135Verweisungsmöglichkeit auf alle Berufssparten bei Mischtätigkeit als „Sales Assistent“
Verweisungsmöglichkeit auf alle Berufssparten bei Mischtätigkeit als „Sales Assistent“
Ein Versicherter, der mehrfach Berufsschutz als Angestellter und auch als qualifizierter Arbeiter in einem erlernten oder angelernten Beruf genießt, kann in allen Berufssparten, auf die sich sein Berufsschutz erstreckt, verwiesen werden, weil er über vielfältigere Ausbildungen, Kenntnisse und Fähigkeiten als ein nur in einem Beruf tätig gewesener Versicherter verfügt.
Werden Tätigkeiten verrichtet, die sich sowohl als Tätigkeit als Angestellter als auch als Arbeiter beurteilen lassen (Mischtätigkeit), dann entscheidet im Allgemeinen das zeitliche Überwiegen.
Die 1977 geborene Kl absolvierte eine fünfjährige Ausbildung an einer Höheren Lehranstalt für Mode und Bekleidungstechnik, die sie 1997 mit der Reife- und Diplomprüfung abschloss. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1.1.2022) war sie in mehreren Unternehmen der Bekleidungsbranche tätig. Zuletzt war sie bis 2019 für 62 Monate als „Sales Assistent“ beschäftigt. Dabei übte sie sowohl Tätigkeiten aus dem Kernbereich einer Schneiderin als auch einer Verkäuferin aus.
Es war nicht feststellbar, dass dabei Tätigkeiten aus dem Kernbereich einer Schneiderin überwogen haben. Wegen des sehr eingeschränkten Leistungskalküls ist der Kl weder die Tätigkeit als Schneiderin (inklusive qualifizierter Verwendungsalternativen) noch die Tätigkeit als Verkäuferin weiterhin zumutbar. Hingegen ist sie noch in der Lage, bestimmte Angestelltentätigkeiten in den Beschäftigungsgruppen 2 bis 3 des KollV für Lehrlinge und Angestellte in Handelsbetrieben (Informationsdienstangestellte in Handelsbetrieben, Büroangestellte) auszuüben.
Die Kl beantragte eine Berufsunfähigkeitspension, in eventu die Feststellung auf Vorliegen vorübergehender Berufsunfähigkeit (und die Leistung des Rehabilitationsgeldes aus der KV). Die Vorinstanzen verneinten den Anspruch der Kl und begründeten dies mit der Verweisbarkeit auf die Angestelltentätigkeiten.
1. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit der auch hier strittigen Frage der Verweisbarkeit eines Facharbeiters, dessen im erlernten Beruf erworbene Kenntnisse bei seiner zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübten Angestelltentätigkeit von wesentlicher Bedeutung waren, bereits mehrfach auseinandergesetzt (vgl zB 10 ObS 71/06y; 10 ObS 93/06h; 30710 ObS 110/06h; 10 ObS 111/08h). Es wurde dabei festgehalten, dass für die Frage der Verweisbarkeit nach § 273 ASVG die vom Versicherten zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübte kaufmännische Angestelltentätigkeit maßgebend ist und für die Beurteilung dieser Frage eine (einschlägige) Arbeitertätigkeit auch dann außer Betracht zu bleiben hat, wenn bei der Angestelltentätigkeit die im erlernten Beruf erworbenen Kenntnisse von wesentlicher Bedeutung waren (10 ObS 71/06y; 10 ObS 93/06h; 10 ObS 80/09a; 10 ObS 111/08h mwN; 10 ObS 65/13a; RS0084837 [T6]; RS0083742 [T6]). Das korrespondiert mit jener Rechtsprechung, wonach durch die Tätigkeit als Angestellter ein eigener und von einer anderen erlernten oder angelernten Tätigkeit unabhängiger Berufsschutz erworben wird (RS0084837 [T2]).
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin – ungeachtet des Umstands, dass sie bei der zuletzt ausgeübten Angestelltentätigkeit auch die als Schneiderin erworbene Kenntnisse angewandt hat – auf eine andere Angestelltentätigkeit verwiesen werden kann, weicht von den aufgezeigten Grundsätzen nicht ab und bedarf daher keiner Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung.
3. Insoweit die Klägerin den Standpunkt vertritt, dass die bisherige Judikatur nur Fälle betreffe, bei denen der Versicherte zuletzt nur eine „reine Angestelltentätigkeit“ und nicht – wie gegenständlich – eine „Mischtätigkeit“ ausgeübt hätte, kann darauf die Zulässigkeit des Rechtsmittels aus folgenden Erwägungen nicht gestützt werden:
3.1 Nach gesicherter Rechtsprechung richtet sich im Sozialversicherungsrecht der Angestelltenbegriff und die Frage, ob nach den insofern relevanten Bestimmungen Berufsschutz besteht, ausschließlich nach dem Inhalt der verrichteten Tätigkeit (10 ObS 199/21v Rz 7; 10 ObS 182/21v Rz 1; RS0083723 [T1]; RS0084342 [T5, T6]). Für den Berufsschutz als Angestellter ist somit darauf abzustellen, dass Tätigkeiten iSd § 1 Abs 1 AngG verrichtet wurden (RS0084837 [T4]). Werden Tätigkeiten verrichtet, die sich sowohl als Tätigkeit als Angestellter als auch als Arbeiter beurteilen lassen (Mischtätigkeit), dann entscheidet im Allgemeinen das zeitliche Überwiegen (vgl RS0028025).
3.2 Es wirft keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung auf, wenn die Vorinstanzen mangels feststellbaren Anteils der Tätigkeit als Schneiderin für die relevante Frage des Berufsschutzes (vgl RS0106498; RS0084954) in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen sind, dass die Klägerin zuletzt nicht bloß vorübergehend eine Tätigkeit als Angestellte ausgeübt hat. Die Voraussetzungen für die angestrebte Versicherungsleistung sind nämlich von der klagenden Versicherungsnehmerin zu beweisen (RS0112006). Im Anlassfall steht aber gerade nicht fest, dass die von ihr beim letzten Arbeitsverhältnis ausgeübte Tätigkeit aus dem Kernbereich einer Schneiderin überwogen hätte.
3.3 […] Ein Versicherter, der mehrfach Berufsschutz als Angestellter und auch als qualifizierter Arbeiter in einem erlernten oder angelernten Beruf genießt, kann in allen Berufssparten, auf die sich sein Berufsschutz erstreckt, verwiesen werden, weil er über vielfältigere Ausbildungen, Kenntnisse und Fähigkeiten als ein nur in einem Beruf tätig gewesener Versicherter verfügt (10 ObS 80/09a; 10 ObS 65/13a ErwGr 6.2.; RS0084837 [T7]).
4. Das Berufungsgericht hat die von der Klägerin behaupteten Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens geprüft und verneint. Sie können in dritter Instanz daher nicht erneut geltend gemacht werden (RS0043061; RS0042963).
Im gegenständlichen Fall musste sich der OGH mit der Frage befassen, ob eine Kl, die Berufsschutz als Schneiderin genießt, aufgrund der zuletzt ausgeübten Mischtätigkeit, die zum Teil als Angestelltentätigkeit zu qualifizieren war, aber auch Tätigkeiten aus dem Kernbereich einer Schneiderin umfasste, hinsichtlich der Beurteilung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit auch auf Angestelltenberufe verwiesen werden kann.
Gem § 255 Abs 1 ASVG gilt ein Versicherter, der überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist. Für den Lehrberuf der Schneiderin kommt bei überwiegender Beschäftigung der Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG zu tragen.
Für Angestellte gilt der Berufsunfähigkeitsbegriff nach § 273 Abs 1 ASVG:
Als berufsunfähig gilt die versicherte Person, deren Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte/r oder nach § 255 Abs 1 ausgeübt wurde.
Bei der Regelung des § 273 Abs 1 handelt es sich um eine sogenannte Berufsgruppenversicherung (vgl etwa OGH 10 ObS 15/88 SSV-NF 2/73). Innerhalb einer Berufsgruppe liegen alle Berufe mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten wie sie der Versicherte aufweist (vgl etwa OGH 10 ObS 80/91 SSV-NF 5/34 mwN), sodass ihm bei Verweisung innerhalb dieser Berufsgruppe kein sozialer Abstieg zugemutet wird (Födermayr in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 273 ASVG Rz 15 [Stand 1.3.2020, rdb.at]).
Nach den Feststellungen der Vorinstanzen, stellte die Mischtätigkeit der Kl auch eine Tätigkeit aus dem Kernbereich einer Verkäuferin dar, weshalb die Kl 308 laut OGH auch gem § 273 ASVG auf andere Angestelltentätigkeiten verweisbar ist.
Die Tatsache, dass bei der zuletzt ausgeübten Mischtätigkeit das zeitliche Überwiegen einer der Teiltätigkeiten – als Schneiderin oder als Verkäuferin – nicht festgestellt werden konnte, geht nach der Ansicht des OGH zulasten der Kl, die beweispflichtig für die angestrebte Pensionsleistung (bzw Leistung des Rehabilitationsgeldes) ist und gerade nicht feststeht, dass die Tätigkeiten aus dem Kernbereich einer Schneiderin überwogen haben.
Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass neben der OGH-Judikatur über zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübte („klassische“) Angestelltentätigkeiten (unter Verwendung der Kenntnisse und Fähigkeiten aus dem Lehrberuf) auch eine zuletzt ausgeübte Mischtätigkeit, die zwar keine reine Angestelltentätigkeit darstellt, aber auch kein eindeutiges Überwiegen der Tätigkeit als qualifizierte Arbeiter:innen vorweist, zu einem Berufsschutz nach § 273 ASVG führt.
Für die Betroffenen bedeutet dieser mehrfache Berufsschutz in der Praxis meist eine Verschlechterung ihrer Rechtsposition bzw eine Abschwächung des idR stärkeren Berufsschutzes nach § 255 Abs 1 ASVG, weil eine Verweisbarkeit zu einer Angestelltentätigkeit in der Praxis (im Zusammenhang mit den Leistungsanforderungen) noch möglich ist, während für den Lehrberuf keine zulässigen Verweisungstätigkeiten mehr gefunden werden können. Faktische Relevanz hat dies aufgrund mehrerer Aspekte: Zum einen suchen gerade gesundheitlich beeinträchtigte Personen, bevor sie vollständig aus dem Erwerbsleben ausscheiden wollen, oft zuerst noch körperlich weniger anspruchsvolle Beschäftigungen, zum anderen enthalten am aktuellen Arbeitsmarkt mittlerweile viele Berufsbilder aufgrund der technischen Entwicklungen Teilelemente von Angestelltentätigkeiten. Das führt zum Ergebnis, dass ein nicht nur vorübergehender Versuch, die Restarbeitsfähigkeit am Arbeitsmarkt bei einer Mischtätigkeit, die auch Elemente des Lehrberufs enthält, noch zu verwerten, zu strengeren Anspruchsvoraussetzungen für eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit führt, als bei einer Person, die möglichst früh nach Ausscheiden aus dem angestammten (Arbeiter-)Beruf einen Antrag stellt und gar nicht mehr versucht, die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten anderweitig zu verwerten.