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Gemeinsamer Haushalt bei Kinderbetreuungsgeld: Vorübergehendes gemeinsames Verlassen des Hauptwohnsitzes unschädlich

JOHANNA RACHBAUER

1. Für die Bestimmung des Begriffs der „Wohnadresse“, an der Elternteil und Kind in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben und auch hauptwohnsitzlich gemeldet sein müssen, ist der Wohnungsbegriff des § 1 Abs 4 MeldeG maßgeblich, weil insb die Unterkunftnahme in einer Wohnung die Meldepflicht auslöst.

2. Betreut der Elternteil das Kind vorübergehend an einem anderen Ort als dem gemeinsamen Hauptwohnsitz, ohne dass die Ortsabwesenheit zur Änderung des Hauptwohnsitzes führt, „leben“ Elternteil und Kind (weiterhin) in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an der gemeinsamen Hauptwohnsitzadresse und erfüllen somit die Anspruchsvoraussetzung nach § 2 Abs 1 Z 2 und Abs 6 Satz 1 und 3 KBGG.

Es werden im Folgenden nur der Sachverhalt, der Verfahrensverlauf und die Urteilsbegründung aus 10 ObS 21/25y dargestellt.

Sachverhalt

Der Kl wohnte zunächst gemeinsam mit seinem am 9.1.2023 geborenen Kind (und der Mutter) vom 15.3. bis 4.4.2023 in der Wohnung in Wien. Berufsbedingt durch die Tätigkeit der Mutter als Dirigentin (die vom Sohn auf ihren Reisen begleitet werden musste, weil er von ihr gestillt wurde) hatte der Kl mit seinem Sohn einen Aufenthalt in Frankreich von 4.4. bis 9.7.2023 (97 Tage). Danach war der Kl mit seinem Sohn wieder in der Wohnung in Wien und mehrmals (wieder aufgrund des Berufs der Mutter oder für Besuche von Verwandten) vorübergehend (gemeinsam) im Ausland.

Die bekl Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen wies den Antrag des Kl auf pauschales Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 15.3.2023 bis 8.1.2024 ab, weil die persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen nicht überwiegend in Österreich lägen und sich keine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft am Wohnsitz des Kl und des Kindes befinde. In der dagegen erhobenen Klage begehrte der Kl Kinderbetreuungsgeld für den beantragten Zeitraum und stützte seine Klage auf den gemeinsamen Lebensmittelpunkt von Kl und Kind an der gemeinsam bewohnten Wohnung in Wien, an der beide hauptwohnsitzlich gemeldet seien, sowie auf seinen Beruf.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht gab der Klage zur Gänze statt. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl teilweise Folge. Es bestätigte das Ersturteil im Zuspruch für die Zeiträume von 15.3. bis 3.4.2023 und von 10.7.2023 bis 8.1.2024 (in der jeweils zustehenden Höhe). Hinsichtlich des Zeitraums von 4.4. bis 9.7.2023 änderte es das Ersturteil dahin ab, dass es das Klagebegehren insoweit abwies, da in diesem Zeitraum aufgrund einer über 91 Tage dauernden Abwesenheit vom Hauptwohnsitz in Wien kein gemeinsamer Haushalt bestanden habe.

Die Bekl erhob gegen den Zuspruch im Zeitraum von 15.3. bis 3.4.2023 ao Revision. Der OGH entschied, dass die Revision zulässig, aber nicht berechtigt ist.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[12] 2. Die Bekl macht geltend, dass das Kinderbetreuungsgeld nach dem eindeutigen Wortlaut des § 3 Abs 5 KBGG stets, also unabhängig von einem Wechsel, jeweils nur in Blöcken von mindestens 61 Tagen beansprucht werden könne und der gegenständliche Bezugsblock von 15. März 2023 bis 3. April 2023 diese Mindestbezugsdauer nicht erreiche.

[13] 2.1. […] Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist die Regelung des § 3 Abs 5 KBGG […] überschießend und daher teleologisch dahin zu reduzieren, dass die darin normierte Mindestbezugsdauer ohne Verlust der für den verkürzten Zeitraum zuerkannten Leistungen unterschritten werden kann, wenn der Bezieher von Kinderbetreuungsgeld bei der Antragstellung davon ausgehen konnte, Kinderbetreuungsgeld in der gesetzlichen Mindestdauer beziehen zu können, und es in der Folge aufgrund eines nachträglich eintretenden, nicht in der Ingerenz des Beziehers liegenden Umstands zu einer Verkürzung dieser Frist kommt (10 ObS 192/21i Rz 27 ff […]). […]310

[15] 3. Das Berufungsgericht sah die Anspruchsvoraussetzung des gemeinsamen Haushalts ab 4. April 2023 als nicht mehr gegeben an, weil der Kl mit dem Kind (wenn auch vorübergehend) länger als 91 Tage vom Hauptwohnsitz abwesend war. Tatsächlich lag die Voraussetzung des gemeinsamen Haushalts aber auch nach diesem Zeitraum weiterhin vor.

[16] 3.1. Die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 1 Z 2 KBGG, dass der Elternteil mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, liegt nach § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG nur vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften (mindestens 91 Tage durchgehend) Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse leben und beide an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Der gemeinsame Haushalt gilt nach § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG bei mehr als 91-tägiger tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer einer Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes als aufgelöst. […]

[18] 3.3. Aus der Definition des gemeinsamen Haushalts als dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft […] ergibt sich, dass der Gesetzgeber auf den Regelfall einer auf längere Zeit ausgerichteten gemeinsamen „Wohnung“ von Elternteil und Kind abstellt. Außer dem Erfordernis, dass die mit dem Kind zu führende Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft dauerhaft sein muss, enthält das Gesetz aber keine weiteren Anforderungen an diese Gemeinschaft, etwa in dem Sinn, dass die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft fortwährend am selben Ort (an derselben Adresse) zu sein hat. Elternteil und Kind müssen lediglich in dieser dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft „an derselben Wohnadresse leben“ und beide an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sein. Daraus hat die Rechtsprechung […] abgeleitet, dass auch wechselnde Unterkunftnahmen eines Elternteils mit dem Kind als „gemeinsamer Haushalt“ im Sinn des § 2 Abs 1 Z 2 KBGG zu qualifizieren sind, sofern beide an der gemeinsamen Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind (10 ObS 69/14s ErwGr 4.2 und 4.3).

[19] 3.4. Für die Bestimmung des Begriffs der „Wohnadresse“, an der Elternteil und Kind in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft nach § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG leben und hauptwohnsitzlich gemeldet sein müssen, ist der Wohnungsbegriff des § 1 Abs 4 MeldeG maßgeblich […], weil insbesondere die Unterkunftnahme in einer Wohnung die Meldepflicht auslöst (§ 3 Abs 1 MeldeG). Daran knüpft wieder die Bestimmung des Wohnsitzes oder Hauptwohnsitzes eines Menschen an […]. Die Voraussetzung des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG, dass der Elternteil und das Kind an derselben „Wohnadresse leben“ müssen, verdeutlicht daher (nur), dass beide an derselben Adresse Unterkunft genommen und dort ihren Hauptwohnsitz haben müssen.

[20] […] Das Fortbestehen eines Hauptwohnsitzes im Sinn des § 1 Abs 7 MeldeG hängt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bei Ortsabwesenheit davon ab, ob – neben der (subjektiven) Absicht, den bisherigen Hauptwohnsitz weiterhin an diesem Ort zu haben – zu diesem Ort (objektiv) Beziehungen aufrecht erhalten werden, die bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände den Schluss rechtfertigen, eine Person habe an diesem Ort weiterhin ihren Lebensmittelpunkt (VwGH Ra 2023/10/0016 Rz 19; 2009/03/0039; vgl auch 2012/21/0088). Vorübergehende Ortsabwesenheiten, die am Lebensmittelpunkt der Person nichts ändern, führen daher nicht zu einer Veränderung des Hauptwohnsitzes, sodass die Person im Sinn des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG weiterhin an der bisherigen Wohnadresse lebt.

[21] 3.5. Es gibt daher zwei Fälle, in denen der Elternteil mit dem Kind die Unterkunft wechselt, die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft und damit der gemeinsame Haushalt im Sinn des § 2 Abs 1 Z 2 KBGG aber nicht berührt werden.

[22] 3.5.1. Erstens können der Elternteil und das Kind ihren Hauptwohnsitz dauerhaft auf eine andere Wohnadresse verlegen, an der sie nun (weiter) gemeinsam leben. […]

[23] 3.5.2. Zweitens können der Elternteil und das Kind bloß vorübergehend von der Wohnadresse, an der sie in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben, abwesend sein und an einer anderen Adresse Unterkunft nehmen, etwa wenn der Elternteil das Kind an einem Urlaubsort (weiter) betreut. In diesem Fall bleibt der Hauptwohnsitz an der bisherigen (gemeinsamen) Wohnadresse aufrecht.

[24] 3.6. Dem Wortlaut des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG könnte zwar auch der Inhalt zugemessen werden, dass eine Betreuung des Kindes durch den Elternteil durchgehend am Hauptwohnsitz zu erfolgen hat […]. Das würde aber dem Ziel der Regelung, durch das Abstellen auf die „hauptwohnsitzliche Meldung“ den Nachweis des gemeinsamen Lebensmittelpunkts zu standardisieren und dadurch den Krankenversicherungsträger und die Eltern durch eine leicht handhabbare Regelung zu entlasten […], zuwiderlaufen. […]

[25] 3.7. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts steht dem § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG nicht entgegen.

[26] Denn der in § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG in Klammer angeführte Zeitraum von mindestens 91 Tagen bezieht sich grammatikalisch auf die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft, die nach den obigen Ausführungen durch einen Wechsel der Unterkunft des Elternteils mit dem Kind nicht berührt wird. Nach § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG führt […] (nur) eine Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes (nicht aber beider) von mehr als 91-tägiger tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer zur Auflösung des gemeinsamen Haushalts, weil es um die Auflösung der Gemeinschaft infolge Abwesenheit der einen Person von der anderen geht und nicht um Abwesenheiten von einem bestimmten Ort. […]

[31] 5.2. Tatsächlich konnte der Kl bei der sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergebenden Sachlage davon ausgehen, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 2 (iVm Abs 6) KBGG erfüllt sind und er 311 daher in einer die Frist des § 3 Abs 5 KBGG übersteigenden Dauer Kinderbetreuungsgeld beziehen würde können.“

Erläuterung

Im vorliegenden Fall hat der OGH Fragen zu einer zentralen Voraussetzung für den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld beantwortet. Es handelt sich dabei um das Kriterium des „gemeinsamen Haushalts“ von antragstellendem Elternteil und Kind (§ 2 Abs 1 Z 2 KBGG), welcher eine dauerhafte (mindestens 91 Tage durchgehende) Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse und eine hauptwohnsitzliche Meldung an dieser voraussetzt (§ 2 Abs 6 KBGG). Am selben Tag hat der OGH mit 10 ObS 3/25a eine weitere E zu einem im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt gefällt. Im dortigen Fall hielt sich die Familie aufgrund eines Forschungsaufenthalts des Gatten der Kl an einer US-amerikanischen Universität von 1.8. bis 31.12.2023 in den USA auf und bewohnte (auch) dort eine gemeinsame Wohnung. Aus dieser zweiten Entscheidung stammt der RS0135415, welcher an den Beginn dieses Textes gestellt wurde.

Interessant an den Entscheidungen ist vor allem, wie der OGH argumentiert, dass trotz eines räumlichen Auseinanderfallens von Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft und Hauptwohnsitzmeldung die Voraussetzungen des gemeinsamen Haushalts dennoch weiterhin erfüllt sind. Hier waren Kl und Kind während eines Zeitraumes von 97 Tagen nicht an der gemeinsamen Hauptwohnsitzadresse aufhältig, im Verfahren 10 ObS 3/25a sogar während fünf Monaten. Dennoch kommt der OGH über den Umweg des MeldeG zum Ergebnis, dass Kl und Kind auch während des Auslandsaufenthaltes an der Wohnadresse „leben“, an der sie weiterhin hauptwohnsitzlich gemeldet sind.

Ausschlaggebend für dieses Ergebnis sind Überlegungen zu Begriff „Wohnung“ und „Wohnadresse“: Die Gesetzgebung hat den gemeinsamen Haushalt als dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft definiert und damit auf den Regelfall einer auf längere Zeit ausgerichteten gemeinsamen „Wohnung“ von Elternteil und Kind abgestellt. Die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft muss dauerhaft sein, sie muss aber nicht etwa fortwährend am selben Ort (an derselben Adresse) sein. Für die Bestimmung der „Wohnadresse“ ist nach der Feststellung des OGH der Wohnungsbegriff des § 1 Abs 4 MeldeG maßgeblich, denn die Meldepflicht wird insb durch die Unterkunftnahme in einer Wohnung ausgelöst. Diese Wohnadresse ist dann als der Ort anzusehen, an dem der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft „leben“. Demnach verdeutlicht die Voraussetzung des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG, dass der Elternteil und das Kind an derselben „Wohnadresse leben“ müssen, nur dass beide an derselben Adresse Unterkunft genommen und dort ihren Hauptwohnsitz haben müssen. Faktisch bedeutet das, dass die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft von Elternteil und Kind auch an einem anderen Ort, als dem Hauptwohnsitz fortgesetzt werden kann, ohne dass der gemeinsame Haushalt verloren geht. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der Hauptwohnsitz trotz Abwesenheit tatsächlich iSd §1 Abs 7 MeldeG fortbesteht, das bedeutet, dass die (subjektive) Absicht, den bisherigen Hauptwohnsitz weiterhin an diesem Ort zu haben, aufrecht bleibt und zu diesem Ort (objektiv) Beziehungen aufrecht erhalten werden, die bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände den Schluss rechtfertigen, Elternteil und Kind haben an diesem Ort weiterhin ihren Lebensmittelpunkt (VwGH 18.6.2024, Ra 2023/10/0016 Rz 19; VwGH 23.6.2010, 2009/03/0039; vgl auch VwGH 11.6.2013, 2012/21/0088). Für ein solches Fortbestehen des Hauptwohnsitzes sind vorübergehende Ortsabwesenheiten, die am Lebensmittelpunkt der Person nichts ändern, nicht schädlich. In einer solchen Konstellation ist das vorübergehende, aber auch länger als 91 Tage dauernde, faktische Auseinanderfallen von Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft und Hauptwohnsitz möglich, denn die Betroffenen gelten weiterhin als iSd § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG an der bisherigen Wohnadresse lebend.

In weiterer Folge stellt der OGH noch klar, warum § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG, welcher die Auflösung des gemeinsamen Haushalts bei mehr als 91-tägiger Abwesenheit des Elternteiles oder des Kindes festlegt, dieser Lösung nicht entgegensteht. Denn wie sich schon aus dem Wortlaut dieser Regelung ergibt, geht es hier um die Trennung von Elternteil und Kind, welche nicht mehr als 91 Tage dauern darf. Durch diese Norm soll die Gemeinschaft der beiden sichergestellt werden, weshalb es unproblematisch ist, wenn sie sich gemeinsam an einem anderen Ort aufhalten. Erst wenn der Hauptwohnsitz an diesem neuen Aufenthaltsort begründet wird, ohne dass jedoch auch die hauptwohnsitzliche Meldung erfolgt, sind die Voraussetzungen des § 2 Abs 6 KBGG nicht mehr erfüllt. Im Ergebnis schafft es der OGH über den Umweg des MeldeG, dem Zweck des gemeinsamen Haushalts – entgegen der engeren Bedeutung des § 2 Abs 6 KBGG, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag – zu entsprechen.312