Berger/Hohmeyer (Hrsg)Betriebsräte in deutschen Unternehmen. Von der Weimarer Republik bis heute

Böhlau Verlag, Köln 2024, 266 Seiten, gebunden, € 49,–

JOHANNES KIESS (LEIPZIG)

Mit „Betriebsräte in deutschen Unternehmen. Von der Weimarer Republik bis heute“ liegt ein notwendigerweise im Umfang und Breite begrenzter, aber überaus informativer und für ein besseres Verständnis der Mitbestimmung in Deutschland instruktiver Sammelband vor. Er spricht durch seine Anlage und die Einbindung sozialwissenschaftlicher Beiträge gerade nicht „nur“ Historiker:innen an. Auch für die Geschichtswissenschaft ist bereichernd, das unterbeleuchtete Thema Mitbestimmung in den Fokus zu stellen. Dazu unten mehr. Der Band wurde von Stefan Berger – er ist Professor für Sozialgeschichte und Direktor des Instituts für soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum – und Andrea Hohmeyer – sie leitet das Konzernarchiv des Spezialchemieunternehmens Evonik Industries AG – herausgegeben. Die Herausgebenden wollen an das Standwerk von Werner Milert und Rudolf Tschirbs (Die andere Demokratie: betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Bd 52 [Klartext, 2012]) anknüpfen und streben eine „Konkretisierung dessen, was Mitbestimmung im Alltag Deutschlands von den 1920er-Jahren bis zur Gegenwart bedeutet hat“ (Berger/Hohmeyer: 23) an. Außerdem beruht der Band auf einem Symposium, welches durchgeführt wurde als Kooperation der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets, des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum sowie des Konzernarchivs des Unternehmens Evonik. Letztere Bestände umfassen vier Vorgängerunternehmen und dienten als Grundlage des Beitrags von Ralf Peters zur „‚Mitbestimmung‘ in der NS-Zeit. Beobachtungen in der Chemischen Industrie“. Darüber hinaus umfasst der Band Beobachtungen zur Stahl-, Bergbau- und Maschinenbauindustrie, zu pharmazeutischen Unternehmen, kulturhistorischen Museen, sowie aktuelle politikwissenschaftliche Beiträge und auch (kritische) Untersuchungen zu den Potenzialen transnationaler Mitbestimmung.

Nach einer informativen Einleitung geht der erste Beitrag von Werner Milert auf die Anfänge der betrieblichen Mitbestimmung in der Weimarer Republik ein. Diese ersten Institutionalisierungen waren zunächst vor allem Resultat des Drucks sozialer Bewegungen gewesen, die konkrete Ausgestaltung war aber auch abhängig von Kompromissen (etwa das Vaterländische Hilfsdienstgesetz von 1916 während des Krieges), staatlichen Versuchen, sozialistische Bestrebungen zu entkräften, und der in der Unternehmerschaft vorherrschenden christlichen Soziallehre sowie paternalistischen, gleichwohl wohlfahrtlichen Vorstößen dieser. Die Anlage der betrieblichen Mitbestimmung im Gesetz von 1920 dann ist auch für die Entwicklung in der Bundesrepublik prägend gewesen. Zunächst allerdings, darauf gehen die Beiträge von Rudolf Tschirbs und Ralf Peters ein, wurde die Mitbestimmung unter den Nazis faktisch abgeschafft. Die Arbeitsbeziehungen waren neben der nationalsozialistischen Ideologie und dem Führerprinzip durch die Idee der Werksgemeinschaft geprägt. Die meisten Unternehmer waren darüber zumindest nicht unglücklich.

Nach dem Krieg konnten Gewerkschaften und Betriebsräte die Mitbestimmung auch auf der Basis der in der Weimarer Republik entstandenen Institutionen neu aufbauen. 1961 waren 82 % von etwa 144.000 Betriebsräten Mitglied einer DGB-Gewerkschaft (Lauschke, S 111). Das führte dazu, dass Betriebsräte sehr großen Einfluss auf die Gewerkschaften selbst hatten, die sich nicht zuletzt deshalb auch recht bald von antikapitalistischen Positionen verabschiedeten. Eine neue Dynamik brachten dann die Novellierung des Betriebsrätegesetzes und die allgemeine gesellschaftliche Modernisierung, nicht zuletzt die „Mehr Demokratie wagen“-Programmatik unter Willy Brand. Im Anschluss allerdings, so Bernhard Gotto im folgenden Beitrag zu den 1970er- und 1980er-Jahren pointiert, „erreichte die Unternehmensmitbestimmung in den vier Jahrzehnten bis 2016 breite Anerkennung als unverzichtbarer Bestandteil des bundesdeutschen Sozialgefüges, dafür büßte sie alle Anstößigkeit und ihr in die Zukunft gerichtetes Potenzial als Demokratisierungsbegriff ein“ (S 119).

Die anschließenden Beiträge lösen sich von der chronologischen Betrachtung und fokussieren auf aktuelle sowie politikwissenschaftliche Fragestellungen. Thomas Haipeter diskutiert institutionentheoretisch, wie sich die Mitbestimmung auch künftig weiterentwickelt. Das Fazit fällt kritisch aus: „Unternehmen nehmen neue Kontextbedingungen wie Globalisierung, Finanzialisierung oder die Organisationsschwäche der Gewerkschaften zum Anlass, die Mitbestimmung abzuschütteln oder zu vermeiden“ (S 165). Manfred Wannöffel argumentiert für eine Stärkung der Qualifizierung von Betriebsräten, da deren Kompetenzen ihre zentrale Machtressource sind. Holm-Detlev Köhler und Carolina Dantas Madureira zeigen anhand zweier Fallstudien, dass „[l]ediglich nationale Regierungen und Gewerkschaftsbünde [...] in Einzelfallsituationen eingreifen [können], aber konstante und systematische Arbeitnehmerinteressenvertretungen auf transnationaler Ebene [...] derzeit eine ferne Utopie [bleiben]“ (S 202), während Sophia Friedel Hoffnungen dämpft, dass das deutsche Modell in anderen (europäischen) Ländern großen Anklang findet. Eine erinnerungspolitische Perspektive nimmt Wolfgang Jäger ein, 503 der zeigt, dass Museen und Firmengeschichten wenig über Mitbestimmung erzählen. Abschließend plädiert Walther Müller-Jentsch für den Ausbau der Mitbestimmung hin zur Dualität, also die Gleichberechtigung von Arbeit und Kapital bei der Unternehmungsführung, da nur so die gesellschaftliche Integration gewährleistet werden kann.

Durch den Band zieht sich die Kernaussage, dass die Unternehmen zu allen Zeiten mehr oder weniger zur Gewährung von Mitbestimmung gezwungen werden mussten. Das trifft zum einen auf die Einführung erster Mitbestimmungselemente und dann die Institutionalisierung in der Weimarer Republik zu, die auf die klassische „Herr-im-Haus“-Haltung der Unternehmer stieß. Entsprechend unterstützten jedenfalls Teile der Unternehmerschaft die nationalsozialistische Umgestaltung der Arbeitsbeziehungen. Auch wenn sicher viele Gegensätze bestehen blieben, so herrschte doch „Interessen-Opportunität zwischen der Industrie-Elite [nicht nur] an der Ruhr und den nationalsozialistischen Machthabern: die soziale Entrechtung des Arbeitsbürgers“ (S 67) wollten beide. Wie gerade die Unternehmensbiografien zeigen, ist Mitbestimmung iS einer „ausgeprägten werksgemeinschaftlichen Tradition“ durchaus positiv besetzt (S 244). Allerdings zeigt sich eben auch eine „zurückhaltende, zum Teil auch ablehnende Haltung gegenüber den Akten staatlicher Gesetzgebung zur Mitbestimmung. Für die betriebliche Mitbestimmung ist auch eine gewisse gewerkschaftliche Distanz zu konstatieren“ (ebd). Diese Feststellungen machen den Band für eine kritische Perspektive auf Wirtschaft, Mitbestimmung und Demokratie insgesamt zu einer wertvollen Lektüre. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive bestätigt der Band den konflikttheoretischen Blick, der nicht nur konkrete Konflikte fokussiert, sondern auch die beständigen Konflikte um den Konfliktrahmen (Fehmel, Konflikte um den Konfliktrahmen: Die Steuerung der Tarifautonomie [2010]) in den Blick nimmt. Gerade Krisen bzw das Krisenframing (Kiess, Die soziale Konstruktion der Krise: Wandel der deutschen Sozialpartnerschaft aus der Framing-Perspektive [2019]) der Akteure eröffnet institutionelle Veränderungsmöglichkeiten – in die eine wie in die andere Richtung. Die Forderung von Müller-Jentsch nach Dualität ist gerade vor dem Hintergrund der aufgezeigten Defensive der Mitbestimmung wichtig.