141Keine kollisionsrechtliche Zuständigkeit Österreichs für das Pflegegeld einer deutschen Rentnerin trotz Selbstversicherung in der österreichischen Krankenversicherung
Keine kollisionsrechtliche Zuständigkeit Österreichs für das Pflegegeld einer deutschen Rentnerin trotz Selbstversicherung in der österreichischen Krankenversicherung
Bei der kollisionsrechtlichen Prüfung der Frage, ob bei Rentenbezug eines Pflegebedürftigen nur aus einem anderen Mitgliedstaat und Wohnsitz in Österreich eine Zuständigkeit Österreichs für die Gewährung von Pflegegeld besteht, sind dessen Ansprüche auf Sachleistungen aus der österreichischen KV aufgrund einer Selbstversicherung nach § 16 Abs 1 ASVG unberücksichtigt zu lassen, wenn er unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion im rentenzahlenden Mitgliedstaat in die KV dieses Staats einbezogen wäre.
Die Kl ist deutsche Staatsbürgerin und hat ihren Wohnsitz seit 28.5.1986 in Österreich. Sie ist mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet, bei dem sie bis zu dessen Pensionierung in der österreichischen KV mitversichert war. Am 19.4.2001 stellte sie einen Antrag auf Selbstversicherung in der KV gem § 16 Abs 1 ASVG. Die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse (NÖGKK) entsprach diesem Antrag und erkannte ihr für die Zeit ab 1.1.2001 einen Anspruch auf Leistungen aus der KV zu. Die Kl bezieht ausschließlich eine Altersrente von der deutschen Rentenversicherung, die seit 1.7.2020 (einschließlich eines Zuschusses zur privaten KV) insgesamt € 804,80 beträgt. Sie leistet in Deutschland keine Krankenversicherungsbeiträge, auch nicht zu einer privaten (Pflege-)Versicherung.
Mit Bescheid vom 26.6.2023 lehnte die Bekl den Antrag der Kl auf Gewährung von Pflegegeld ab. Da die Kl der KV in Deutschland zugehörig sei, sei dieser Staat auch für die pflegebedingten Leistungen zuständig.
Das Erstgericht gab der Klage mit Zwischenurteil dem Grunde nach statt. Die nach § 16 ASVG freiwillig selbstversicherte Kl habe einen primären Leistungsanspruch auf Sachleistungen aus der österreichischen KV. Dies begründe die kollisionsrechtliche Zuständigkeit Österreichs für Pflegeleistungen.
Das Berufungsgericht gab der von der Bekl erhobenen Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab. Entscheidend sei, ob ein Sachleistungsanspruch im rentenzahlenden Mitgliedstaat unter der Annahme bestünde, der Rentner würde in diesem Mitgliedstaat wohnen.
Der OGH erachtete die ordentliche Revision als zulässig, jedoch nicht berechtigt.
„1. Gemäß § 3a Abs 1 BPGG besteht Anspruch auf Pflegegeld auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG für österreichische und diesen nach § 3a Abs 2 BPGG gleichgestellte Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der VO (EG) 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.
Im Verfahren steht nicht in Zweifel, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und infolge ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts österreichischen Staatsbürgern gemäß § 3a Abs 2 Z 3 BPGG gleichgestellt ist. Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach § 3a Abs 1 BPGG sind nach ständiger Rechtsprechung allein die Kollisionsregeln nach Art 11 ff VO (EG) 883/2004 heranzuziehen […]. Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der Verordnung ist unstrittig eröffnet.
2. Das Pflegegeld nach dem BPGG ist als „Leistung bei Krankheit“ iSd Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 und zugleich als Geldleistung iSd Art 21 ff, konkret des Art 29 VO (EG) 883/2004 anzusehen […].
Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO (EG) 883/2004 in der Regel der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnsitzstaat zuständig ist […]. Die Zuständigkeit des rentenzahlenden Mitgliedstaats setzt voraus, dass aufgrund des Rentenanspruchs eine Einbeziehung in die Krankenversicherung des rentenzah319lenden Mitgliedstaats besteht oder eine solche Einbeziehung unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion in diesem Mitgliedstaat bestünde (Art 24 Abs 1 Satz 1 VO [EG] 883/2004 […]). Hinzu kommt als negative Tatbestandsvoraussetzung, dass der Pensionist (Rentner) keinen konkurrierenden primären Leistungsanspruch im Fall der Krankheit im Wohnmitgliedstaat hat […].
[…]
4.1. Nach Spiegel vermag ein Sachleistungsanspruch im Wohnmitgliedstaat aus einer Mitversicherung oder freiwilligen Versicherung Art 24 VO (EG) 883/2004 dann nicht zu „überlagern“, wenn die im rentenzahlenden Mitgliedstaat – wie hier in Deutschland (§ 193 Abs 3 dVVG) – an sich bestehende Verpflichtung zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung eine solche Mit- oder Selbstversicherung wie eine österreichische Pflichtversicherung ausschließen müsste. Dies folge aus einer konsequenten Anwendung des in Art 32 Abs 1 DVO (EG) 987/2009 zum Ausdruck gebrachten Grundsatzes, dass nationale Besonderheiten einzelner Mitgliedstaaten sich nicht zulasten anderer Mitgliedstaaten auswirken dürfen. Diese „als-ob-Krankenversicherung“ in einem anderen Mitgliedstaat müsse auch in Bezug auf eine Mitversicherung bzw eine freiwillige Versicherung wie eine bestehende Pflichtversicherung in einem anderen Mitgliedstaat als anspruchsausschließend gewertet werden.
4.2. Der erkennende Senat schließt sich diesen überzeugenden Ausführungen an, denen die Klägerin in ihrer Revision nichts Entscheidendes entgegenzusetzen vermag:
4.2.1. Der von ihr relevierte Umstand, dass sie in Deutschland tatsächlich keinen Wohnsitz hat, damit aber keiner Verpflichtung zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung nach § 193 Abs 3 dVVG unterliegt, ist nicht entscheidend. Bei der hier vorzunehmenden rein kollisionsrechtlichen Beurteilung kommt es nämlich bloß darauf an, ob die Klägerin unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion in die Krankenversicherung des rentenzahlenden Mitgliedstaats einbezogen wäre (vgl dazu bereits unter Punkt 2.). Dass dies der Fall ist, zieht die Klägerin nicht in Zweifel.
4.2.2. Ebenso wenig verfängt ihr Rechtsmittelvortrag, wonach sie bereits seit Jahrzehnten zuverlässig in die österreichische Krankenversicherung einbezahlt und daraus im Krankheitsfall auch Leistungen bezogen habe. Soweit sie mit diesem Vorbringen darauf abzielt, dass nach nationalem Recht sehr wohl von einer zulässigen und aufrechten Selbstversicherung nach § 16 Abs 1 ASVG auszugehen sei, ist ihr zu entgegnen, dass es bei der Anwendung der Kollisionsregeln der VO (EG) 883/2004 auf die innerstaatliche Beurteilung des Versicherungsverhältnisses gerade nicht ankommt.
Im Übrigen würde auch nach nationalem Recht eine bestehende Krankenversicherung der Klägerin im Sinn des § 16 Abs 1 ASVG keinen Anspruch auf Pflegegeld begründen. Das BPGG stellt für den Anspruch auf Pflegegeld nicht auf eine Einbeziehung in die Krankenversicherung ab […].
4.2.3. Nicht zielführend ist ferner der Verweis der Klägerin auf Art 14 Abs 1 VO (EG) 883/2004 und die darin statuierte Ausnahme vom Grundsatz des einheitlichen Sozialrechtsstatuts für den Fall der freiwilligen (Weiter-)Versicherung, mit der Folge, dass eine freiwillige Versicherung – wie die hier in Rede stehende Selbstversicherung nach § 16 ASVG – grundsätzlich auch in einem im Sinn der VO (EG) 883/2004 nicht zuständigen Staat möglich sei […].
Für ihren Rechtsstandpunkt positive Folgerungen vermag die Klägerin aus dieser Vorschrift schon vor dem Hintergrund des Abs 2 der genannten Bestimmung nicht abzuleiten, der ausdrücklich normiert, dass eine Person, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Pflichtversicherung unterliegt, in einem anderen Mitgliedstaat keiner freiwilligen Versicherung oder freiwilligen Weiterversicherung unterliegen darf. Die Rechtsansicht der Kl liefe letztlich auf eine Rechtswahlmöglichkeit hinaus, wodurch die mit der VO (EG) 883/2004 bezweckte Koordinierung der mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit konterkariert würde.
4.2.4. Weiters begründet der Umstand, dass die Klägerin infolge der Leistungszuständigkeit Deutschlands in unionsrechtlich zulässiger Weise nicht alle Anspruchsvoraussetzungen nach innerstaatlichem Recht erfüllt, keine (mittelbare) Diskriminierung iSd Art 4 VO (EG) 883/2004 […], beruht diese Beurteilung doch gerade nicht auf der Staatsangehörigkeit der Klägerin […].
4.2.5. Schließlich nimmt die Klägerin mit ihrer Kritik, sie werde durch die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts in ihrem Recht auf Freizügigkeit verletzt, nicht hinreichend darauf Bedacht, dass das bloß koordinierende Sozialrecht der Europäischen Union kein einheitliches, harmonisiertes „Europäisches Sozialversicherungssystem“ schafft, sondern das Sozialrecht der Mitgliedstaaten grundsätzlich unberührt lässt […]. Einem Erwerbstätigen ist nicht garantiert, dass die Ausweitung seiner Tätigkeit auf mehr als einen Mitgliedstaat oder deren Verlagerung in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral ist […].
5. Als Ergebnis der vorstehenden Erwägungen wird festgehalten:
Bei der kollisionsrechtlichen Prüfung der Frage, ob bei Rentenbezug eines Pflegebedürftigen nur aus einem anderen Mitgliedstaat und Wohnsitz in Österreich eine Zuständigkeit Österreichs für die Gewährung von Pflegegeld besteht, sind dessen Ansprüche auf Sachleistungen aus der österreichischen Krankenversicherung aufgrund einer Selbstversicherung nach § 16 Abs 1 ASVG unberücksichtigt zu lassen, wenn er unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion im rentenzahlenden Mitgliedstaat (Art 24 Abs 1 Satz 1 VO [EG] 883/2004) in die Krankenversicherung dieses Staats einbezogen wäre.
In der gegenständlichen E hat sich der OGH erstmals mit der Frage befasst, ob Österreich für die Auszahlung 320 von Pflegegeld kollisionsrechtlich zuständig ist, wenn der Wohnort der pflegebedürftigen Person in Österreich liegt, diese ausschließlich eine Pension aus einem anderen EU-Mitgliedstaat (hier: Deutschland) bezieht und in Österreich eine Selbstversicherung in der KV nach § 16 ASVG abgeschlossen wurde. Hintergrund ist, dass österreichische und diesen gleichgestellte Staatsbürger ohne Grundleistung gem § 3 Abs 1 und 2 BPGG nur dann Anspruch auf Pflegegeld in Österreich haben, wenn nicht ein anderer Staat für Pflegeleistungen zuständig ist (§ 3a Abs 1 BPGG).
Der OGH hat sich bereits mit ähnlich gelagerten Fällen befasst: Sowohl in der E 10 ObS 38/23w (Rachbauer in DRdA-infas 2024 S 29) als auch in der E 10 ObS 100/24i (Bischofreiter in DRdA-infas 2025 S 33) ging es um Pensionistinnen, die einen Anspruch auf eine Pension aus einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland bzw Italien) hatten, in Österreich wohnhaft waren, und zwar keine Selbstversicherung abgeschlossen hatten, allerdings bei ihren Ehemännern in Österreich mitversichert waren.
In beiden Fällen führte der OGH aus, dass gem Art 29 Abs 1 VO (EG) 883/2004 die Leistungszuständigkeit für Geldleistungen bei Krankheit und damit auch für das Pflegegeld einheitlich beim kollisionsrechtlich primär zuständigen Träger liegt, also bei jenem Träger, der die Kosten der im Wohnstaat gewährten Sachleistungen gem Art 23 bis 25 VO (EG) 883/2004 zu tragen hat. Nach Art 24 Abs 1, Abs 2 lit a VO (EG) 883/2004 ist für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten mit einer Pension eines anderen Mitgliedstaats der EU in der Regel der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnmitgliedstaat zuständig. Voraussetzung ist, dass aufgrund des Rentenanspruchs eine Einbeziehung in die KV des rentenzahlenden Mitgliedstaats besteht oder eine solche Einbeziehung unter Zugrundelegung einer Wohnsitzfiktion in diesem Mitgliedstaat bestünde und der Pensionist keinen konkurrierenden primären Leistungsanspruch im Fall der Krankheit im Wohnmitgliedstaat hat. Unter Verweis auf Art 32 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 stellte der OGH klar, dass ein eigenständiger (fiktiver) Sachleistungsanspruch im Rentenstaat Vorrang vor einem abgeleiteten Anspruch auf Leistungen für Familienangehörige hat. Die Mitversicherung bleibt daher bei der kollisionsrechtlichen Prüfung unberücksichtigt.
Der gegenständlich zu beurteilende Fall unterscheidet sich insofern von den oben erwähnten, als der OGH den Anspruch der Kl aus der Selbstversicherung nach § 16 ASVG – im Gegensatz zur Mitversicherung – nicht als abgeleitet iSd Art 32 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 qualifiziert. Denn die Selbstversicherung räume einen eigenen Sachleistungsanspruch ohne erforderlichen Bezug zu einem anderen Versicherten ein. Insofern gehe dieser Anspruch nicht von vornherein einem eigenen Sachleistungsanspruch (im rentenzahlenden Staat) vor.
Allerdings setzt eine freiwillige Selbstversicherung gem Art 14 Abs 2 VO (EG) 883/2004 das Fehlen eines Pflichtversicherungsverhältnisses voraus. Unter Verweis auf Spiegel führt der OGH aus, dass in einer Konstellation wie der vorliegenden eine Selbstversicherung ausgeschlossen sei, weil die Pflichtversicherung (bzw Versicherungspflicht) in Deutschland dem Recht auf Selbstversicherung entgegenstehe. Dies stützt der OGH auf den in Art 32 Abs 1 DVO (EG) 987/2009 festgelegten Grundsatz, wonach nationale Besonderheiten einzelner Mitgliedstaaten sich nicht zulasten anderer Mitgliedstaaten auswirken dürfen.
Im Ergebnis führt auch eine (unzulässige) Selbstversicherung nach § 16 ASVG nicht zur kollisionsrechtlichen Zuständigkeit Österreichs für das Pflegegeld. 321