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Kollektivvertragsfähigkeit und Relevanz der Mitgliederzahl

ELIAS FELTEN (SALZBURG)
  1. Das Kriterium der „maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung“ iSd § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG verfolgt – ebenso wie die Vorschrift des § 4 Abs 2 Z 2 ArbVG – das Ziel, „kleinere Berufsvereinigungen“ von der Kollektivvertragsfähigkeit auszuschließen.

  2. Sowohl für AN- als auch für AG-Verbände kommt dem Vergleich der Zahl der tatsächlich erfassten Mitglieder mit der Zahl der für eine Mitgliedschaft in Frage kommenden AN bzw AG entscheidende Bedeutung zu.

  3. Zur Beurteilung der maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung gem § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG ist auch bei Vereinigungen von AG auf die Zahl der Mitglieder abzustellen, allerdings kann – anders als bei AN-Vereinigungen – auch bei Vorliegen niedrigerer (absoluter oder relativer) Mitgliederzahlen eine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung bestehen.

1 Mit Bescheid vom 10.1.2023 wies das Bundeseinigungsamt den Antrag des Revisionswerbers vom 21.10.2021 auf Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit gem § 4 Abs 2 Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) für den Wirkungsbereich der Arbeitskräfteüberlassung gem § 94 Z 72 GewO 1994 ab.

2 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG diese Beschwerde als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG gem Art 133 Abs 4 B-VG für zulässig.

3 In seiner Entscheidungsbegründung stellte das BVwG – soweit für das vorliegende Revisionsverfahren maßgeblich – fest, es handle sich beim Revisionswerber um einen in das Vereinsregister eingetragenen Verein. Mit Stand 31.12.2021 gebe es in Österreich insgesamt 2.803 Betriebe des Berufszweiges „1410 – Personaldienstleister (Arbeitskräfteüberlasser)“ im Fachverband der gewerblichen Dienstleister, 460 wobei davon 2.359 über eine aktive Gewerbeberechtigung verfügten. Der Fachverband „Gewerbliche Dienstleister“ schließe ua Branchenkollektivverträge für Arbeitskräfteüberlasser ab. Mit Stand 31.1.2022 habe der Revisionswerber 101 Mitglieder gehabt und die Anzahl jener Mitglieder, für die ein KollV abgeschlossen werden könne, betrage ebenfalls 101.

4 Der Jahresdurchschnitt an unselbständigen Beschäftigungsverhältnissen bei DG-Beitragskonten, „die der ÖNACE 782 (befristete Überlassung von Arbeitskräften) sowie 783 (Sonstige Überlassung von Arbeitskräften)“ zugeordnet seien, habe im Jahr 2019 92.756, im Jahr 2020 79.840 und im Jahr 2021 92.964 betragen. Laut Statistik des BM für Arbeit seien im Zeitraum von 1.7.2019 bis 30.6.2020 172.279 AN überlassen worden. Im Zeitraum von 1.7.2020 bis 30.6.2021 seien 76.090 AN von inländischen Überlassungsunternehmen überlassen worden, „wobei insgesamt 167.432 Arbeitnehmer zumindest einen Tag überlassen“ worden seien. Von den Mitgliedern des Revisionswerbers seien im Kalenderjahr 2020 im Durchschnitt 49.254 Zeit-AN überlassen worden.

5 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung kam das BVwG zu dem Ergebnis, dass für die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit gem § 4 Abs 2 ArbVG die darin normierten Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssten. Während die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 Z 1, 2 und 4 ArbVG erfüllt seien, gelte dies nicht für jene des § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG. Nach dieser Bestimmung sei Voraussetzung für die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit, dass die antragstellende Berufsvereinigung „vermöge der Zahl der Mitglieder und des Umfanges der Tätigkeit eine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung“ habe. Vor diesem Hintergrund folgerte das BVwG unter Bezugnahme auf näher genannte Rsp des VwGH, dass sich aus der Mitgliederanzahl des Revisionswerbers von 101 sowie der in der Jahresstatistik 2021 zum Berufszweig „1410 – Personaldienstleister (Arbeitskräfteüberlasser)“ im Fachverband der gewerblichen Dienstleister genannten Zahl von 2.803 Mitgliedsbetrieben, wovon 2.359 eine aktive Gewerbeberechtigung aufwiesen, ein Anteil von 3,6 % bzw 4,3 % ergebe. Eine im Verfahren mehrfach erwähnte Zahl von 1.296 Arbeitskräfteüberlassern gemäß Erhebungen der Statistik Austria könne nicht herangezogen werden, weil diese Zahl nicht aktuell genug sei und auch nur Betriebe erfasse, die sich an den Erhebungen der Statistik Austria beteiligt hätten. Da konzerninterne Überlassungsunternehmen und gemeinnützige Arbeitskräfteüberlasser über keine Gewerbeberechtigung verfügten bzw nicht unter die Gewerbeordnung fielen, sei nicht ersichtlich, wieso diese „abgezogen“ werden sollten. Auch ein „Abzug“ von Unternehmen mit weniger als 50 Überlassungen pro Jahr sei nicht vorzunehmen, weil die Geltung eines KollV von der wirtschaftlichen „Überlebensfähigkeit“ unabhängig sei.

6 Angesichts der so geringen Anzahl an Mitgliedsbetrieben des Revisionswerbers im Verhältnis zur Zahl der für eine Mitgliedschaft in Frage kommenden AG (3,6 % bzw 4,3 % bei Berücksichtigung nur von Berufszweigmitgliedern mit aktiver Gewerbeberechtigung) sowie der so niedrigen absoluten Zahl der Mitgliedsbetriebe liege keine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung des Revisionswerbers vor. Deshalb könne die maßgebende wirtschaftliche Bedeutung des Revisionswerbers auch nicht durch eine vermeintlich hohe Anzahl der bei seinen Mitgliedern beschäftigten AN oder aufgrund seiner Tätigkeit angenommen werden. [...]

8 Zur Zulässigkeit der Revision führte das BVwG ins Treffen, es liege keine „rezente Judikatur“ zu der Frage vor, ob bereits bei einem geringen Prozentsatz (Vergleich der Zahl der tatsächlich erfassten Mitglieder eines AG-Verbandes mit der Zahl der für eine Mitgliedschaft in Frage kommenden AG) bzw einer niedrigen absoluten Zahl der Mitglieder das Vorliegen der maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung gem § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG verneint werden müsse. [...]

10 Der VwGH hat erwogen:

11 Zur Begründung der Zulässigkeit seiner Revision bringt der Revisionswerber ua vor, es fehle Rsp des VwGH zu der Frage, ob für das Vorliegen der Voraussetzung der maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen sei, sodass die Anzahl der durch einen freiwilligen Verband vertretenen AN es ausgleichen könne, dass die absolute Mitgliederanzahl des Verbandes vergleichsweise niedrig sei. Weiters macht der Revisionswerber geltend, das BVwG sei von näher zitierter Rsp des VwGH, wonach für das in § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG geforderte Erfordernis der maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung entscheidend sei, dass sich die Tätigkeit der Berufsvereinigung gesamtwirtschaftlich fühlbar auswirke, abgewichen.

12 Mit diesem Vorbringen erweist sich die vorliegende ordentliche Revision als zulässig; sie ist auch berechtigt. [...]

14 Der VwGH geht in seiner Rsp davon aus, dass aus der unterschiedlichen Textierung des § 4 Abs 2 Z 2 und 3 ArbVG, wonach es nach der Z 2 auf „Zielsetzungen“, nach der Z 3 hingegen auf die Anzahl der Mitglieder und den „Umfang der Tätigkeit“ ankommt, abzuleiten ist, dass dem Gesetzgeber im Hinblick darauf, dass er in § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG auf die faktischen Verhältnisse abstellt, nicht zugesonnen werden kann, dass er dies auch in Z 2 so gemeint und insoweit zweimal dasselbe geregelt habe. Das Vorliegen der Voraussetzungen der Z 2 ist daher nicht auf Grund der faktischen Tätigkeit des beschwerdeführenden Vereins zu bestimmen. Richtigerweise ist zunächst nach formalen Kriterien zu prüfen, ob die Vereinigung statutarisch entsprechende Zielsetzungen hat (Z 2) und in zweiter Linie, ob sie sich auch gemäß diesen Zielsetzungen mit Erfolg betätigt, was nach Z 3 an der Zahl der Mitglieder und am Umfang der bisherigen tatsächlichen Tätigkeit (deren Spiegelbild auch die Anzahl der beschäftigten DN sein kann) abzulesen ist. Der erste Fall der Z 2 (größerer fachlicher Wirkungsbereich) und der erste Fall der Z 3 (maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung vermöge der Zahl der Mitglieder) hängen jedoch insoweit miteinander zusammen, als beiden Elementen eine Bezugsgröße gemeinsam ist, an der das Element „größere“ bzw „maßgebliche“ zu messen ist (vgl VwGH 24.11.2010, 2010/08/0148). 461

15 Das Kriterium der „maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung“ iSd § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG verfolgt – ebenso wie die Vorschrift des § 4 Abs 2 Z 2 ArbVG – das Ziel, „kleinere Berufsvereinigungen“ von der Kollektivvertragsfähigkeit auszuschließen. Sowohl für AN- als auch für AG-Verbände kommt hier dem Vergleich der Zahl der tatsächlich erfassten Mitglieder mit der Zahl der für eine Mitgliedschaft in Frage kommenden AN bzw AG entscheidende Bedeutung zu. Ob die Berufsvereinigung zufolge ihres Mitgliederstandes und Tätigkeitsumfanges ein gesamtwirtschaftlich fühlbares Gewicht darzustellen vermag, ist auf Grund konkreter, im einzelnen nachprüfbarer Tatsachenfeststellungen auf Grund eines (transparenten) entsprechenden Ermittlungsverfahrens zu beurteilen (vgl neuerlich VwGH 24.11.2010, 2010/08/0148).

16 Zur Feststellung, ob sich die Tätigkeit einer Berufsvereinigung zufolge des Gewichts der Organisation gesamtwirtschaftlich fühlbar auswirkt, kommt der Mitgliederzahl besonders bei der Beurteilung einer Berufsvereinigung von DN Bedeutung zu, während einer Vereinigung weniger Großunternehmer als DG auch bei geringer Zahl wirtschaftlich eine maßgebliche Bedeutung zukommen kann (vgl VwGH 13.2.1958, 3033/55).

17 Damit ergibt sich, dass zur Beurteilung der maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung gem § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG auch bei Vereinigungen von AG auf die Zahl der Mitglieder abzustellen ist, allerdings – anders als bei AN-Vereinigungen – auch bei Vorliegen niedrigerer (absoluter oder relativer) Mitgliederzahlen eine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung bestehen kann. Ua wird bei einer niedrigeren Mitgliederzahl eines AG-Verbandes dessen maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung dann angenommen werden können, wenn die der Vereinigung zugehörigen Mitglieder einen entsprechend hohen Anteil der in dem betreffenden Bereich tätigen AN beschäftigen. Diesfalls wird nämlich auch bei einer niedrigeren Mitgliederzahl davon gesprochen werden können, dass der Vereinigung zufolge ihres Mitgliederstandes ein gesamtwirtschaftlich fühlbares Gewicht zukommt.

18 Vor diesem Hintergrund hätte das BVwG fallbezogen die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung des Revisionswerbers als AG-Verband nicht allein aufgrund der niedrigen absoluten Zahl der Verbandsmitglieder sowie des niedrigen Anteils der Verbandsmitglieder an der Gesamtanzahl der möglichen Mitglieder des Revisionswerbers verneinen dürfen.

19 Zwar hat das BVwG im angefochtenen Erkenntnis zutreffend darauf hingewiesen, dass der VwGH einem AG-Verband mit rund 3.000 Mitgliedern, die einen Anteil von etwa 8,5 % an den als Verbandsmitglieder in Frage kommenden Mitgliedern ausmachten, die maßgebende wirtschaftliche Bedeutung vermöge der Zahl seiner Mitglieder iSd (nunmehrigen) § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG abgesprochen hat (vgl VwGH 9.11.1961, 1466/60). Dieser Entscheidung lag allerdings die Annahme zu Grunde, dass die Anzahl der für eine Mitgliedschaft in Frage kommenden DG auch der Anzahl der in diesem Bereich beschäftigten AN entsprach, weshalb auch vor diesem Hintergrund das Vorliegen einer maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung des zu beurteilenden AG-Verbandes zu verneinen war.

20 Da das BVwG dessen ungeachtet im vorliegenden Fall davon ausgegangen ist, dem Revisionswerber komme schon aufgrund der geringen absoluten und relativen Mitgliederanzahl keine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung iSd § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG zu, und es deshalb unterlassen hat, weitere Feststellungen zur Anzahl der von den Mitgliedern des Revisionswerbers beschäftigten AN zu treffen und vor diesem Hintergrund eine Beurteilung der maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung im Hinblick auf die Mitgliederzahl des Revisionswerbers vorzunehmen, hat es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet.

21 Weiters moniert der Revisionswerber zutreffend das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung. Gerade im Hinblick darauf, dass im Verfahren vor dem BVwG strittig war, wie der Kreis der möglichen Mitglieder des Revisionswerbers abzugrenzen ist, hätte das BVwG nicht gem § 24 Abs 4 VwGVG von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.

22 Im Ergebnis war das angefochtene Erkenntnis wegen (prävalierender) inhaltlicher Rechtswidrigkeit gem § 42 Abs 2 Z 1 VwGG aufzuheben. [...]

ANMERKUNG

Das vorliegende Erkenntnis des VwGH trifft wichtige Klarstellungen zur Auslegung und Anwendung des § 4 Abs 2 ArbVG. Dabei handelt es sich um eine Schlüsselnorm des kollektiven Arbeitsrechts. Denn sie legt fest, unter welchen Voraussetzungen freiwilligen Berufsvereinigungen (siehe zu diesem Begriff präzisierend VwGH 2011/08/0230 VwSlg 18.676A = DRdA 2014, 314 [Felten] = ZAS 2014, 80 [Tomandl]) vom Bundeseinigungsamt die Kollektivvertragsfähigkeit zu verleihen ist, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird. Die Kollektivvertragsfähigkeit ermächtigt freilich nicht nur zum Abschluss von Kollektivverträgen und damit zur Festlegung von Arbeitsbedingungen mit normativer Wirkung. Mit ihr geht vielmehr eine Vielzahl weiterführender Rechte und Befugnisse (vgl § 18 Abs 1, § 92 Abs 2, § 111 Abs 3 ArbVG) einher. Wer über die Kollektivvertragsfähigkeit verfügt, ist mit anderen Worten eine „kollektive Macht“ (vgl Floretta/Strasser [Hrsg], Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben [1963]). Und wer über „Macht“ verfügt, soll diese auch verantwortungsvoll einsetzen. Dieses Credo liegt der Ausgestaltung des § 4 ArbVG zu Grunde. Verständlich ist das nur aus dem historischen Kontext.

1.
Ein historischer Rückblick

Die heutige Bestimmung des § 4 ArbVG geht auf die Regelung des § 3 KollVG aus dem Jahr 1947 (BGBl 1947/76 ) zurück. Mit dem KollVG wurde in Österreich unmittelbar nach dem Ende der nationalsozialistischen 462 Diktatur das auf konsensuale Vereinbarungen zwischen typischerweise überbetrieblichen Akteuren beruhende System zur Festlegung kollektiver Arbeitsbedingungen wiedereingeführt. Dieses prägte bereits die Erste Republik; allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Das Kollektivvertragssystem der Ersten Republik war kein „elitäres“, auf wenige Player konzentriertes, sondern ein vielfältiges, das auf einem offenen Zugang basierte. Ausdruck dessen war das Fehlen der heute erforderlichen „Kollektivvertragsfähigkeit“.

Gem § 5 Abs 2 EAG (StGBl 1920/16) konnte jede Berufsvereinigung der AG und der AN, aber auch bloß einer oder mehrere AG rechtswirksam Kollektivverträge abschließen. In der Ersten Republik war somit auch der Abschluss von sogenannten „Firmenkollektivverträgen“ möglich. Spezifische Anforderungen an den Wirkungsbereich von Berufsvereinigungen oder die Anzahl ihrer Mitglieder gab es damals nicht (vgl Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz [2015] 27).

Mit der Zweiten Republik hat sich das fundamental geändert. Mit dem bereits 1947 erlassenen KollVG (BGBl 1947/76 ) wurde wieder eine rechtliche Grundlage zum Abschluss von Kollektivverträgen geschaffen. Der Abschluss von Kollektivverträgen war nunmehr aber ausschließlich „kollektivvertragsfähigen Körperschaften“ vorbehalten (vgl § 2 KollVG 1947). Das hatte zum einen zur Folge, dass einzelne AG sowie (lose) Zusammenschlüsse mehrerer AG nicht mehr berechtigt waren, Kollektivverträge abzuschließen. Diese Befugnis wurde auf „Körperschaften“ iSd § 2 KollVG und damit auf „gesetzliche Interessenvertretungen“ und „auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Berufsvereinigungen“ (§ 3 KollVG) beschränkt. Zum anderen mussten selbst diese Körperschaften kollektivvertragsfähig sein. Während das für gesetzliche Interessenvertretungen unwiderleglich vermutet wurde, wurde für freiwillige Berufsvereinigungen ein behördliches Procedere eingeführt, im Zuge dessen der entsprechende Nachweis zu erbringen war. Die Kriterien, die zur Erlangung der Kollektivvertragsfähigkeit erfüllt sein mussten, waren 1947 bereits im Wesentlichen ident mit jenen, die sich heute in § 4 Abs 2 ArbVG finden. Schon damals war ein „größerer fachlicher und räumlicher Wirkungskreis“ (§ 3 Z 2 lit b) sowie „wirtschaftlich eine maßgebende Bedeutung“ vermöge der Zahl der Mitglieder und des Umfangs der Tätigkeit (§ 3 Z 2 lit c) nachzuweisen.

Die Gründe für diese Systemumstellung lassen sich klar den parlamentarischen Materialien (RV 285 BlgNR 5. GP) zur Einführung des KollVG entnehmen. Ziel war es, durch das Erfordernis der Kollektivvertragsfähigkeit „unbedeutende Splittergruppen“ aus dem System der kollektiven Arbeitsbeziehungen auszuschließen, damit diese nicht „die gerade in der Übergangszeit notwendige Einhaltung einer planvollen Lohn- und Arbeitspolitik zum Schaden der Gesamtwirtschaft stören und damit den Wiederaufbau gefährden“ (RV 285 BlgNR 5. GP 11). Dh, dass sichergestellt sein sollte, dass nur große, wirtschaftlich bedeutsame Akteure am Kollektivvertragssystem teilnehmen, da man diesen eher zutraute, nicht bloß „Klientelpolitik“ zu betreiben, sondern gesamtwirtschaftlich zu agieren.

Interessanterweise hielt der Gesetzgeber des ArbVG im Jahr 1974 unter gänzlich anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen am Kriterium der Kollektivvertragsfähigkeit als Zutrittssperre zu Kollektivvertragsverhandlungen fest. Auch wenn dies nicht explizit in den Materialien (RV 840 BlgNR 8. GP 57) artikuliert wird, war auch hier eine bewusste Verengung des Systems auf einige wenige Akteure – nämlich die zwischenzeitlich etablierten Sozialpartner – intendiert (vgl Felten, Koalitionsfreiheit 103). Dieser belegbare gesetzgeberische Wille ist bei der Auslegung des § 4 Abs 2 ArbVG jedenfalls zu berücksichtigen.

2.
Zur Verortung des § 4 ArbVG

Zu Recht hält der VwGH daher in seiner Begründung in Rz 15 ausdrücklich fest, dass der Gesetzgeber mit dem Kriterium der „maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung“ iSd § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG das Ziel verfolgt, „kleinere Berufsvereinigungen“ von der Kollektivvertragsfähigkeit auszuschließen (idS bereits VwGH 2010/08/0148 ARD 6178/4/2011). Wenn also in der Vergangenheit Anträge freiwilliger Berufsvereinigungen auf Verleihung der Kollektivvertragsfähigkeit in den meisten Fällen abschlägig behandelt wurden (siehe exemplarisch VwGH Ra 2018/08/0081 Arb 13.499; VwGH 2010/08/0148 ARD 6178/4/2011; VwGH 3355/79 VwSlg 10.896A oder VwGH 9.11.1961, 1466/60), so ist dies Ausfluss der Konzeption des § 4 ArbVG.

Allerdings ist diese „Flaschenhalsfunktion“ der Kollektivvertragsfähigkeit in Bezug auf freiwillige Berufsvereinigungen nicht unproblematisch. Denn der Status der Kollektivvertragsfähigkeit und die damit verbundenen Befugnisse – zuvor war bereits die Rede von „Macht“ – sind zweifelsfrei ein zentrales Argument für potenzielle Mitglieder, diesen Vereinigungen beizutreten. Ob man die Kollektivvertragsfähigkeit verliehen bekommt oder nicht, ist daher für freiwillige Berufsvereinigungen ein entscheidender Faktor für ihre Entwicklung. Das belegt die Praxis. Dass sich die Interessenvertretungslandschaft in Österreich, insb auf AN-Seite, aber auch auf AG-Seite, seit Bestehen der Zweiten Republik auf einige wenige Akteure konzentriert und sich im Laufe der Zeit nur wenige zusätzliche etablieren konnten, ist ua auf § 4 ArbVG zurückzuführen (Felten, Koalitionsfreiheit 103). Das hat nicht nur demokratiepolitische Diskussionen über das System der österreichischen Sozialpartnerschaft ausgelöst (vgl Hinterseer, Arbeitsverfassungsgesetz und Sozialpartnerschaft, in Mosler [Hrsg], 50 Jahre ArbVG [2024] 52), sondern auch rechtliche Fragen aufgeworfen. Die Gründung von auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Interessenvertretungen der AN und AG sowie deren Betätigung ist nämlich verfassungsrechtlich über Art 11 EMRK abgesichert (Grabenwarter, Arbeitsrecht und Menschenrechtskonvention, in FS Marhold 463 [2020] 537). In diesem Zusammenhang trifft Österreich eine positive Schutzpflicht. Das ist deshalb bedeutsam, weil Art 11 EMRK die Idee eines pluralen Interessenvertretungssystems zu Grunde liegt. Daraus ergibt sich vordergründig ein Spannungsverhältnis zu § 4 ArbVG (vgl die Vorbringen im Zuge des Verfahrens BVwG W162 2120247-1 DRdA 2018, 481 [Grillberger]). Zwar wurde bereits an anderer Stelle ausführlich nachgewiesen, dass § 4 ArbVG und das Kriterium der Kollektivvertragsfähigkeit nicht gegen Art 11 EMRK verstoßen (Felten, Koalitionsfreiheit 360 ff; Marhold, DRdA 2015, 416; Grillberger, DRdA 2018, 484; idS bereits VwGH 3355/79 VwSlg 10.896A). Dennoch ist die grundrechtliche Verortung der Gründung und Betätigung freiwilliger Berufsvereinigungen in Art 11 EMRK bei der Auslegung des § 4 ArbVG zu berücksichtigen. MaW, die in § 4 Abs 2 ArbVG formulierten Anforderungen an die Kollektivvertragsfähigkeit sind in einer Weise auszulegen, dass sie dem angestrebten legitimen Ziel, nämlich eine volkswirtschaftlich verträgliche Lohnpolitik sicherzustellen, gerecht werden, ohne Berufsvereinigungen in ihrem Bestand und ihrer Betätigung in unangemessener Weise zu behindern (idS bereits Grillberger, ZAS 1984, 96).

3.
Zur Auslegung des § 4 ArbVG

Die rechtliche Begründung des VwGH im vorliegenden Verfahren ist vom Versuch geprägt, diesen Spagat zu schaffen. Denn einerseits will der VwGH durch seine Lesart der Z 3 zweifelsfrei sicherstellen, dass nur Akteure mit einer „gesamtwirtschaftlich fühlbaren“ Wirkmacht (VwGH 24.11.2010, 2010/08/0148; VwGH 3355/79 VwSlg 10.896A) Zugang zum Kollektivvertragssystem erhalten. Das wird klar zum Ausdruck gebracht. Andererseits vertritt er, dass diese nicht allein anhand der schieren Anzahl der Mitglieder, sondern auch an der durch diese vertretenen AN zu beurteilen ist. Das gilt jedenfalls für die AG-Seite, da auf AN-Seite das eine mit dem anderen ohnehin Hand in Hand geht. MaW: eine gering(er)e Anzahl an Mitgliedern kann durch eine hohe Anzahl vertretener AN kompensiert werden.

Mit Blick auf den Gesetzeszweck hat diese Lesart viel für sich. Dem Gesetzgeber ging es mit den in § 4 Abs 2 ArbVG formulierten Kriterien der Kollektivvertragsfähigkeit darum, die Geltung möglichst breitflächiger Kollektivverträge sicherzustellen. Ziel war es, dass möglichst einheitliche Arbeitsbedingungen für möglichst viele oder gar alle AN eines bestimmten „Faches“ iSd Z 2 gelten. Denn die Anwendung unterschiedlicher Arbeitsbedingungen innerhalb desselben Betätigungsfeldes birgt das Risiko einer wechselseitigen Orientierung und des daraus resultierenden Strebens nach Angleichung (nach oben) bzw erneuter Abgrenzung. Das kann bei konkurrierenden Interessenvertretungen zu einem wechselseitigen Aufschaukeln insb im Lohnbereich mit negativen gesamtwirtschaftlichen Effekten führen. Diese vom Gesetzgeber intendierte Zielsetzung (bestätigend auch VwGH 2011/08/0230 VwSlg 18.676A = DRdA 2014, 314 [Felten] = ZAS 2014, 80 [Tomandl]; VwGH 2010/08/0148 ARD 6178/4/2011) lässt sich daher tatsächlich am effektivsten dadurch sicherstellen, indem nur solche freiwilligen Berufsvereinigungen zu Kollektivvertragsverhandlungen zugelassen werden, deren Wirken möglichst viele AN desselben „Faches“ erfasst. Deshalb sind auch gesetzliche Interessenvertretungen bereits ex lege kollektivvertragsfähig, da die Pflichtmitgliedschaft genau das gewährleistet. Zur Erreichung des Gesetzeszweckes ist es aber tatsächlich nicht erforderlich, dass auf AG-Seite eine entsprechend hohe Anzahl von Mitgliedern wie auf AN-Seite nachgewiesen wird. Vielmehr ist die Anzahl der vom perspektivisch abgeschlossenen KollV erfassten Arbeitsverhältnisse entscheidend. Vor diesem Hintergrund lässt sich mit dem VwGH argumentieren, dass der isolierte Beleg einer entsprechend hohen Anzahl an Mitgliedern für den Nachweis einer maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung überschießend ist. Das läuft auf eine grundrechtsfreundliche Interpretation des § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG hinaus, die tendenziell mehr Akteure zum System zulässt.

Dieser von teleologischen Überlegungen geprägten Lesart des VwGH steht allerdings der Wortlaut des § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG entgegen, der dezidiert davon spricht, dass die maßgebende wirtschaftliche Bedeutung anhand der Zahl der Mitglieder zu bestimmen ist. Hinzu kommt, dass nicht nur die Zahl der Mitglieder, sondern auch der „Umfang der Tätigkeit“ gem Z 3 zu berücksichtigen ist. Beides muss kumulativ vorliegen, wie sich zweifelsfrei aus der Konjunktion „und“ ergibt. Der VwGH vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass zu prüfen sei, ob sich der Berufsverband gemäß den selbst gesteckten Tätigkeiten mit Erfolg betätigt (VwGH 2011/08/0230 VwSlg 18.676A = DRdA 2014, 314 [Felten] = ZAS 2014, 80 [Tomandl]; VwGH 2010/08/0148 ARD 6178/4/2011). Das setzt voraus, dass sein Wirken gesamtwirtschaftlich spürbar ist, was in Bezug auf die beabsichtigte Befugnis, Kollektivverträge abzuschließen, impliziert, dass auch eine entsprechende Anzahl von Dienstverhältnissen vom Wirken erfasst wird. MaW, die Anzahl der erfassten Dienstverhältnisse bestimmt auch den Umfang der tatsächlichen Tätigkeit. Die Frage, wie viele Dienstverhältnisse letztlich betroffen sind, ließe sich daher auch – nach dem Wortlaut sogar stimmiger – im Rahmen der Prüfung des „Umfangs der Tätigkeit“ abhandeln. Selbst eine solche Lesart spricht aber noch nicht gegen das Ergebnis des VwGH, da sich diese zwei Kriterien (Anzahl der Mitglieder und Umfang der Tätigkeit) nicht bloß als nebeneinanderstehende Silos, sondern auch als kommunizierende Gefäße verstehen lassen. Das entspricht im Ergebnis der Lösung des VwGH: Wenn die Anzahl der Mitglieder niedrig(er) ist, so muss die Anzahl der erfassten Dienstverhältnisse umso größer sein, damit gesamthaft noch von einer maßgebenden wirtschaftlichen Bedeutung gesprochen werden kann. Wortlaut und Systematik des § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG geben dieses Verständnis durchaus her; der Telos sowieso (idS wohl auch im Ergebnis Mosler in Gahleitner/Mosler [Hrsg], ArbVG6 § 4 Rz 42). 464

Freilich ist nicht klar, in welchem Verhältnis bzw in welcher Dimension diese beiden Gefäße miteinander kommunizieren müssen, damit die Z 3 erfüllt ist. Vor allem aber scheint der VwGH davon auszugehen, dass es keine absolute Untergrenze an (absoluten oder relativen) Mitgliedern geben muss (vgl Rz 18-20). Das hieße, dass auch ein Verband mit nur zwei Mitgliedern die Kollektivvertragsfähigkeit erlangen könnte, wenn diese beiden insgesamt genug Arbeitsverhältnisse hinter sich vereinen können (idS tatsächlich OEA 14/OEA/1972 Arb 9000 noch zu § 3 KollVG, kritisch damals bereits Mayer-Maly, ZAS 1973/15, 115). Eine solche rein am Telos orientierte Interpretation lässt sich nur schwer mit dem Wortlaut des § 4 Abs 2 Z 3 ArbVG vereinbaren. Auch die historische Entwicklung des Kollektivvertragsrechts spricht dagegen. Waren in der Ersten Republik noch einzelne AG sowie mehrere AG berechtigt, Kollektivverträge rechtswirksam abzuschließen, wurde mit dem KollVG 1947 diese Befugnis Berufsvereinigungen (vgl Pkt 1) vorbehalten. Eine Berufsvereinigung muss somit etwas anderes sein als ein einzelner oder mehrere AG. Damit ist zum einen die „innere Verfasstheit“ gemeint, zum anderen aber auch die Anzahl der AG (idS bereits Mayer-Maly, ZAS 1973/15, 115), sonst hätte der Gesetzgeber des KollVG im Gegensatz zu jenem des EAG nicht eine maßgebende wirtschaftliche Bedeutung vermöge der Anzahl der Mitglieder gefordert. Das legt nahe, dass auch nach dem ArbVG eine absolute Untergrenze an Mitgliedern erfüllt sein muss. Vor diesem Hintergrund erscheint die Beurteilung des BVwG im konkreten Fall, die Kollektivvertragsfähigkeit zu versagen, weil der beantragende Verband unter 5 % der möglichen Mitglieder vertritt, durchaus vertretbar.