119Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse: Kollisionsrechtlich anwendbarer Kündigungsschutz nach § 105 ArbVG setzt in Österreich gelegenen Betrieb voraus
Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse: Kollisionsrechtlich anwendbarer Kündigungsschutz nach § 105 ArbVG setzt in Österreich gelegenen Betrieb voraus
Der Kl war seit 2018 bei der Bekl, zuletzt als „Country Manager Austria“, beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterliegt keinem KollV. Der Kl verrichtete seine Tätigkeit für die Bekl ständig von Österreich und überwiegend und gewöhnlich von seinem Nebenwohnsitz in Wien aus, während er organisatorisch und hierarchisch in den in Deutschland gelegenen Betrieb der Bekl eingegliedert war. In Österreich hat die Bekl keinen Betrieb. Der Kl wurde zum 30.11.2023 gekündigt.
Der Kl begehrte, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses für rechtsunwirksam zu erklären. Die Kündigung sei aufgrund eines verpönten Motivs iSd § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG erfolgt und zudem sozialwidrig iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG. Da er seine Arbeit von seinem Nebenwohnsitz in Wien aus verrichte, sei gemäß der Rom I-VO österreichisches Recht und damit das ArbVG auf das Arbeitsverhältnis anwendbar.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der gegen diese E gerichteten Berufung des Kl nicht Folge. Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, vom OGH aber als nicht berechtigt erkannt.
Nach Art 8 Abs 2 Rom I-VO unterliegt der Individualarbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der AN in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, soweit das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist. Der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wechselt nicht, wenn der AN seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet.
Unstrittig haben die Parteien keine ausdrückliche Rechtswahl getroffen. Den seitens der Bekl erhobenen Einwand einer schlüssigen Rechtswahl, derzufolge deutsches Recht anwendbar wäre, haben die Vorinstanzen offengelassen, weil ihrer Ansicht nach selbst dann, wenn keine schlüssige Rechtswahl getroffen wurde und daher österreichisches Recht zur Anwendung käme, die Klage nicht berechtigt wäre. Zu prüfen war daher zunächst, ob, selbst wenn nach Art 8 Rom I-VO materiell österreichisches Vertragsrecht zur Anwendung gelangt, der Kl Ansprüche nach §§ 105 ff ArbVG geltend machen kann.
Anknüpfungsgegenstand für die Kollisionsvorschrift in Art 8 Rom I-VO sind „Individualarbeitsverträge“. Die Verweisungsbegriffe sind unionsrechtlich autonom auszulegen. Art 8 Rom I-VO erfasst allerdings lediglich Fragen vertraglicher Schuldverhältnisse, nicht das kollektive Arbeitsrecht.
Für die Betriebsverfassung und damit grundsätzlich auch für die Bestimmungen des II. Teils des ArbVG, in dem auch der allgemeine Kündigungsschutz geregelt ist, ist nach herrschender Auffassung das Territorialitätsprinzip maßgebend. Es kommt daher darauf an, ob bei einer Verweisung durch Art 8 Rom I-VO auf materiell österreichisches Vertragsrecht die Bestimmungen des österreichischen Kündigungsschutzes kollisionsrechtlich dem Individualarbeitsrecht oder dem Betriebsverfassungsrecht zuzuordnen sind.
Der österreichische Kündigungsschutz ist in seinem Ursprung als Mitwirkungsrecht der Belegschaft kollektiv-rechtlich konzipiert, das ursprüngliche System wurde jedoch mit der Zeit sukzessive durchbrochen, hin zu einer Verstärkung individualrechtlicher Elemente.
In der älteren Rsp wurde in Zusammenhang mit § 44 IPRG davon ausgegangen, dass die Verweisung nach § 44 IPRG nur den privatrechtlichen Bereich umfasse, nicht aber die Normen des Arbeitsverfassungsrechts über den Kündigungsschutz, für die das Territorialitätsprinzip gelte. In der OGH-E vom 2.6.2009, 9 ObA 144/08d, wurde darauf verwiesen, dass es sich beim allgemeinen Kündigungsschutz um einen kollektivrechtlich geprägten Kündigungsschutz mit dem vorrangigen Ziel der Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmerschaft handle, der aber auch starke individualrechtliche Komponenten aufweise und sich somit an der Schnittstelle zwischen kollektiv- und individualvertraglichen Ansprüchen befinde. In der E vom 16.9.2011, 9 ObA 65/11s, ging der OGH unter Hinweis auf die Kritik zu seiner früheren Judikatur davon aus, dass manches dafür spreche, „– unabhängig von der Ausgestaltung (Einbettung) – den allgemeinen Kündigungsschutz nach dem jeweiligen Arbeitsvertragsstatut anzuwenden“, konnte diese Frage jedoch letztlich offenlassen.
Die Lehre geht dagegen einheitlich davon aus, dass der allgemeine Kündigungsschutz ungeachtet der nationalen Eingliederung in das Betriebsverfassungsrecht dem Arbeitsvertragsstatut folgt. Nach ausführlicher Darstellung der Literatur zur Thematik schließt sich der erkennende Senat nunmehr ausdrücklich dieser Rechtsauffassung an: Auch wenn im österreichischen Recht die Kündigungsanfechtung eine starke kollektivrechtliche Komponente aufweise, sei Gegenstand dieses Anspruchs das Fortbestehen des jeweiligen individuellen Arbeitsvertrags und damit die Wirksamkeit der Beendigungserklärung. Als Zwischenergebnis hält er damit fest, dass der Kündigungsschutz nach § 105 Abs 3-7 und § 107 ArbVG 287kollisionsrechtlich iSd Art 8 Rom I-VO dem Arbeitsvertragsstatut folgt. Geht man davon aus, dass auf das Arbeitsverhältnis des Kl österreichisches Recht anwendbar ist, gilt daher auch § 105 Abs 3-7 und § 107 ArbVG.
Daher war in weiterer Folge zu prüfen, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Kündigungsanfechtung nach diesen Bestimmungen erfüllt sind. Grundsätzlich setzt ihre Anwendbarkeit die Eingliederung des AN in einen Betrieb mit mindestens fünf Mitarbeitern voraus. Der Kl war nach eigenem Vorbringen in den Betrieb der Bekl in Deutschland eingegliedert. In Österreich bestand kein Betrieb. Zu klären ist daher zunächst, ob der Betrieb, in den der AN eingegliedert ist, im Inland gelegen sein muss.
Dazu wurde vom Gerichtshof ausgeführt:
Der allgemeine Kündigungsschutz nach §§ 105 und 107 ArbVG ist im Betriebsverfassungsrecht verankert. Nach § 33 ArbVG gelten die Bestimmungen des II. Teils für Betriebe aller Art. § 34 ArbVG definiert den Betrieb und damit den zentralen Begriff, auf dem die gesamte Organisation der Betriebsverfassung aufbaut. Als Betrieb gilt demnach jede Arbeitsstätte, die eine organisatorische Einheit bildet, innerhalb der eine physische oder juristische Person oder eine Personengemeinschaft mit technischen oder immateriellen Mitteln die Erzielung bestimmter Arbeitsergebnisse fortgesetzt verfolgt, ohne Rücksicht darauf, ob Erwerbsabsicht besteht oder nicht. Auch wenn das ArbVG keine ausdrückliche Bestimmung enthält, dass diese Bestimmungen sich nur auf in Österreich gelegene Betriebe beziehen, besteht Übereinstimmung, dass für den Geltungsbereich des Betriebsverfassungsrechts nach dem Territorialitätsprinzip ausschließlich auf in Österreich gelegene Betriebe abzustellen ist.
Es gibt keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber in Zusammenhang mit dem allgemeinen Kündigungsschutz – mag dieser auch im kollisionsrechtlichen Zusammenhang individualrechtlich und nicht betriebsverfassungsrechtlich zu beurteilen sein – von einem anderen Betriebsbegriff ausgehen wollte als im Betriebsverfassungsrecht. Im Gegenteil lässt sich aus der Einbettung des allgemeinen Kündigungsschutzes in den II. Teil des ArbVG ableiten, dass für ihn auch dieselben Begrifflichkeiten gelten sollen.
Auch wenn man davon ausgeht, dass das Gesetz den allgemeinen Kündigungsschutz an das Vorliegen eines inländischen Betriebs anknüpft, ist weiters eine analoge Anwendung der Bestimmungen über den Kündigungsschutz auf AN, die dem österreichischen Vertragsstatut unterliegen, aber in einen ausländischen Betrieb eingegliedert sind, zu prüfen. Da in solchen Fällen regelmäßig kein BR nach dem ArbVG bestehen wird, kommt dafür nur eine analoge Anwendung von § 107 ArbVG in Betracht. Diese kommt jedoch dem OGH zufolge mangels planwidriger Gesetzeslücke nicht in Betracht.
Gegen eine Beschränkung des allgemeinen Kündigungsschutzes auf inländische Betriebe bestehen nach dem OGH auch keine unionsrechtlichen Bedenken:
Die Rom I-VO harmonisiert die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse und nicht die materiellen Vorschriften des Vertragsrechts. Soweit Letztere vorsehen, dass das angerufene Gericht bestimmte Voraussetzungen für den Kündigungsschutz als tatsächlichen Umstand zu berücksichtigen hat, stehen die Bestimmungen der Rom I-VO der Berücksichtigung dieses tatsächlichen Umstands durch das angerufene Gericht nicht entgegen. Das Vorliegen eines (österreichischen) Betriebs ist aber im österreichischen Recht auf der Tatbestandsebene Voraussetzung für den Kündigungsschutz.
Art 30 GRC normiert zwar den Anspruch jeder/jedes AN nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Allerdings gilt die GRC für die Mitgliedstaaten gem Art 51 Abs 1 GRC ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Aus der stRsp des EuGH ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen und nicht außerhalb derselben Anwendung finden.
Von den Kompetenzen nach Art 153 Abs 1 lit d AEUV auf dem Gebiet des Schutzes der AN bei der Beendigung des Arbeitsvertrags hat der Unionsgesetzgeber bislang nicht Gebrauch gemacht, sodass das Unionsrecht keine Vorgaben für die Ausgestaltung des allgemeinen Kündigungsschutzes enthält. Eine Beeinträchtigung der AN-Freizügigkeit (Art 45 ff AEUV) durch einen fehlenden bzw eingeschränkten allgemeinen Kündigungsschutz könnte nur in einer Behinderung des Zuzugs oder Wegzugs liegen, zumal eine Diskriminierung weder behauptet wurde noch sonst ersichtlich ist.
Zusammenfassend ist dann, wenn das Dienstverhältnis dem österreichischen Vertragsstatut unterliegt, kollisionsrechtlich auch der allgemeine Kündigungsschutz nach § 105 Abs 3-7 und § 107 ArbVG anwendbar. Dieser setzt aber materiell-rechtlich auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten das Vorhandensein eines in Österreich gelegenen Betriebs voraus.288