„Die Spruchpraxis der Einigungsämter ist für die Gewerkschaftsbewegung von großer Bedeutung.“ Arbeiterschaft und Einigungsämter in der Ersten Republik
„Die Spruchpraxis der Einigungsämter ist für die Gewerkschaftsbewegung von großer Bedeutung.“ Arbeiterschaft und Einigungsämter in der Ersten Republik
Die folgenden Bemerkungen versuchen einen politikgeschichtlichen Überblick über das Verhältnis der Gewerkschaften zu den durch das Einigungsamtsgesetz (EAG) gegründeten Einigungsämtern zu geben. Hatte man mit den Gewerbegerichten in der Zeit der Monarchie nicht immer die besten Erfahrungen gemacht, so setzte man in die Einigungsämter doch gewisse Erwartungen.
Eine der zentralen Forderungen der Gewerkschaften im Laufe des Ersten Weltkrieges galt der Entschärfung des „Kriegsleistungsgesetzes“ (KLG)2, welches die Arbeiterschaft weitgehend rechtlos machte. In einer vom Sekretär des Österreichischen Metallarbeiterverbandes Franz Domes am Arbeitertag 19163 vorgelegten Resolution wird festgestellt: „Das Kriegsleistungsgesetz hat den freien Arbeitsvertrag beseitigt, die Macht der Unternehmer aller Schranken entledigt, die Rechte der Arbeiter dagegen außer Kraft gesetzt.
“4 In einer von über eintausend Arbeitern besuchten Versammlung wurde denn auch zur Abmilderung des KLG die „Errichtung von Beschwerde und Lohnkommissionen
“ gefordert.5 Verunsichert durch die sich verschlechternde militärische Lage und durch eine Streikwelle im Winter 1916/17 erließ die monarchische Regierung schließlich eine Verordnung, mit der Beschwerdekommissionen in den militärischen Zwecken dienenden Betrieben geschaffen wurden.6 Die für bestimmte Sprengel und Betriebe errichteten Beschwerdekommissionen7 hatten aus fünf Personen zu bestehen: Einem Vertreter des Ministeriums für Landesverteidigung als Vorsitzenden, einem Vertreter des jeweils fachlich zuständigen Ministeriums, einem vom Justizministerium ernannten Richter und jeweils einen Vertreter der AN und AG. Aufgabe der Kommissionen, in welchen sich die Beschwerde führenden Parteien ua auch durch Berufsvereinigungen vertreten lassen konnten, war die Schlichtung bei Differenzen, welche die Löhne und die Arbeitsbedingungen sowie die Auflösung des Arbeitsverhältnisses betreffen. Für die Gewerkschaften waren die Beschwerdekommissionen „von nicht zu unterschätzender Bedeutung
“, da es zu einer Verbesserung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse in den militärischen Zwecken dienenden Betrieben kam.
Nach dem Zusammenbruch des monarchischen Systems wurde das Mitglied der Gewerkschaftskommission der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften Ferdinand Hanusch als Staatssekretär für soziale Fürsorge am 31.10.1918 ernannt. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Umwandlung der bestehenden Beschwerdekommissionen in Einigungsämter, damit in der „Übergangswirtschaft“ Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis rasch geschlichtet werden konnten.8 Die neu gegründeten Einigungsämter waren für aus dem Arbeitsverhältnis entstandene Konflikte zwischen mehreren Arbeitern oder Angestellten und ihren AG zuständig. Sie bestanden aus einem Richter als Vorsitzenden, einem vom zuständigen Staatssekretariat ernanntes Mitglied und einem Vertreter der AN und AG. Vom Vorsitzenden war in einem Streitfall immer zuerst ein Vergleich zu versuchen, sollte dieser nicht gelingen, so war ein Schiedsspruch zu fällen, dem sich die Streitparteien allerdings nicht unterwerfen mussten. Die Wirksamkeit dieser provisorischen Einigungsämter dürfte jedoch recht gering gewesen sein. Karl Pribram, damals ein im Staatssekretariat Hanusch beschäftigter Beamter,9 berichtet, dass die Gewerkschaften damals lieber beim Staatssekretär intervenierten, als sich einer Schlichtung im Einigungsamt zu unterwerfen.10 495 Ebenso ließen sich die Unternehmer vom Staatssekretariat ihre Zustimmung zu Forderungen von AN-Seite durch finanzielle Hilfe oder um Zuteilung von mehr Materialien oder Kohle abkaufen. In manchen Konflikten, so etwa bei Lohnkämpfen in der Metallindustrie, wurde sogar Staatskanzler Karl Renner als Schlichtungsinstanz angerufen.
Führten die provisorischen Einigungsämter in den ersten Monaten somit ein eher beschauliches Dasein, so rückten sie im Rahmen der Verhandlungen zum Betriebsrätegesetz (BRG)11 in den Mittelpunkt des Interesses. Als es um die Frage ging, welcher Instanz die Lösung betrieblicher Konflikte, die im Zusammenhang mit Rechten und Pflichten von Betriebsräten stehen, zugewiesen werden soll, zeigten – wie Pribram berichtet – „die Vertreter der Gewerkschaften wenig Neigung, mit dieser Aufgabe die seit Jahrzehnten in Österreich bestehenden Gewerbegerichte zu betrauen
“.12 Pribram meint, „psychologisch ist diese Haltung der Gewerkschaftsführer vielleicht am einfachsten mit ihrer tiefverwurzelten Abneigung gegen alle aus der Kaiserzeit stammenden Institutionen zu erklären, es widerstrebt ihnen, neuen Wein in alte Flaschen zu füllen
“.13 Andererseits schien es vernünftig, die provisorischen Einigungsämter mit der Aufgabe zu betrauen, in Betriebsratsangelegenheiten Recht zu sprechen, da sie schon bisher mit ähnlichen Konflikten konfrontiert waren. Das BRG bestimmte in § 13: „Über Streitigkeiten, die zwischen den Beschäftigten eines Betriebes oder zwischen ihnen und dem Betriebsinhaber aus der Errichtung und Geschäftsführung eines Betriebsrates insbesondere über den Umfang des Rechts- und Pflichtenkreises der Betriebsräte entstehen, entscheidet das Einigungsamt.
“14 Gleichzeitig wurde normiert, dass ein EAG zu schaffen war und bis zu dessen Beschluss die vorhandenen provisorischen Einigungsämter mit der Aufgabe zu betrauen waren. In dem nach dem BRG zugewiesenen Aufgaben hatte sich das Einigungsamt aus einem vom Staatssekretär für Justiz zu ernennenden Vorsitzenden und einem AN- und einem AG-Vertreter zusammenzusetzen. Das BRG trat am 15.7.1919, zwei Monate nach der Beschlussfassung, in Kraft. Die Betrauung der Einigungsämter mit Betriebsratskonflikten dürfte sehr erfolgreich gewesen sein, denn noch vor der Beschlussfassung über das EAG am 4.12.1919 berichtete Dr. Großmann von der Gewerkschaft der Industrieangestellten, dass er „in ungefähr 150 Fällen die Betriebsräte beim Einigungsamt vertreten
“ hätte.15 Demgegenüber stellte die Zeitschrift „Die Arbeit“, das „Zentralorgan der Arbeitgeber für die Nationalstaaten
“, in einem Leitartikel deprimierend fest, dass nunmehr die AG „durch ein engmaschiges Netz von Gesetzen über das Arbeitsverhältnis in ihrer Bewegungsfreiheit so stark geknebelt [sind], dass der Betriebsinhaber im Unternehmen fast gar nichts mehr zu sagen hat
“.16
Das BRG wies dem Einigungsamt die Aufgabe zu, alle aus der Errichtung und Geschäftsführung von Betriebsräten entstehenden Streitigkeiten zu regeln.17 Weiters sollte der BR die Durchführung und Einhaltung kollektiver Arbeitsverträge überwachen.18 Da der KollV bislang im österreichischen Arbeitsrecht kaum vorkam,19 war es nur recht und billig – wie in den Erläuternden Bemerkungen zur Gesetzesvorlage ausgeführt wird20 –, diese Causa zusammen mit den angekündigten Rechtsvorschriften über die Einigungsämter zu regeln. Darüber hinaus sollten die Einigungsämter auch auf das Zustandekommen von Kollektivverträgen hinwirken: „So ergab sich der innere Zusammenhang zwischen Einigungsamt und Kollektivvertrag, der darin seinen Ausdruck findet, dass (...) die Behörde und jenes Gebiet des materiellen Rechts, das den wichtigsten Teil ihrer Tätigkeit bildet, ihre Regelung in einem Gesetze erfahren.
“21) Den Einigungsämtern wurden drei Aufgaben zugewiesen: Als Schlichtungsstellen sollten sie auf eine gütliche Einigung bei Streitigkeit über Arbeitsverhältnisse hinwirken22, rechtsprechende Instanz waren sie in Angelegenheiten im Zusammenhang mit Betriebsräten nach § 13 BRG23 und als Tarifamt hatten sie beim Abschluss von Kollektivverträgen mitzuwirken, sie zu registrieren, Gutachten zu erstellen und für bestimmte Arbeitsverhältnisse Satzungen zu erlassen.24
Für die einigungsamtlichen Aufgaben als Schlichtungsstelle25 wollte der Gesetzgeber den Einigungsämtern eine „möglichst weitgehende Bewegungsfreiheit“ geben, damit es zu einer „gütlichen Beilegung des Streites“ kommen kann. Ein Schiedsspruch wurde jedoch nur dann wirksam, wenn sich ihm beide Streitparteien unterwarfen. Von Bedeutung war die Unterscheidung zwischen Einigungsamt und Gewerbegericht: „Von den Funktionen des Gewerbegerichtes unterscheidet sich die einigungsamtliche Tätigkeit dadurch, dass das Gericht konkrete Einzelfälle auf Grund gesetzlicher und vertragsmäßiger Bestimmungen zu entscheiden hat, während beim Einigungsamt regelmäßig ein Streit über die künftige Regelung von Arbeitsverhältnissen für ganze Gruppen von Arbeitern und Angestellten zur Austragung gelangt.
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Die rechtsprechende Tätigkeit des Einigungsamtes wurde im EAG sehr genau geregelt. Nach dem BRG § 13 sollte das Einigungsamt in Streitigkeiten, die sich aus der Errichtung, Wahl und Tätigkeit eines BR ergeben, entscheiden. Die Entscheidung des Einigungsamtes war endgültig, konnte somit nicht mehr angefochten werden. Das Einigungsamt hatte nach § 9 EAG – hier nur kursorisch zusammengefasst – zu entscheiden: a) bei Lohnfragen, die kollektiv nicht vereinbart werden können, wenn es zu keiner Einigung zwischen AN und AG kommt, b) bei Konflikten über die Begründung und Wahl von Betriebsräten und Vertrauensmännern, c) wenn es zu Streitereien über die Geschäftsführung und Aufgaben des BR kommt, d) bei einer Anfechtung von Kündigung oder Entlassung von AN durch den BR oder wenn ein Mitglied des BR oder ein Vertrauensmann vom AG in seiner Aufgabe eingeschränkt, gekündigt oder entlassen wird.
Als Tarifbehörde hatte das Einigungsamt die Kollektivverträge zu registrieren und kundzumachen. Erst durch die Kundmachung erlangt der KollV seine Unabdingbarkeit.27 Das Einigungsamt sollte auch beratend den Kollektivvertragspartnern zur Seite stehen. Die Gewerkschafter28 erwarteten sich dadurch, „dass es mitwirkt durch Personen, die die bestehenden gesetzlichen Hilfsmittel immer zur Hand haben
“, eine bessere Gestaltung der Kollektivverträge. Sie waren „fest überzeugt, dass bei richtiger Tätigkeit dieser Einigungsämter dem Arbeiter das Lohnrecht in hohem Maße gesichert ist“ und Streiks verhindert werden können. Darüber hinaus konnte das Einigungsamt einen KollV, der eine „überwiegende Bedeutung
“ hat, zur Satzung erklären, wodurch der KollV auch für jene im wesentlichen gleichartigen Arbeitsverhältnisse Geltung hat.29 Über Einsprüche gegen eine Satzung bzw über eine Satzung, die Gebiete von mehreren Einigungsämtern umfasst, hatte ein beim Staatsamt für soziale Verwaltung zu errichtendes Obereinigungsamt zu entscheiden.30 Das Obereinigungsamt war darüber hinaus mit der Aufsicht über die Einigungsämter betraut und hatte einen Kataster aller Satzungen zu führen.
In jedes Einigungsamt werden vom Staatssekretär für soziale Verwaltung nach Vorschlag der Berufsvereinigungen die gleiche Anzahl von AN und AG und deren Stellvertreter entsandt.31 Der Vorsitzende und sein Stellvertreter werden von den Staatsämtern für soziale Verwaltung und für Justiz gemeinsam bestimmt. Verhandelt wurde in Senaten, die vom Vorsitzenden für bestimmte Verhandlungsgegenstände oder für bestimmte Arbeitsverhältnisse eingesetzt werden. Ein Senat besteht aus dem Vorsitzenden oder seinem Stellvertreter und aus der gleichen Anzahl von Mitgliedern aus der Kurie der AN und AG.
Durch eine Vollzugsanweisung des Staatsamtes für soziale Verwaltung wurden Einigungsämter in Wien, Wiener Neustadt, St. Pölten, Linz, Graz, Leoben, Klagenfurt, Innsbruck und Dornbirn32, später auch in Salzburg33, Eisenstadt34 und Gmünd35 errichtet. Gemeinsam mit dem Staatsamt für Justiz wurden per Vollzugsanweisung die Geschäftsordnungen für die Einigungsämter und das Obereinigungsamt erlassen.36
In der Folge wurden in den Amtlichen Nachrichten des BM für soziale Verwaltung die Mitglieder der Einigungsämter und des Obereinigungsamtes verlautbart.37 Für das Obereinigungsamt38 wurden von den Gewerkschaften 18 zum Teil sehr prominente Gewerkschaftsangestellte und Mitglieder der Nationalversammlung nominiert: Als einzige Frau wurde Anna Boschek (1874-1957) bestellt, damals Beamtin der Gewerkschaftskommission der Freien Gewerkschaften. Anna Boschek war eine Pionierin der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, Wiener Gemeinderätin und Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung.39 Die Christlichen Gewerkschafter wurden vertreten durch den Nationalrat, Redakteur und Funktionär der christlichen Arbeitervereine Christian Fischer40 (1879-1934), durch Matthias Allinger (1879-1927), Obmann des christlichen Holzarbeiterverbandes und Landessekretär der christlichen Gewerkschaften Tirols, und den Sekretär Franz Ullreich41 (1881-1958), Mitglied des Wiener Gemeinderates. Die Freien Gewerkschaften sandten mehrere Nationalversammlungsmitglieder und Spitzengewerkschafter in das Obereinigungsamt, was als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass dieser neuen Institution höchster Wert beigemessen wurde: So etwa die Abgeordneten Heinrich Allina42 (1878-1953), Sekretär des Reichsvereins der Bank- und Sparkassenbeamten, Michael Dannereder43 (1879-1929), in Oberösterreich in der Gewerkschaft der Lebensmittelarbeiter tätig, Hans Muchitsch44 (1881-1858), Direktor des Verbandes der Krankenkassen für Steiermark und Kärnten, später Präsident der AK Steiermark, Karl Pick45 (1876-1938), Obmann des Zentralvereins der kaufmännischen Angestellten Österreichs, Josef Wiederhofer46 (1873-1924), 497 Sekretär des Verbandes der Metallarbeiter, und Johann Zwanzger47 (1864-1939), Obmann des Verbandes der Bergarbeiter. Auch alle übrigen Mitglieder der AN-Vertretung kamen aus dem Bereich der Gewerkschaften, wo sie zum Teil Spitzenfunktionen innehatten. Dies traf auch auf die bestellten „Ersatzmänner“ zu, unter denen sich als einzige Frau das Mitglied der Gewerkschaftskommission Anna Grünwald befand. Anna Grünwald48 (1883-1931) war auch Abgeordnete zum Niederösterreichischen bzw Wiener Landtag.
Die AG-Verbände nominierten kein Mitglied der Nationalversammlung in die AG-Kurie im Obereinigungsamt.49 Dennoch war die AG-Vertretung mit den Spitzenfunktionären der AG-Verbände und einigen bekannten Industriellen prominent besetzt: So etwa mit Dr. Felix Busson, dem Generaldirektor der Österreichischen Alpine Montan Gesellschaft, dem Generalsekretär des Hauptverbandes der Industrie Deutschösterreichs Dr. Max Kaiser, mit dem Obermann des österreichischen Arbeitgeberhauptverbandes Bernhard Ludwig, mit dem steirischen Hauptverbandssekretär Dr. Emanuel Weidenhoffer und mit den zwei Vizepräsidenten des Gremiums der Wiener Kaufmannschaft Franz Schallaböck und Dr. Lothar Weiss. Die weiteren Mitglieder waren Geschäftsführer und Prokuristen verschiedener Unternehmungen.
Das Staatsamt für Justiz bestellte im Einvernehmen mit dem Staatsamt für soziale Verwaltung den Sektionschef im Staatsamt für Justiz Dr. Felix Mayer-Mallenau zum Vorsitzenden des Obereinigungsamtes im Staatsamt für soziale Verwaltung.50
In der Folge wurden von den beiden Staatsämtern die Mitglieder und Vorsitzenden der Einigungsämter in ihren Amtsblättern bekanntgegeben. Die AN-Kurie des Einigungsamtes Wien51 wie auch der Einigungsämter in den Bundesländern setzte sich aus Gewerkschafter:innen aus der zweiten Funktionärsebene zusammen. Bemerkenswert ist, dass für Wien wieder zwei Frauen nominiert wurden: Die Sozialdemokratin Cäcilia Lippa (1867-1935),52 Beamtin im Verband der TextilarbeiterInnen, Obfrau der Wäscherinnen und Wiener Gemeinderätin sowie die Wiener Kunstblumenarbeiterin Minna (Wilhelmine) Swoboda53.
Die AG-Vertreter im Einigungsamt Wien waren zum Teil Unternehmer, Vorsitzende von Aktiengesellschaften und Gremialräte der Kaufmannschaft. Als Mitglieder in der AG-Kurie waren auch der Chefredakteur und Herausgeber der „Neuen Zeitung“ in Wien Hans Bösbauer54 und der Direktor der „Neuen Freien Presse“ Friedrich Fliegel55 gelistet.
1923 brachten Vertreter des Versicherungsverbandes eine Beschwerde gegen einen Satzungsbeschluss des Obereinigungsamtes am VwGH ein. Dieser gab zwar inhaltlich den Beschwerdeführern nicht recht, erklärte sich aber als Berufungsinstanz zuständig.56 Er begründete das damit, dass das Obereinigungsamt kein Gericht sei, somit als Verwaltungsbehörde angesehen werden muss, gegen deren Beschlüsse der VwGH als Garant der Verwaltung angerufen werden kann. Die AN-Vertretungen liefen gegen diese Rechtsauffassung Sturm. Abgesehen davon, dass die Höchstrichter wenig Ahnung vom Kollektivvertragswesen hätten, würde die Prüfung eines Kollektivvertrags- oder Satzungsbeschlusses durch den VwGH viel zu lange dauern. Bei Vorliegen eines VwGH-Beschlusses wären KollV oder Satzung in Anbetracht der Wirtschaftsentwicklung bereits überholt.57
Wenn auch – wie etwa in der Frage, ob auch eine nachträgliche Meldung an das Einigungsamt über die Kündigung eines BR zulässig sei58 – der VwGH iSd AN-Vertretung entschied, so lehnten ihn die Gewerkschaften als Berufungsinstanz ab und fanden dafür auch auf AG-Seite Unterstützung. Der Anlass in dieser Causa, gemeinsam tätig zu werden, ergab sich, als das Obereinigungsamt die Beschwerde eines BR über eine Entscheidung eines Einigungsamtes abweisen musste, da diese nach § 11 EAG endgültig war. Die GO des Obereinigungsamtes sah nur die Rekursmöglichkeit bei Beschlüssen der Einigungsämter vor.59 In der Vollversammlung der AK Wien wurde darüber berichtet: „Die Besprechung, der ob der Wichtigkeit des Gegenstandes auch Vertreter von Arbeiterkammer und Handelskammer beigezogen waren, gelangte jedoch zu dem Ergebnis, dass es zweckmäßig wäre, eine Überprüfbarkeit der Einigungsamtsentscheidungen, wenigsten soweit es sich um Mängel des Verfahrens handelt, einzuführen.
“60
Das Obereinigungsamt sollte zur Rekursinstanz gegenüber den Einigungsämtern gemacht werden. Auf Vorschlag des Leiters der sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Abteilung der AK Wien, Dr. Hermann Heindl, einigte man sich, dass der Hauptverband der Industrie und die AK gemeinsam einen Gesetzesentwurf erstellen sollten. Dieser sollte von beiden Seiten an die ihnen jeweils nahestehenden politischen Parteien zur parlamentarischen Behandlung weitergereicht werden. Eckpunkte für die AK waren die Ausschließung des VwGH durch eine Verfassungsbestimmung, die Überprüfbarkeit der Einigungsamtsentscheidungen durch das Obereinigungsamt und „die bindende Kraft von einstimmig gefassten Gutachten des Obereinigungsamtes für die Einigungsämter
“.61 Nachdem darüber in der AK nicht mehr berichtet wurde, scheiterte das Vorhaben, den VwGH als Berufungsinstanz auszuschließen.498
Durch die Pflicht zur Kundmachung und Registrierung von Kollektivverträgen durch die Einigungsämter und dem Obereinigungsamt konnte für 1922 eine detaillierte Statistik und Untersuchung über die abgeschlossenen Verträge durchgeführt werden.62 In den zehn Einigungsämtern wurden 1333 Verträge registriert. Die weitaus meisten beim Einigungsamt Wien mit 741 Verträgen, dann folgte Graz mit 189 Verträgen und mit größerem Abstand Wr. Neustadt mit 129 Verträgen. Die Anzahl der Verträge verweist auf die industriellen Ballungsräume. 978 Verträge erstreckten ihre Wirksamkeit auf Arbeiter, der Rest auf Angestellte. Auf AG-Seite waren bei 649 Vereinbarungen eine Unternehmerorganisation Vertragspartner, bei 210 eine Genossenschaft und 474 Verträge wurden von Einzelunternehmungen abgeschlossen. Für die AN waren vorwiegend Gewerkschaften, welche Kollektivverträge abschlossen, in 22 Fällen ein Gehilfenausschuss, in 11 Fällen die Landesgewerkschaftskommission und in zwei Fällen wurde der Vertrag „von den Betriebsräten, beziehungsweise von der Arbeiterschaft direkt abgeschlossen
“. Die weitaus überwiegende Anzahl der Kollektivverträge wurde von den Freien Gewerkschaften abgeschlossen. Auf die christlichen und deutschen Gewerkschaften entfielen nur 139 Verträge, von welchen bezeichnenderweise sich 79 auf Einzelunternehmen bezogen.63
Bekanntlich konnten Kollektivverträge, welchen eine überwiegende Bedeutung zukommt, zur Satzung erklärt werden. Dadurch kamen auch jene AN in den Genuss der kollektivvertraglichen Vereinbarungen, deren AG davon nichts wissen wollten und sich fernhielten: „Auch auf diesem Gebiet haben die Einigungsämter gute Arbeit geleistet, die sich in 31 Satzungserklärungen äußerte.
“64 Auf AN-Seite waren die Freien Gewerkschaften bei 29 Satzungserklärungen beteiligt, 9 davon entfielen auf die Bauarbeiter (davon zwei auf Bauangestellte), 7 auf Industrieangestellte, je zwei auf Holzarbeiter und chemische Industrie und der Rest auf Gewerkschaften mit einer Satzung. Drei Satzungen gingen auf das Konto des Deutschen Handels- und Industrieangestelltenverbandes und einer auf die Organisation der Wiener Presse.
Das Obereinigungsamt hatte sich mit 12 Einsprüchen gegen Satzungserklärungen zu beschäftigen. Nur ein Einspruch hatte Erfolg, zwei nur teilweise und neun Einsprüche wurden abgewiesen. Das Obereinigungsamt beschloss 6 Satzungserklärungen, von welchen zwei für das gesamte Bundesgebiet, eine für das Bundesgebiet ohne Kärnten und drei für Bundesländer Gültigkeit hatten. Betroffen davon waren die chemische Industrie, Holzarbeiter sowie Bau-, Industrie- und Versicherungsangestellte.65
Als Tarifbehörde konnten die Einigungsämter und das Obereinigungsamt auf ein durchaus erfolgreiches Jahr zurückblicken, welches ihnen auch Anerkennung der Arbeiterschaft brachte. In der Folge wurde die Statistik der abgeschlossenen Kollektivverträge im dem ab 1925 erscheinenden „Wirtschaftsstatistischen Jahrbuch“66 der AK Wien fortgeführt.
Mit den als Titel dieses Aufsatzes gewählten Worten beginnt im Mitteilungsblatt der Gewerkschaftskommission der Freien Gewerkschaften eine Serie von 12 Beiträgen unter dem Titel „Die Betriebsräte vor den Einigungsämtern“.67 Eingangs wird bedauert, dass nur wenige Entscheidungen der Einigungsämter publiziert werden und sich dadurch die Rsp der Einigungsämter zum Schaden der Betriebsräte einer öffentlichen Kritik entzog. Für die sozialdemokratischen Gewerkschafter:innen ging es in den Einigungsämtern nicht wie in den Gerichten um „Person gegen Person“, sondern um „Klasse gegen Klasse“: „Jede Klasse tritt dem Tribunal mit ihrer klassenmäßig vorbestimmten Auffassung von Recht und Unrecht, Gut und Böse, gegenüber.
“68 Ein Fehlurteil des Wiener Einigungsamtes, welches einen BR die Immunität entzog, weil er bei streikenden Kollegen mitmachte, wurde als Beispiel für die in der Spruchpraxis um sich greifende „Klassenjustiz“ gesehen. In der Tat gaben die Entscheidungen einiger Einigungsämter immer wieder Anlass zu Kritik. Der Arbeiterkammertag beauftragte deshalb das Büro der Kammer, eine entsprechende Eingabe an das Sozialministerium zu machen. Es sollte verhindert werden, „dass sich einzelne Einigungsämter zu einer Waffe der Unternehmer gegen die Betriebsräte gebrauchen lassen
“.69 Im Allgemeinen wurde jedoch, von Ausnahmen abgesehen, den Einigungsämtern eine objektive Amtsführung zugestanden.
Als sich um die Mitte der 1920er-Jahre die wirtschaftliche Lage verschlechterte, nahmen die Anträge der AG um Zustimmung zur Kündigung von Betriebsrät:innen zu. Die Gewerkschaften mussten nun feststellen, dass insb das Einigungsamt Wien „bedenkenlos seine Zustimmung zur Kündigung der Betriebsräte
“ gibt: Es sieht „über die allgemein bekannte Tatsache hinweg, dass die Unternehmerschaft, die der Einrichtung der Betriebsräte begreiflicherweise feindlich gegenübersteht, diese Krise dazu benützt, um unter dem Deckmantel und unter der heuchlerischen Vorspiegelung rein wirtschaftlicher Motive, sich bei dieser Gelegenheit auch von verhassten Vertretern der Arbeitnehmer, der Betriebsräte, zu entledigen
“.70 Für die Gewerkschaften schien ein „reaktionärer Geist
“ in der Rsp Einzug zu halten.71 Der Nachweis einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage eines Unterneh- 499 mens oder eine vorübergehende Betriebseinschränkung schien schon zu genügen, um die Zustimmung zur Kündigung eines BR zu erhalten.
Scharf kritisiert wurde von AN-Seite auch die im Einigungsamt Wien zunehmende Praxis, zu versuchen, vor der Verhandlung einen Ausgleich zu erzielen, damit die Behörde nicht gegen den AG entscheiden muss. Die vom jeweiligen AG dem Einigungsamt gemeldeten Betriebsrät:innen oder Vertrauensmänner wurden in einem Vorgespräch vom Vorsitzenden gleichsam unter Druck gesetzt, freiwillig den Betrieb zu verlassen, um dafür vom AG eine höhere Abfertigung zu bekommen.72
1928 kam es – wieder beim Wiener Einigungsamt – zu einem Eklat, als der Vorsitzende einen Gewerkschaftssekretär als Beisitzer auf Antrag des Anwaltes des AG vom Senat wegen Befangenheit ausschloss.73 Die Befangenheit sei dadurch gegeben, dass der Beisitzer Sekretär jener Gewerkschaft war, welcher auch der AN angehörte. Und nachdem der Gewerkschaftssekretär aus den auch vom AN eingezahlten Mitgliedsbeiträgen seinen Lohn bezieht, könne er als Beisitzer nicht unabhängig urteilen. Für die AN-Vertreter war klar: Würde dieser Spruch Schule machen, müssten nicht nur sämtliche Gewerkschaftsfunktionäre als Mitglieder der Einigungsämter ausscheiden, sondern auch die Sekretäre und Funktionäre der AG-Verbände sowie jene Unternehmer, über deren Branche verhandelt wird. Darüber hinaus wären auch alle bisher verkündeten Entscheidungen fragwürdig, da sie unter Befangenheitsverdacht zu Stande gekommen wären.74 Die Arbeiterkammer richtete dann auch eine entsprechende Beschwerde an das Justizministerium75, die diese an das Obereinigungsamt als Aufsichtsbehörde über die Einigungsämter weiterreichte. Das Obereinigungsamt teilte der AK mit, dass der Vorsitzende des Einigungsamtes Wien seine Rechtsansicht in einer nachfolgenden Verhandlung geändert hat. Einem Antrag auf Befangenheit eines Beisitzers wird vom Einigungsamt Wien nicht mehr stattgegeben.76 Für das Obereinigungsamt war die Causa damit erledigt und für die Gewerkschaften die Gefahr weiterer solcher Beschlüsse gebannt.
Wie weiter oben bereits erwähnt, forderten die Freien Gewerkschaften zusammen mit der AK die Überprüfbarkeit der Einigungsamtsentscheidungen durch das Obereinigungsamt, dessen Gutachten für die Einigungsämter bindend sein sollte.77
Den christlichen Gewerkschaften ging es um einen „Ausbau der Einigungsämter
“. Wie auch die deutschnationalen Gewerkschaften wollten sie, dass die Einigungsämter „als rechtsverbindliche Schlichtungsstellen bei Arbeitskonflikten fungieren können
“.78 Die christlichen Gewerkschaften waren mit Hinweis auf Deutschland und die Schweiz der Ansicht, dass „das in beiden Ländern eingeführte staatliche Schlichtungswesen sehr mildernd auf die Gegensätze zwischen Arbeitgeber und -nehmerschaft eingewirkt hat
“.79
Die deutschnationalen Gewerkschaften waren in Hinblick auf die gegen Ende der 1920er-Jahre heftig diskutierte Rechtsangleichung an das Deutsche Reich für ein verbindliches Schlichtungsverfahren. Wenn von der Regierung die Förderung des Kollektivvertragswesens verlangt wird, dann müsse dies vor allem die Einführung eines verbindlichen Schlichtungsverfahrens sein.80 Karl Weigl, Generalsekretär der (sozialdemokratischen) Gewerkschaft der Handels- und Transportarbeiter, sah jedoch die Forderung nach einem verbindlichen Schiedsverfahren kritisch, bestünde doch die Gefahr einer Einengung der gewerkschaftlichen Kampffähigkeit, was nicht im Interesse der Arbeiterschaft sein könne.81
Die Arbeiterkammern unterstützten die ANVertreter: innen in den Einigungsämtern durch Bereitstellung von Materialien, Sammlung von Entscheidungen und Schulungskursen. Die wichtigste Aufgabe bestand jedoch darin, über strittige Causen Gutachten vom Obereinigungsamt anzufordern sowie bei Justiz- oder Sozialministerium Beschwerde zu führen, wenn es zu Entscheidungen oder Beschlüssen von Einigungsämtern kam, die der Rechtsauffassung der AK-Juristen widersprachen. Als Beispiele seien angeführt: Einholung eines Gutachtens des Obereinigungsamtes über die Frage der Zuständigkeit von Einigungsämtern bei der Entlassung von Betriebsrät:innen82, Antrag an das Sozialministerium auf Errichtung eines zweiten Senats beim Einigungsamt St. Pölten83, Ansuchen beim Sozialministerium um Errichtung eines Einigungsamtes in Gmünd84, Beschwerde beim Justizministerium über den Vorsitzenden des Einigungsamtes Gmünd wegen mangelhafter Amtsführung85, Beschwerde beim Justizministerium über den Vorsitzenden, der einen Beisitzer wegen Befangenheit ausschloss8686), Mitteilung an das Obereinigungsamt über die Verzögerung der Kundmachung von Kollektivverträgen durch Einigungsämter87.
Nachdem das Justizministerium ihre Sammlung gewerbegerichtlicher Urteile einstellte, gelang es der AK durchzusetzen, dass diese nun vom Bundeskanzleramt unter Mitwirkung von AK und Handelskammer, ergänzt um Entscheidungen der Einigungsämter, fortgesetzt wird.88 Die Mitwirkung 500 der Kammern bestand in der Auswahl der zu publizierenden Entscheidungen.89
Richard Fränkel90 (1876-1951), sozialdemokratischer Gewerkschafter und Wiener Kommunalpolitiker, bearbeitete in der von der Gewerkschaftskommission und der AK Wien ab 1923 gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift „Arbeit und Wirtschaft“ die regelmäßig erscheinende Kolumne „Aus der Praxis der Betriebsräte, Gewerbegerichte und Einigungsämter
“. In der Kolumne wurden ausgewählte Entscheidungen besprochen und kritisiert.
Im September 1923 kündigte die AK Wien an, dass sie gemeinsam mit dem Verein der Gewerbe richter Sonntagskurse für die AN-Vertreter:innen beim Gewerbegericht, beim Ober einigungsamt und beim Einigungsamt veranstalten wird.91 1928 wurde von der AK Wien ein umfangreiches Schulungsprogramm für AN-Beisitzer bekannt gegeben.92 Zur Programmgestaltung sollte ein Ausschuss unter dem Vorsitz der Kammer gebildet werden, in dem die größeren Gewerkschaften ihre rechtskundigen Funktionäre entsenden. Das Schulungsprogramm der Wiener Kammer sollte Vorbild für die Arbeiterkammern in den Bundesländern sein. Für die Kurse sollten Gruppen zu je 60 Teilnehmern gebildet werden. Es sollten Einführungskurse und Fortbildungskurse angeboten werden. Die Kursleiter wurden von der AK bestellt und bezahlt. Das Schulungsmaterial wurde von der AK bereitgestellt.
Die Kosten für die Schulungsteilnahme wurden von der AK und den Gewerkschaften gemeinsam getragen. Der Verein der Gewerberichter hatte sich nach Kenntnisnahme des Vorhabens der Kammer aufgelöst und seine Bibliothek der AK zur Verfügung gestellt. Wie sich nach dem ersten Kursjahr zeigte, nahmen einige Beisitzer am Kurs nicht Teil, schwänzten gar öfters die Verhandlungen und zeigten überhaupt wenig Interesse an dieser Aufgabe. Die AK richtete daher „das dringende Ersuchen an die Berufsverbände, das Amt des Beisitzers nicht gering zu schätzen und bei der Auswahl der Beisitzer (...) die größte Sorgfalt walten zu lassen“.93
Abschließend kann festgestellt werden, dass
die Gewerkschaften mit der schiedsrichterlichen Tätigkeit der Einigungsämter weitgehend zufrieden waren. Dafür spricht auch, dass die christlichen und deutschnationalen Gewerkschaften eine bindende Kraft für die Schiedssprüche forderten;
es zu keinen veröffentlichten Klagen über die tarifamtliche Aufgabe der Einigungsämter und des Obereinigungsamtes kam;
die Einigungsämter als rechtsprechende Instanz in betriebsrätlichen Angelegenheiten in der Kritik der AN-Vertretungen standen. In der zentralen Frage von Kündigungen von Betriebsrät:innen ließen sich die Vorsitzenden der Einigungsämter oft nur von den betriebswirtschaftlichen Argumenten der AG leiten.