen zur Ermittlung des aktuellen Gesundheitszustands – eine übliche und standardisierte Vorgehensweise –, welchen dieser jedoch, zum Teil unentschuldigt, fernblieb. Daraufhin wies die Bekl den Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension mit Bescheid ab. Mit seiner Klage begehrte der Kl die Zuerkennung einer Invaliditätspension ab dem 1.3.2022, in eventu Gewährung von Rehabilitationsgeld. Im erstgerichtlichen Verfahren unterzog sich der Kl einer Untersuchung beim gerichtlich bestellten Sachverständigen, der die Voraussetzungen für Rehabilitationsgeld bejahte. Erst- und Berufungsgericht wiesen das Hauptbegehren ab, gaben jedoch dem Eventualbegehren ab 1.2.2023 statt.
Das Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern zählt bekannterweise zu den Verwaltungsverfahren, aufgrund der Anordnung des § 360b ASVG sind Bestimmungen des AVG in weiten Bereichen auch auf das Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern anwendbar (Pokorny, Mitwirkungsobliegenheit und Beweislast im Rahmen der Begutachtung in Fällen der geminderten Arbeitsfähigkeit nach dem ASVG und zum Pflegebedarf nach dem BPGG, DAG 2024/16, 33; Sonnleitner, Die Verhältnismäßigkeit von Verfahrensanordnungen der Pensionsversicherungsträger: Analyse der Theorie und Praxis sozialgerichtlicher Verantwortung, DRdA-infas 2025, 133).
Nach Ansicht des VwGH (17.10.2012, 2010/08/0110) ist dem Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern aus diesem Grund – wie in den anderen Verwaltungsverfahren auch – der Untersuchungsgrundsatz zugrunde zu legen. Auch die Sozialversicherungsträger haben daher die Aufgabe, den objektiven Sachverhalt von Amts wegen festzustellen. Eine Mitwirkung der versicherten Personen ist dabei unabdingbar, muss doch festgestellt werden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen – etwa für die Gewährung einer Invaliditätspension oder von Rehabilitationsgeld – vorliegen. Die Anträge werden von Gutachtern bzw Ärzten geprüft, welche die klinischen Tatsachen erheben und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Neben von den Antragswerbern vorgelegten medizinischen Unterlagen und Befunden umfasst diese Erhebung eine Anamnese sowie eine persönliche Untersuchung (Pokorny, DAG 2024/16, 33). Das dabei erstellte medizinische Gutachten wiederum dient der PVA als Grundlage für die Entscheidung, ob ein Leistungsfall vorliegt (Pensionsversicherung Österreich, Medizinische Begutachtung, https://www.pv.at/web/reha-und-praevention/begutachtung#:~:text=Feststellung%20von%20Invalidit%C3%A4t%20oder%20 Berufsunf%C3 %A4higkeit,und%20manchmal%20auch%20psychologische%20Tests [abgerufen am 14.8.2025]).
Um die Mitwirkung der Antragswerber bei der Erstellung dieser Gutachten zu gewährleisten, sieht § 366 Abs 1 ASVG die Obliegenheit zur Duldung einer ärztlichen Untersuchung bzw Beobachtung in einer Krankenanstalt vor (die Bestimmung gilt nach dem Wortlaut auch für Antragsberechtigte, die zu Nachuntersuchungen geladen werden; für diese Personengruppe ist zusätzlich § 99 ASVG zu berücksichtigen). Zweck der angeordneten Untersuchung ist es, festzustellen, ob die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch überhaupt vorliegen. Weiters geht es darum, das Ausmaß der Leistungsberechtigung zu ermitteln (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 402; Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 ASVG Rz 12 [Stand 1.12.2019, rdb.at]). § 366 Abs 2 leg cit normiert Sanktionen bei Verletzung dieser Obliegenheit. Kommt die versicherte Person der Anordnung schuldhaft, also leicht fahrlässig (OGH 11.2.1992, 10 ObS 324/91; Auer-Mayer, Mitverantwortung 402), nicht nach, kann (!) der Sozialversicherungsträger – nach Androhung der Säumnisfolgen und unter Setzung einer angemessenen Frist – für die Frage, ob und in welchem Ausmaß er Leistungen gewährt, den bisher festgestellten Sachverhalt zugrunde legen. Ob der Sozialversicherungsträger diese Sanktion tatsächlich ergreift, liegt also in dessen pflichtgebundenem Ermessen. Gleichzeitig bedeutet die Weigerung von Antragswerbern, zu einer angeordneten Untersuchung zu erscheinen, aber nicht, dass der Sozialversicherungsträger automatisch vom Nichtvorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ausgehen darf (Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 ASVG Rz 12). Die Verneinung der Anspruchsberechtigung kann daher nur dann angenommen werden, wenn das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ohne die Untersuchung nicht beurteilt werden kann (Auer-Mayer, Leistungsentzug wegen Verletzung von Untersuchungsobliegenheiten nur bei Verhältnismäßigkeit der Untersuchung, DRdA 2022/12, 235 [240, EAnm]).
Schranken bei der Anordnung von medizinischen Untersuchungen ergeben sich aus Art 8 EMRK. So hat der OGH (10 ObS 21/21t DRdA 2022/12, 235 [Auer-Mayer] = RdM 2022/52, 182 [Kleinbauer]) festgestellt, dass sich aus § 366 ASVG zum einen formale Voraussetzungen – schriftliche Aufforderung, Hinweis auf die drohenden Folgen bei Nichterscheinen – ergeben. Darüber hinaus muss eine vom Sozialversicherungsträger angeordnete ärztliche Untersuchung aber auch verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein. Dabei ist sowohl auf objektive als auch auf subjektive Zumutbarkeitskriterien abzustellen: Hat der Sozialversicherungsträger etwa die Möglichkeit, die versicherte Person zu Nachuntersuchungen zu bestellen, unverhältnismäßig ausgeübt, so dürfen sich daraus keine negativen Konsequenzen im Hinblick auf den Leistungsanspruch ergeben (OGH 10 ObS 25/23h DRdA 2024/12, 185 [Minderock]). 468
Aus Art 8 EMRK ergibt sich schließlich, dass der von den Sozialversicherungsträgern ergriffene Eingriff auch das gelindeste Mittel darstellen muss. Ausnahmen in Bezug auf die medizinische Untersuchung können dann vorliegen, wenn „aufgrund eindeutiger, für den konkreten Anspruch inhaltlich umfassend aussagekräftiger und einer objektiven Überprüfung Stand haltender Unterlagen, die dem Entscheidungsträger vorliegen, im Einzelfall von einer zur Feststellung des bestehenden (Rest-) Leistungskalküls oder des individuellen Betreuungs- und Hilfsbedarfs erforderlichen persönlichen Untersuchung Abstand genommen werden kann
“ (Pokorny, DAG 2024/16, 35).
Es ist festzuhalten, dass die medizinische Untersuchung einen zentralen Bestandteil im Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern darstellt. Dies ergibt sich zum einen aus dem im Verwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz. Da es sich bei den Verfahren vor dem Pensionsversicherungsträger um ein Massenverfahren handelt – allein im Jahr 2023 wurden 52.374 Anträge auf Invaliditätspension gestellt (Dachverband der Sozialversicherungsträger [Hrsg], Statistisches Handbuch der österreichischen Sozialversicherung 2024 [2024] Kap 3.5) –, ist die Notwendigkeit eines geregelten Ablaufes zur Prüfung der Voraussetzungen offenkundig. Ua eröffnet die medizinische Untersuchung der Antragswerber der PVA die Möglichkeit, diese persönlich und umfassend zu beraten und direkt über mögliche weitere Vorgangsweisen aufzuklären. Zum anderen ergibt sich die Notwendigkeit einer medizinischen Untersuchung aber auch aus den ärztlichen Berufspflichten. § 55 ÄrzteG normiert, dass ärztliche Zeugnisse nur nach gewissenhafter ärztlicher Untersuchung und nach genauer Erhebung der im Zeugnis zu bestätigenden Tatsachen ausgestellt werden dürfen. Wie Pokorny (DAG 2024/16, 34) ausführt, haben diese Grundsätze auch bei der Erstellung eines ärztlichen Gutachtens zu gelten. Nicht zuletzt ist es mE auch ein Anliegen der Versichertengemeinschaft, (Geld-) Leistungen nur jenen Personen zu gewähren, die die gesetzlichen Voraussetzungen auch tatsächlich erfüllen. Aus der Praxis ist bekannt, dass nicht jeder (fach-)ärztliche Befund mit der zu wünschenden Sorgfalt ausgestellt wird (siehe etwa Schnauder, Kritik an angeblich zu laxer Krankschreibung durch Ärzte wächst, Der Standard 14.2.2018). Gleichzeitig scheiden gerade jene Personen, die um eine Pensionsleistung ansuchen, bei positiver Gewährung dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt aus, weswegen eine genaue Prüfung dieser Anträge nicht nur im Interesse der Antragsteller, sondern eben auch der Versichertengemeinschaft liegt. Eine etwaige Beschränkung auf vom Antragsteller selbst vorgelegte Befunde wäre missbrauchsanfällig.
Wie der OGH bereits in der E 10 ObS 21/21t vom 22.6.2021 ausgesprochen hat, unterliegen auch die Ermessensentscheidungen gem §§ 99, 366 Abs 2 ASVG der Kontrolle der ordentlichen Gerichte. Aufgrund der sukzessiven Zuständigkeit entscheiden die Arbeits- und Sozialgerichte in der Sache neu und kontrollieren nicht bloß die Richtigkeit der behördlichen Entscheidung (dazu Neumayr in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm4 [2025] § 65 ASGG Rz 2 f). Kern der vorliegenden E ist nun, dass der OGH festgestellt hat, dass sich § 366 ASVG (nur) an die Versicherungsträger – und damit nicht an die Sozialgerichte – richtet. Aus diesem Grund war im vorliegenden Verfahren „nur“ noch zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Geldleistung vorliegen. Die Frage, ob der Kl seine Mitwirkungsobliegenheit gegenüber dem Pensionsversicherungsträger verletzt hat, durfte hingegen nicht mitberücksichtigt werden.
Diese Einordnung erscheint zutreffend, befindet sich § 366 ASVG doch im Siebenten Teil des ASVG, welcher mit „Verfahren“ überschrieben ist und sich an die Versicherungsträger richtet. Für die sozialgerichtlichen Verfahren gelangt § 366 ASVG daher nicht zur Anwendung.
Eine fehlende Mitwirkung der Antragsteller kann aber auch nicht auf andere Weise von den Gerichten aufgegriffen werden. Wie der OGH unter Berufung auf die E 10 ObS 21/21t ausführt, knüpft § 99 Abs 2 ASVG – hier geht es um den Entzug von bereits gewährten Geldleistungen, wenn sich die Leistungsbezieher nicht den vom Sozialversicherungsträger angeordneten Nachuntersuchungen unterziehen – die Sanktion, also den Entzug der Leistung, direkt an die Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit der Leistungsbezieher. Kommt es zu einem Gerichtsverfahren, muss die Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit daher zwingend als Vorfrage geprüft werden. Im vorliegenden Verfahren hingegen, so der OGH weiter, haben die Arbeitsund Sozialgerichte nur zu prüfen, ob Invalidität besteht. Eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit des Anspruchswerbers konnte daher nicht berücksichtigt werden.
Dies führt nun zu der Situation, dass die Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit zwar beim Entzug von Geldleistungen berücksichtigt werden darf, nicht jedoch bei deren Gewährung. Die Begründung überzeugt trotz der vom OGH zum Pflegegeldverfahren genannten Gegenmeinungen in Lehre und Rsp zwar inhaltlich, führt aber mE zu einem nicht unerheblichen Wertungswiderspruch. Wie bereits ausgeführt, stellt die medizinische Untersuchung einen zentralen Bestandteil der Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern dar. Eine fehlende Mitwirkung des Anspruchswerbers bei der Erhebung des Ausmaßes des Leistungsanspruchs führt zu einem zeitlichen und finanziellen Mehraufwand für den Sozialversicherungsträger und letztlich auch für die Versichertengemeinschaft. Dass diese Obliegenheitsverletzung bei der Anspruchsgewährung unberücksichtigt bleiben muss, beim Anspruchsentzug hingegen berücksichtigt werden darf, erscheint unbefriedigend. Hier wäre eine rasche Anpassung durch den Gesetzgeber wünschenswert. 469