WahnschaffeRegulierung der Arbeitnehmerüberlassung im Lichte des Unions- und Verfassungsrechts

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, 635 Seiten, kartoniert, € 139,90

MICHAEL JEHLE (INNSBRUCK)

Die beteiligten Akteur:innen der AN-Überlassung – im österreichischen Normenbestand und der hiesigen Rechtswissenschaft als Arbeitskräfteüberlassung bekannt – verfolgen unterschiedliche, interessengeleitete Ziele, auf Basis derer sie sich entscheiden, an diesem atypischen Beschäftigungsverhältnis dreipersonaler Art zu partizipieren. Diese jeweiligen Interessen haben nicht nur in einfachem Gesetzesrecht der einzelnen EU-Mitgliedstaaten Eingang gefunden: Auch der Unionsgesetzgeber nimmt die Chancen und Risiken der AN-Überlassung ins Visier seiner Rechtsetzung (vgl dazu Schrattbauer in Schrattbauer [Hrsg], AÜG [2020] Einführung Rz 10 ff und die ErwGr 9, 11 f, 14 und 23 der Leiharbeits-RL 2008/104/EG). Darüber hinaus werden die einfachgesetzlichen Regelungen – in Deutschland im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (dAÜG) niedergelegt – auch durch verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen limitiert.

Thies Wahnschaffe hat die Regulierung der ANÜberlassung und die Spannungsfelder, die sich aus den diesbezüglich korrespondierenden Bestimmungen des Unions- und Verfassungsrechts ergeben, im zu besprechenden Werk einer ausführlichen Untersuchung unterzogen. Dabei handelt es sich um seine im WS 2022/23 von der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover angenommene Dissertation, in der Rsp und Literatur im Wesentlichen bis März 2023 Berücksichtigung fanden.

Die Arbeit Wahnschaffes geht der Frage nach, inwieweit die zentralen Regulierungsentscheidungen im dAÜG konkret den unions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Das Werk gliedert sich in fünf Kapitel: Nach einer einleitenden Problemstellung und dem Überblick über den Forschungsstand wird im zweiten Kapitel die AN-Überlassung als arbeitsrechtliches, soziales und ökonomisches Phänomen vor allem betriebswirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch kontextualisiert, wobei insb die Interessenlagen der beteiligten Akteur:innen von AN-Überlassungen – in Deutschland als Verleiher:in, Entleiher:in und Leih- AN bezeichnet (vgl dazu Auer-Mayer/Baringer, Standortfaktor Arbeitsrecht [2024] Rz 5.73 und § 1 Abs 1 dAÜG) – herausgearbeitet werden. Die Betrachtung der 501 aus rechtlicher Sicht relevanten Parteien dieses dreipersonalen Verhältnisses wird um weitere, gewinnbringende Sichtweisen ergänzt, nämlich jene der Stammbelegschaft der:des Entleiherin:Entleihers und die des Staates. Im dritten Kapitel erfolgt sodann die dogmatische Grundlegung. Wahnschaffe analysiert detailliert die unionsrechtlichen Vorgaben der Leiharbeits-RL und die einschlägigen Bestimmungen des Primärrechts. Daran anschließend widmet er sich in diesem Kapitel auch den verfassungsrechtlichen Maßstäben des Grundgesetzes – namentlich der Berufsfreiheit, der Koalitionsfreiheit, dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip – und arbeitet deren Bedeutung für die rechtliche Gestaltung der AN-Überlassung sorgfältig heraus. In Kapitel 4 wird sodann die Vereinbarkeit zentraler Elemente des dAÜG an den zuvor dargelegten rechtlichen Maßstäben überprüft. Im fünften Kapitel fasst Wahnschaffe die wesentlichen Ergebnisse zusammen und schließt mit einer Abschlussbewertung und einem Ausblick seine Untersuchung.

Zentral für die unionsrechtliche Analyse in Wahnschaffes Werk und damit auch aus österreichischer Sicht von großem Interesse ist die Behandlung des Merkmals „vorübergehend“ in Art 1 Abs 1 Leiharbeits-RL. Der Autor widmet diesem Begriff mehrere Abschnitte (S 142 ff und 488 ff) und kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus dem unionsrechtlichen Normtext weder ein Verbot dauerhafter AN-Überlassung noch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Festlegung einer verbindlichen Höchstdauer ableiten lasse. Die Leiharbeits-RL enthalte – so Wahnschaffe – lediglich arbeitnehmer:innenschützende Mindestvorgaben, ohne eine verbindliche Strukturvorgabe zur zeitlichen Begrenzung der Überlassung zu etablieren. Die Formulierung „vorübergehend“ sei daher als deskriptive, nicht als normative Kategorie zu verstehen.

Anders als das österreichische AÜG enthält das dAÜG den Begriff „vorübergehend“ (§ 1 Abs 1 Satz 4 dAÜG) sowie eine Überlassungshöchstdauer (§ 1 Abs 1b dAÜG) in seinem Normtext. Die Frage, wie die Formulierung in Art 1 Abs 1 Leiharbeits-RL zu verstehen ist und welcher Gehalt ihr zukommt, ist somit insb aus österreichischer Sicht von Interesse und in der Literatur umstritten. Ein Teil der österreichischen Lehre (Schrattbauer, DRdA 2025, 181 [188 f]; F. Schörghofer, Grenzfälle der Arbeitskräfteüberlassung [2015] 101 ff) plädiert dafür, dass sich aus dieser Norm der Leiharbeits-RL ein Verbot von Dauerüberlassungen ergebe, von einem anderen Teil der Lehre (Greiner, ZAS 2023/25, 126 [129 ff]; ders, ZESAR 2024, 111 [112 ff]) wird vertreten, dass sich aus der Leiharbeits-RL kein dahingehendes Verbot ergebe. Der EuGH hat sich noch nicht explizit mit der Frage befasst, ob die Leiharbeits-RL ein Verbot von durchgehenden Dauerüberlassungen enthält. Aufeinanderfolgende Überlassungen (sogenannte Kettenüberlassungen), die in einer nicht bloß vorübergehenden Beschäftigungsdauer resultieren und für deren Heranziehen die:der Entleiher:in keine objektive Erklärung liefern kann, sind jedoch als missbräuchlich iSd Art 5 Abs 5 Satz 1 Leiharbeits-RL zu qualifizieren (EuGH C-232/20, Daimler, ECLI:EU:C:2022:196). Folgt man Wahnschaffe und der Argumentation des zweiten Teils der österreichischen Lehre, nämlich dass die Leiharbeits-RL kein Verbot von Dauerüberlassungen enthält, würde dies für den österreichischen Gesetzgeber bedeuten, dass kein Anpassungsbedarf besteht, da das österreichische AÜG den unionsrechtlichen Anforderungen – uU im Wege einer unionsrechtskonformen Interpretation des § 8 Abs 2 AÜG – genügen würde.

Kritisch anzumerken ist, dass Wahnschaffe, obwohl sich sein Werk ausweislich auf dem Stand von März 2023 befindet, Änderungen des dAÜG, die nach der (großen) Novelle 2017 eingetreten sind, in seiner Arbeit nicht berücksichtigt. Vielmehr bezeichnet er die 2017 mit dBGBl I 2017, 258 eingetretene Novellierung des dAÜG an mehreren Stellen als „letztmalige“ oder „jüngste“ Novellierung (bspw S 21, 24, 46, 88, 341, 406, 433). Zwar handelt es sich um die letzte größere Novelle des dAÜG, jedoch sind bis März 2023 acht – zugegebenermaßen inhaltlich kleinere – Änderungen des dAÜG eingetreten. Zumindest auf eine der Änderungen hätte das vorliegende Werk, das für sich in Anspruch nimmt, die Regulierung der AN-Überlassung ua im Lichte des Unionsrechts zu betrachten, jedoch näher eingehen müssen – nämlich auf die durch die Transparenz-RL 2019/1152/EU notwendig gewordenen und mit dBGBl I 2022, 466 pünktlich zum Ende der Umsetzungsfrist (Art 21 Transparenz-RL) in §§ 11, 13a und 16 umgesetzten Änderungen des dAÜG (vgl zu den diesbezüglichen Änderungen prägnant: Kolbe, EuZA 2023, 3 [17 f]). Denn die Transparenz-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten gem Art 4 Abs 2 lit f leg cit, der:dem AG im Rahmen ihrer:seiner Pflicht zur Unterrichtung vorzuschreiben, dass Leih-AN über die Identität der entleihenden Unternehmen, wenn und sobald bekannt, schriftlich (Art 3 leg cit) informiert werden. Umgesetzt wurde diese Verpflichtung in § 11 dAÜG; in Österreich gab es diesbezüglich keinen Handlungsbedarf, da in § 12 Abs 1 Z 1, 7 und 8 AÜG schon seit Inkrafttreten des AÜG eine diesbezügliche Verpflichtung für Überlasser:innen vorgesehen ist.

Aus dem Blickwinkel der forschungsgegenständlichen AN-Überlassung im unionalen Kontext hätte auch Art 1 Abs 5 Transparenz-RL nicht ausgeklammert werden dürfen, wonach die Mitgliedstaaten bestimmen können, welche Personen für die Erfüllung der durch diese RL auferlegten Verpflichtungen der:des AG verantwortlich sind, solange alle diese Verpflichtungen erfüllt werden. Denn die Mitgliedstaaten können nach Art 1 Abs 5 Satz 2 Transparenz-RL auch entscheiden – was vor allem in einem verleiher:innenbezogenen Modell wie dem dAÜG, wo ein Arbeitsvertrag nur zu der:dem Verleiher:in besteht, von Interesse sein kann –, dass die Richtlinienverpflichtungen ganz oder teilweise einer natürlichen oder juristischen Person übertragen werden müssen, die keine Partei des Arbeitsverhältnisses ist. Diese Möglichkeit der Übertragung der Unterrichtungspflichten der:des AG (= der:des Verleiherin:Verleihers) – bspw auf die:den Entleiher:in – hätte das Gesamtwerk mE aus unionsrechtlicher Perspektive optimal abgerundet und hätte bspw im Rahmen der Darstellung der gesetzgeberischen Grundentscheidungen bzw der Darlegung der Regulierungsentscheidungen des dAÜG (Kapitel 4.A. und 4.B.) Eingang finden können bzw sollen.

Zusammengefasst leistet das Werk Wahnschaffes einen verdienstvollen Beitrag zur juristischen Auseinandersetzung mit einem nach wie vor hochaktuellen und praktisch relevanten Thema (siehe nur exemplarisch EuGH C-311/21, TimePartner Personalmanagement GmbH 502, ECLI:EU:C:2022:983; EuGH C-441/23, Omnitel Comunicaciones ua, ECLI:EU:C:2024:916; OGH 9 ObA 18/24y ASoK 2024, 367). Aufgrund des naturgemäß auch in Österreich bestehenden unionsrechtlichen Einflusses auf den Bereich der Arbeitskräfteüberlassung und den sich nach wie vor ergebenden diesbezüglichen Problemstellungen (siehe dazu jüngst Schrattbauer, DRdA 2025, 181 [182 ff]) lohnt sich ein Blick auf das Werk von Wahnschaffe auch für die:den österreichische:n Leser:in, nicht nur um auf eine profunde Aufarbeitung der relevanten primär- und sekundärrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts zurückzugreifen, sondern vielmehr auch um ein anderes verleiher:innenbezogenes Modell der AN-Überlassung – im Vergleich zum österreichischen Modell – im europäischen Kontext kennenzulernen sowie dessen Stärken und Schwächen, auch und insb im Verhältnis zur Leiharbeits-RL, zu identifizieren.