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„Papamonat“ mit gleichzeitigem Bezug des Familienzeitbonus stellt eine fiktive Erwerbstätigkeit iSd VO (EG) 883/2004 dar

KRISZTINA JUHASZ

Im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit insb dann auszugehen, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grunde nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt. Diese Voraussetzungen sind bei der Freistellung nach § 1a VKG bei gleichzeitigem Bezug des Familienzeitbonus gegeben.

Die Freistellung nach § 1a VKG mit gleichzeitigem Bezug von Familienzeitbonus nach dem FamZeitbG fällt in den koordinierungsrechtlichen Kernbereich der Erwerbstätigkeit nach Art 11 Abs 2 VO 883/2004. § 24 Abs 3 KBGG hat insofern unangewendet zu bleiben. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG scheidet aus.

SACHVERHALT

Der Kl war von 1.7.2020 bis 21.12.2021 in Österreich beschäftigt. Anlässlich der Geburt seiner Zwillinge am 28.9.2021 nahm er im Zeitraum von 4.10. bis 3.11.2021 eine Freistellung nach § 1a VKG in Anspruch. Von 22.12.2021 bis 22.6.2022 befand er sich in Karenz. Während der Karenz lebte der Kl gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern mit gemeinsamem Lebensmittelpunkt in Polen, wo sie auch gemeldet waren.

Die Frau des Kl ist im Rahmen einer freiwilligen Versicherung aufgrund des als Landgrundstück gewidmeten Gemüsegartens als Selbständige versichert, sie übt aber keine selbständige (oder unselbständige) Erwerbstätigkeit aus. Sie bezog von den zuständigen polnischen Trägern einmalige Beihilfen aus Anlass der Geburt der beiden Kinder, „Mutterschaftsgeld“ für den Zeitraum von 28.9.2021 bis 26.12.2022, sowie „Erziehungsleistungen“ für den Zeitraum von 28.9.2021 bis 31.5.2022.

Der zuständige polnische Träger erklärte sich aufgrund von Anträgen der Ehefrau des Kl mit vorläufiger Entscheidung hinsichtlich des Zeitraums von 28.9.2021 bis 27.9.2025 bzw mit späterer Entscheidung für den Zeitraum von 1.1.2022 bis 31.10.2023 für die Gewährung von Familienleistungen vorrangig zuständig.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid lehnte die Bekl den Antrag des Kl auf Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage für den Zeitraum von 15.3. bis 14.6.2022 ab. Da für den Kl in diesem Zeitraum keine Erwerbstätigkeit in Österreich und auch keine gleichgestellte Situation vorliege sowie der Wohnort des Kindes in Polen sei, liege kein grenzüberschreitender Sachverhalt vor. Der Antrag sei daher nach den inländischen Rechtsvorschriften zu prüfen und bestehe mangels Lebensmittelpunktes in Österreich kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kl fristgerecht Klage.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge und bestätigte das Urteil. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, ob die Inanspruchnahme einer Freistellung nach § 1a VKG bei Bezug des Familienzeitbonus als der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Zeit nach Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 gelte, noch keine oberstgerichtliche Rsp vorliege.

Dagegen richtet sich die Revision der Bekl. Die Revision war zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„2.1. Gemäß Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 ist „Beschäftigung“ jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als solche gilt.

Nach § 24 Abs 2 KBGG ist unter Erwerbstätigkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit zu verstehen. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbots nach dem MSchG oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder VKG oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.

Der Familienzeitbonus ist jene Leistung, die Vätern während der Freistellung nach § 1a VKG gewährt wird (§ 1 FamZeitbG). § 2 Abs 4 FamZeitbG setzt voraus, dass sich der Vater während der Familienzeit aufgrund der kürzlich erfolgten Geburt seines Kindes ausschließlich seiner Familie widmet und dazu die Erwerbstätigkeit unterbricht, keine andere Erwerbstätigkeit ausübt, keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sowie keine Entgeltfortzahlung aufgrund von oder Leis314tungen bei Krankheit erhält. Die Bezieher des Familienzeitbonus sind grundsätzlich in der gesetzlichen Krankenversicherung teilversichert (§ 4 Abs 2 FamZeitbG). […]

2.2. Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausführte, stellt § 24 Abs 2 KBGG auch eine Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ iSd Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 sowohl für das pauschale als auch für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld dar (RS0130043). Der Umstand, dass die VO (EG) 883/2004 den Begriff der „Beschäftigung“ durch Verweisung auf das Sozialrecht des Mitgliedstaats definiert, ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei diesem Begriff als solchen um einen unionsrechtlichen handelt (RS0130043 [T1]). Für die Anwendung des Beschäftigungsbegriffs des § 24 Abs 2 KBGG im Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist zu beachten, dass die Regelung des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der „Beschäftigung“ darstellt. Geldleistungen, die unter Art 11 Abs 2 VO zu subsumieren sind, sind demnach unabhängig von der nationalen Systematik als Ausübung einer Beschäftigung zu werten (RS0130043 [T2]).

Art 11 Abs 2 VO 883/2004 bestimmt, dass bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon auszugehen ist, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. […] Art 11 Abs 2 VO 883/2004 soll kurzfristige Zuständigkeitsänderungen bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit, wie etwa Krankengeld oder Lohnfortzahlung, verhindern. In derartigen Fällen wird für die Bestimmung der Zuständigkeit davon ausgegangen, dass die Tätigkeit während des Bezugs der Leistung der sozialen Sicherheit weiter ausgeübt wird (10 ObS 103/18x ErwGr 3.1., 10 ObS 36/21y Rz 25). Im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit insbesondere dann auszugehen, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grunde nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt (RS0130045).

2.3. Diese Voraussetzungen sind bei der Freistellung nach § 1a VKG bei gleichzeitigem Bezug des Familienzeitbonus gegeben, stellt diese doch nur eine vorübergehende (und maximal auf ein Monat begrenzte) Unterbrechung der Erwerbstätigkeit dar, wobei das Beschäftigungsverhältnis dem Grunde nach aufrecht bleibt und eine Teilversicherung weiterhin besteht.

Der Familienzeitbonus ist auch eine Leistung bei Vaterschaft gemäß Titel III Kapitel 1 VO 883/2004 (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 2). Ein Anspruch auf Familienzeitbonus besteht nur, wenn der Vater in den letzten 182 Tagen unmittelbar vor Bezugsbeginn durchgehend eine in Österreich kranken- und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt sowie in diesem Zeitraum keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten hat (§ 2 Abs 1 Z 5 FamZeitbG). Somit ist der Familienzeitbonus eine Geldleistung der sozialen Sicherheit infolge einer Beschäftigung. Der Anspruch auf Familienzeitbonus knüpft somit an die unmittelbar vorangegangene Ausübung einer Beschäftigung an. Bezieher des Familienzeitbonus sind zudem grundsätzlich während der Bezugszeit in der gesetzlichen Krankenversicherung teilversichert (§ 4 Abs 2 FamZeitbG).

Die Freistellung nach § 1a VKG mit gleichzeitigem Bezug von Familienzeitbonus nach dem FamZeitbG fällt daher ebenso in den koordinierungsrechtlichen Kernbereich der Erwerbstätigkeit nach Art 11 Abs 2 VO 883/2004. § 24 Abs 3 KBGG hat insofern unangewendet zu bleiben (vgl 10 ObS 96/17s ErwGr 3. ff, 10 ObS 103/18x ErwGr 3.10.). Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG scheidet aus, weil eine derartige Auslegung ihre Grenzen in dessen eindeutigen Wortlaut (die „tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen [kranken- und pensionsversicherungspflichtigen] Erwerbstätigkeit“) findet (vgl bereits 10 ObS 117/14z ErwGr II.3.3.5.).

3. Die von der Revision behauptete Inländerdiskriminierung liegt nicht vor […].

4. Österreich ist somit entgegen der Ansicht der Revision als leistungszuständiger Staat anzusehen. […]“

ERLÄUTERUNG

Die bekl Österreichische Gesundheitskasse war der Ansicht, dass die Karenz des Kl aufgrund der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit im Zeitraum des „Papamonats“ nicht gem § 24 Abs 3 KBGG einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt werden könne, weshalb keine Zuständigkeit Österreichs vorliege, sowie, dass die VO (EG) 883/2004 nicht zur Anwendung komme.

Der OGH führte aus, dass ein den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnender Sachverhalt vorliegt, da der im streitgegenständlichen Zeitraum in Polen wohnhafte Kl Leistungen aus dem österreichischen System der sozialen Sicherheit beansprucht. Auch der sachliche Geltungsbereich der Verordnung ist eröffnet, weil das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j der VO (EG) 883/2004 ist.

Im konkreten Fall kommen sowohl Polen als auch Österreich als zuständige Staaten für die Gewährung von Familienleistungen in Betracht. Die Zuständigkeitsverteilung ist nach der VO (EG) 883/2004 in Form einer Zuständigkeitskaskade aufgebaut. Nach Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 stehen an erster Stelle Ansprüche, die deshalb bestehen, weil die betreffende Person im jeweiligen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, nachrangig sind Ansprüche, die auf Grund des Wohn315sitzes bestehen. Die VO (EG) 883/2004 definiert den Begriff der Beschäftigung durch Verweisung auf das Sozialrecht des Mitgliedstaats.

Für das Kinderbetreuungsgeld findet sich die Definition der „Beschäftigung“ in § 24 Abs 2 KBGG. Nach stRsp des OGH ändert dies allerdings nichts daran, dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten der unionsrechtliche Beschäftigungsbegriff beachtlich ist. Gem Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 ist von der Ausübung einer Beschäftigung immer dann auszugehen, wenn Personen aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen. Nach nationalem Recht kommt es darauf nicht an. Da § 24 Abs 2 KBGG nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden kann, hat dieser unangewendet zu bleiben (RS0130043). Die Zuständigkeit richtet sich somit ausschließlich nach den Kriterien des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004.

Die Freistellung nach § 1a VKG bei gleichzeitigem Bezug des Familienzeitbonus erfüllt die Vorgaben des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 und gilt als Beschäftigung iSd Unionsrechts. Daher ist Österreich nach Art 11 Abs 3 lit a iVm Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 Beschäftigungsstaat und somit als vorrangig leistungszuständiger Staat anzusehen.