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EuGH auf Hausbesuch – Arbeitszeitaufzeichnung von Hausangestellten

SASCHA OBRECHT (WIEN)
Art 31 Abs 2 GRC; Art 3, 5 und 6 RL 2003/88/EG (Arbeitszeit-RL)
EuGH 19.12.2024 C-531/23, Loredas ECLI:EU: C:2024:1050
  1. Eine nationale Regelung, die AG davon entbindet, die Arbeitszeit von Hausangestellten objektiv und verlässlich zu messen, verstößt offensichtlich gegen die aus Art 31 Abs 2 GRC iVm Art 3, 5 und 6 AZ-RL resultierenden Rechte.

  2. Die Ausnahme von der Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung bei Hausangestellten stellt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, falls sie Personen eines Geschlechts gegenüber Personen des anderen Geschlechts besonders benachteiligt und keine objektive Rechtfertigung dafür vorliegt.

[...]

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

17 HJ arbeitete [...] als Hausangestellte für US und MU.

18 Im Anschluss an ihre Entlassung [...] erhob HJ [...] Klage [...] auf Verurteilung ihrer AG zur Zahlung der geleisteten Überstunden und der nicht genommenen Urlaubstage. Im Rahmen dieser Klage führte sie ua aus [...] in Vollzeit angestellt gewesen zu sein. [Zunächst] habe sie 46 Stunden pro Woche gearbeitet, [dann] 79 Stunden pro Woche.

19 Mit Urteil vom 11.1.2023 gab das genannte Gericht dieser Klage teilweise statt. Es erklärte die in Rede stehende Entlassung für ungerechtfertigt [...]. Die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden [...] seien von der Kl des Ausgangsverfahrens hingegen nicht nachgewiesen worden. Ihre Ausführungen könnten nämlich nicht allein deswegen als erwiesen angesehen werden, weil die Bekl des Ausgangsverfahrens keine Aufzeichnungen der täglichen Arbeitszeit der AN vorgelegt hätten, da das Königliche Dekret 1620/2011 bestimmte AG, darunter Haushalte, von der Verpflichtung zur Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit ihrer Angestellten ausnehme. [...]

21 [Das Tribunal Superior de Justicia del País Vasco] bezweifelt, dass die nationale Sonderregelung für Hausangestellte mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

22 Da es für Hausangestellte aufgrund der Ausnahme von der allgemeinen Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung schwierig sei, die geleistete Arbeitszeit nachzuweisen, könne eine solche Situation zum einen als Verstoß gegen die RL 2003/88 und die diesbezügliche Rsp des Gerichtshofs, insb das Urteil vom 14.5.2019, CCOO (C-55/18, EU:C:2019:402), angesehen werden. [...]

23 Zum anderen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich aus dem Urteil vom 24.2.2022, TGSS (Arbeitslosigkeit von Hausangestellten) (C-389/20, EU:C:2022:120), ergebe, dass die Gruppe der Hausangestellten in Spanien überwiegend weiblich sei – sie bestehe nämlich zu 95 % aus Frauen. Folglich werfe die gegenüber Männern bestehende Ungleichbehandlung bei der Arbeitszeiterfassung Fragen nach der Einhaltung der Art 20 und 21 der Charta sowie der RL 2006/54 auf.

24 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Superior de Justicia del País Vasco (Obergericht des Baskenlands) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Art 3, 5, 6 und 16, Art 17 Abs 4 Buchst b sowie die Art 19 und 22 der RL 2003/88 und Art 31 Abs 2 der Charta nach der Unionsrechtsprechung (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402), die Art 20 und 21 der Charta, Art 3 Abs 2 EG, die Art 1 und 4 der RL 2010/41, die 384 Art 1, 4 und 5 der RL 2006/54 und die Art 2 und 3 der RL 2000/78, auch im Zusammenhang mit der Unionsrechtsprechung (Urteil vom 24.2.2022, TGSS [Arbeitslosigkeit von Hausangestellten], C-389/20, EU:C:2022:120), dahin auszulegen, dass sie einer Rechtsnorm [...] entgegenstehen, die den AG von der Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit der AN entbindet?

Zur Vorlagefrage

[...]

27 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Recht eines jeden AN auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten nicht nur eine Regel des Sozialrechts der Union ist, die besondere Bedeutung hat, sondern auch in Art 31 Abs 2 der Charta, der nach Art 6 Abs 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt, ausdrücklich verbürgt ist (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 30 und die dort angeführte Rsp).

28 Die Bestimmungen der RL 2003/88, insb ihre Art 3, 5 und 6, die dieses Grundrecht konkretisieren, sind in dessen Licht auszulegen und dürfen nicht auf Kosten der Rechte, die dem AN nach dieser RL zustehen, restriktiv ausgelegt werden (vgl in diesem Sinne Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 31 und 32 sowie die dort angeführte Rsp).

29 Außerdem sollen durch die RL 2003/88 Mindestvorschriften festgelegt werden, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der AN durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 36 und die dort angeführte Rsp). [...]

32 Die Mitgliedstaaten müssen daher zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit der RL 2003/88 die Beachtung dieser Mindestruhezeiten gewährleisten und jede Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit verhindern (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 40 und die dort angeführte Rsp).

33 Soweit die Art 3 und 5 sowie Art 6 Buchst b der RL 2003/88 jedoch nicht die konkreten Maßnahmen festlegen, [...] verfügen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der konkreten Maßnahmen, mit denen sie die Umsetzung der in dieser RL vorgesehenen Rechte sicherstellen wollen, über einen gewissen Spielraum. Angesichts des von der RL 2003/88 verfolgten wesentlichen Ziels, einen wirksamen Schutz der Lebens- und Arbeitsbedingungen der AN sowie einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der AN zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Rechte in vollem Umfang gewährleistet wird, indem den AN tatsächlich die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit, die in dieser RL festgesetzt sind, zugutekommen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 41 und 42 sowie die dort angeführte Rsp).

34 Im Rahmen dieses Spielraums können die Mitgliedstaaten die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines Systems festlegen, mit dem die von einem jeden AN geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, insb die Form dieses Systems, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe. [...]

36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der AN als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der AG ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 44 und die dort angeführte Rsp).

37 Ebenso ist festzustellen, dass ein AN aufgrund dieser schwächeren Position davon abgeschreckt werden kann, seine Rechte gegenüber seinem AG ausdrücklich geltend zu machen, da insb die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des AG aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 45 und die dort angeführte Rsp).

38 Ohne Einführung eines Systems, mit dem objektiv und verlässlich ermittelt werden kann, wie viele Arbeitsstunden ein AN geleistet hat, wann sie geleistet wurden und wie viele über die Regelarbeitszeit hinausgehende Stunden als Überstunden geleistet wurden, erscheint es für die AN äußerst schwierig oder in der Praxis gar unmöglich, die ihnen durch Art 31 Abs 2 der Charta und die RL 2003/88 verliehenen Rechte durchzusetzen, um tatsächlich in den Genuss der Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit sowie der in dieser RL vorgesehenen täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten zu kommen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 47 und 48). [...]

40 Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof im Urteil vom 14.5.2019, CCOO (C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 59 und 71) entschieden, dass die RL 2003/88, insb deren Art 3, 5 und 6, einer nationalen Regelung wie der spanischen Regelung, die auf den dem Urteil in der Rs C-55/18 zugrunde liegenden Sachverhalt anwendbar war, und der Auslegung dieser Regelung durch die nationalen Gerichte, wonach die AG nicht verpflichtet seien, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden AN geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden könne, entgegensteht.

41 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass der spanische Gesetzgeber im Anschluss an das Urteil in der Rs C-55/18 [...] eine allgemeine Verpflichtung der AG eingeführt hat, ein System zur Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit jedes AN einzuführen. [...]

44 Entgegen dem Schluss, der sich aus der richterlichen Auslegung [...] zu ergeben scheine, wonach AG in der Hausarbeitsbranche von der verpflichtenden Arbeitszeiterfassung entbunden seien, gebe es keine Abweichung von der Verpflichtung, die tägliche Arbeitszeit von Hausangestellten zu erfassen [...].

48 [...] Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasst die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rsp gegebenenfalls- 385 abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer RL unvereinbar ist (Urteil vom 14.5.2019, CCOO, C-55/18, EU:C:2019:402, Rn 69 und 70).

49 In Anbetracht der in den Rn 38 bis 40 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rsp ist festzustellen, dass die richterliche Auslegung einer nationalen Bestimmung oder eine auf einer solchen Bestimmung beruhende Verwaltungspraxis, nach denen die AG kein System einführen müssen, mit dem die tägliche Arbeitszeit jedes Hausangestellten gemessen werden kann, wodurch Hausangestellten die Möglichkeit vorenthalten wird, objektiv und zuverlässig festzustellen, wie viele Arbeitsstunden sie geleistet haben und wann diese Stunden geleistet wurden, offensichtlich gegen die Bestimmungen der RL 2003/88, und zwar insb gegen die sich aus den Art 3, 5 und 6 dieser RL iVm Art 31 Abs 2 der Charta ergebenden Rechte, verstößt. [...]

51 Ein System, das AG verpflichtet, die tägliche Arbeitszeit jedes Hausangestellten zu messen, kann aufgrund der Eigenheiten der Hausarbeitsbranche also Abweichungen in Bezug auf Überstunden und Teilzeitarbeit vorsehen, sofern dadurch die in Rede stehende Regelung nicht ihres Wesensgehalts beraubt wird, was hier vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, das allein für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist.

52 Zur angeblichen mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist darauf hinzuweisen, dass gem Art 2 Abs 1 Buchst b der RL 2006/54 eine mittelbare Diskriminierung in einer Situation besteht, in der dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen des einen Geschlechts in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. [...]

55 Im vorliegenden Fall scheint sich das vorlegende Gericht für die Annahme, dass die Kl des Ausgangsverfahrens Teil einer Gruppe von AN mit deutlich überwiegendem Frauenanteil ist, auf das Urteil vom 24.2.2022, TGSS [Arbeitslosigkeit von Hausangestellten] (C-389/20, EU:C:2022:120), und die darin angeführten Statistiken zu stützen.

56 Eine richterliche Auslegung [...], nach de[r] AG von ihrer Verpflichtung entbunden sind, ein System einzuführen, mit dem die tägliche Arbeitszeit jedes Hausangestellten gemessen werden kann, würden also insb weibliche AN gegenüber männlichen AN benachteiligen.

57 Eine solche richterliche Auslegung [würde] eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellen, es sei denn, sie wären durch objektive Gründe gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies wäre dann der Fall, wenn die fragliche Bestimmung einem legitimen Ziel der Sozialpolitik dient und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei eine solche Regelung nur dann zur Erreichung des geltend gemachten Ziels geeignet ist, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, dieses Ziel zu erreichen, und in kohärenter und systematischer Weise angewandt wird [...].

60 Im vorliegenden Fall enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Informationen zum mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Praxis verfolgten Ziel und die spanische Regierung hat sich hierzu ebenfalls nicht geäußert.

61 Folglich ist es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation auch eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts iS von Art 2 Abs 1 Buchst b der RL 2006/54 darstellt.

62 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art 3, 5 und 6 der RL 2003/88 iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie sowohl einer nationalen Regelung als auch deren Auslegung durch nationale Gerichte oder einer auf einer solchen Regelung beruhenden Verwaltungspraxis entgegenstehen, nach denen AG von Hausangestellten von der Verpflichtung entbunden sind, ein System einzuführen, mit dem die Arbeitszeit von Hausangestellten gemessen werden kann, wodurch diesen die Möglichkeit vorenthalten wird, objektiv und zuverlässig festzustellen, wie viele Arbeitsstunden sie geleistet haben und wann diese Stunden geleistet wurden.

ANMERKUNG

Das Wichtigste gleich vorweg: In der vorliegenden E zu einer spanischen Hausangestellten festigt der EuGH seine noch junge Rsp zur verpflichtenden Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems als Grundvoraussetzung für die Gewährleistung der Rechte gem Art 31 Abs 2 GRC und Vorgaben der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG; folgend: AZ-RL). Dabei werden im Wesentlichen die Argumente der vorangegangenen Rs CCOO (EuGH C-55/18, ECLI:EU:C:2019:402) wiederholt, allerdings mit ein paar erörterungswürdigen Nuancen. Zudem wurde dem EuGH in der Rechtssache auch die Frage der mittelbaren Diskriminierung von Frauen vorgelegt. Da Hausangestellte in Spanien – zumindest nach der Auslegung der wesentlichen Bestimmungen durch die Gerichte und in der Verwaltungspraxis – von der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen sind (EuGH C-531/23, Loredas, ECLI:EU:C:2024:1050, Rn 44) und in der Hauswirtschaft mit überragender Mehrheit Frauen tätig sind, drängte sich diese Frage geradezu auf. Die Antwort des Gerichtshofs erfolgte zwar auffällig zaghaft (zu diesem Aspekt vgl auch Kocher/Obrecht, Gleichbehandlung für Hausangestellte – ein weiterer Schritt auf einem langen und verzweigten Weg, AuR 2025, 109) und wurde schlussendlich dem vorlegenden Gericht zur konkreten Bewertung zurückgespielt. Obwohl der Gerichtshof die Möglichkeit der Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung betont, weist er auch darauf hin, dass sich dafür bislang keine Anhaltspunkte finden.

Diese E bietet nun Anlass, nochmals genauer auf die Judikaturlinie des EuGH einzugehen: Woher 386 nimmt der Gerichtshof die Verpflichtung der Arbeitszeiterfassung und wie ist die Situation für Österreich zu bewerten? Und zu guter Letzt: Wie hat das spanische Gericht auf Basis dieser EuGH-E schlussendlich entschieden?

1.
Die unionsrechtliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung

Auffällig ist die Deutlichkeit des EuGH besonders an einer Stelle des Urteils: Die mangelnde Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ist nunmehr ein „offensichtlicher“ („manifiestamente“, „clearly“) Verstoß gegen die einschlägigen Bestimmungen der AZ-RL und Art 31 Abs 2 GRC (EuGH Rs Loredas, Rn 49). Das ist umso bemerkenswerter, als weder die GRC noch die AZ-RL eine Verpflichtung zur Arbeitszeitaufzeichnung erwähnt.

Bei historischer Interpretation der AZ-RL ist der umgekehrte Schluss sogar wesentlich näher. So schlug das Europäische Parlament im Rahmen der Entstehung der AZ-RL vor, dass die Mitgliedstaaten die Einführung von angemessenen Kontrollsystemen der Arbeitszeit vorsehen sollen. Dieser Vorschlag wurde von der Europäischen Kommission unter dem Hinweis abgelehnt, dass die Mitgliedstaaten ohnehin verpflichtet sind, für die korrekte Umsetzung zu sorgen. Ein entsprechender Antrag wurde von der Kommission auch dezidiert abgelehnt, weshalb sich keine derartige Verpflichtung in der AZ-RL findet (Überprüfter Vorschlag für eine RL des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, KOM[93] 578 endg – SYN 295, 4).

Da die AZ-RL demnach nur schwerlich als Rechtsgrundlage für die Verpflichtung in Frage kommt, kann der EuGH die Verpflichtung zur Etablierung eines Arbeitszeiterfassungssystems ganz zwangsläufig nur aus Art 31 Abs 2 GRC ableiten. Wie Niksova bereits zutreffend analysiert hat, folgt die Argumentation dem effet utile-Prinzip (Niksova, Arbeitszeitaufzeichnungen als unionsrechtliche Pflicht, DRdA 2020, 236 [242]; krit Niederfriniger, ArbeitszeitRL gebietet Arbeitszeitaufzeichnung, JAS 2019, 389 [399]). Der EuGH sieht dabei die Etablierung eines Zeiterfassungssystems mE zurecht als Grundvoraussetzung, um die Wahrung der Grundrechte der AN in Art 31 Abs 2 GRC zu gewährleisten (EuGH Rs Loredas, Rn 38).

2.
Die arbeitszeitrechtlichen Regelungen von Hausangestellten in Österreich

Die E bietet auch Anlass, die wenig beleuchtete arbeitszeitrechtliche Stellung von Hausangestellten in Österreich zu skizzieren (siehe hierzu ausführlich Obrecht, Die vom Arbeitszeitgesetz Ausgenommenen [2025] 171 ff). Hausgehilfen und Hausangestellte sind bereits seit der Stammfassung des AZG aus dessen Anwendungsbereich ausgenommen (§ 1 Abs 2 Z 4 AZG idF BGBl 1969/461 ). Damit sollte den „besonderen Verhältnissen der Arbeit in der Hauswirtschaft Rechnung“ (IA 197/A 9. GP 19) getragen werden; ihre arbeitszeitrechtlichen Sonderregelungen finden sich stattdessen im Hausgehilfen- und Hausangestelltengesetz (HGHAG).

Diese Regelungen sind mit Blick auf die AZ-RL gleich vielfach kritisch zu betrachten: So wird bspw die tägliche Ruhezeit von volljährigen AN, die in der Hauswirtschaft des AG wohnen, mit 10 Stunden pro Tag festgelegt (Art 3 AZ-RL verlangt 11 Stunden). Ansonsten gelten durchaus längere tägliche Ruhezeiten, allerdings werden diese durch Ausnahmemöglichkeiten ohne Ausgleichsmaßnahmen konterkariert (§ 5 Abs 6 oder 7 HGHAG), was auch nicht in Einklang mit der AZ-RL zu bringen ist.

Auch die Vorgaben der AZ-RL zur wöchentlichen Ruhezeit (35 Stunden pro Woche) werden deutlich verfehlt (so lässt das HGHAG bspw eine wöchentliche Ruhezeit von 16 Stunden zu; § 6 Abs 1 iVm § 5 Abs 3 HGHAG; Obrecht, Arbeitszeitgesetz 183 f).

Außerdem können bis zu 128 Stunden binnen zweier Wochen als Höchstarbeitszeit unter gewissen Voraussetzungen vereinbart werden (§ 5 Abs 1 Z 1 lit b iVm Abs 7 HGHAG; Art 6 AZ-RL würde durchschnittlich 48 Stunden pro Woche verlangen). Diese Grenze wird durch das Hausbetreuungsgesetz (HBeG) für die Betreuung besonders pflegebedürftiger Personen (mindestens Pflegestufe 3 oder Demenzkrankheit) unter den dort normierten Voraussetzungen noch weiter auf bis zu 294 Stunden binnen zweier Wochen ausgeweitet. Die Arbeitszeit ist nur negativ dadurch begrenzt, dass drei Stunden pro Tag an Ruhepausen freibleiben müssen (§ 3 Abs 2 und 3 HBeG; Obrecht, Arbeitszeitgesetz 187).

Gemeinsam haben HGHAG und HBeG, dass es gänzlich an einer Verpflichtung zur Arbeitszeitaufzeichnung fehlt, was nun auch im Lichte der Rs Loredas an zusätzlicher Brisanz gewinnt.

3.
Unmittelbare Wirkung unter Privaten?

Bleibt noch die wohl spannendste Frage zu klären: Können sich AN nun im Lichte dieser Rsp auch gegenüber ihren AG auf die Verpflichtung zur Etablierung eines Zeiterfassungssystems berufen, sollte eine dahingehende gesetzliche Verpflichtung fehlen? Zu dieser Frage schweigt der EuGH. Das ist allerdings auch nicht weiter verwunderlich, da gar keine Frage der unmittelbaren Wirkung zu erörtern war. So wollte das vorlegende Gericht lediglich wissen, wie Bestimmungen auszulegen sind und nicht, ob sie auch unter Privaten Wirkung entfalten (zum Vergleich lautete die zweite Vorlagefrage in der Rs Max-Planck-Gesellschaft: „Gilt dies auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis zwischen Privatpersonen bestand?“, EuGH C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft, ECLI:EU:C:2018:874, Rn 17).

An dieser Stelle ist auch die etwas irreführende Vermengung von Rechtsquellen des EuGH aufzulösen: Genauso wie in der Rs CCOO liegt nämlich auch in der vorliegenden Rs kein Verstoß gegen die AZ-RL (siehe Pkt 1.), sondern direkt gegen das Grundrecht in Art 31 Abs 2 GRC vor. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Anwendbarkeit der GRC unter Privaten zwar umstritten, allerdings 387 mittlerweile stRsp des EuGH ist (beginnend mit EuGH C-414/16, Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257). Als Argument gegen die unmittelbare horizontale Wirkung wird mit Art 51 GRC der Einwand ins Treffen geführt, dass die Charta nur für Organe und Einrichtungen der Union sowie die Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht gilt (so bspw Auer-Mayer, Ausgewählte Rechtsprobleme rund um Urlaub und Feiertag, ZAS 2020, 126 [127 f]). Der EuGH weist diesbezüglich allerdings zu Recht darauf hin, dass dies noch keine Aussage über die Wirkung unter Privaten trifft (EuGH Rs Egenberger, Rn 78), und auch die Erläuterungen zur Charta sprechen die Wirkung unter Privaten nicht an. Hinzu kommen noch zwei weitere Aspekte: Einerseits sind einige Grundrechte der GRC geradezu auf Private zugeschnitten (Art 31 GRC: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht ...“), andererseits wird bei der Kritik ausgelassen, dass diese Rsp durchaus an eine frühere EuGH-Rsp anknüpft. So spricht der EuGH Art 157 AEUV bereits seit den 1970ern Geltung unter Privaten zu, obwohl dezidiert nur die Mitgliedstaaten von der Bestimmung adressiert werden (EuGH C-43/75, Defrenne II, ECLI:EU:C:1976:56).

Unabhängig der Kritik ist ausgehend von der Anwendbarkeit des Art 31 Abs 2 GRC unter Privaten mit dem EuGH zu statuieren, dass Arbeitszeitaufzeichnungen wohl eine grundlegende Voraussetzung für die Realisierung des „Recht[s] auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten“ (Art 31 Abs 2 GRC) sind. Das Fehlen solcher Aufzeichnungen ist dazu geeignet, das Grundrecht zu beschränken, was zwar grundsätzlich unter den engen Bedingungen des Art 52 GRC möglich ist. Die Beschränkung wird allerdings in Konstellationen, die ein gänzliches Abgehen von der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung vorsehen, in aller Regel an der Grundrechtseingriffsprüfung scheitern.

Ganz in dem Sinn ist auch die Regelung im vorliegenden Sachverhalt, die einen AG in der Hauswirtschaft gänzlich von der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ausnimmt, kritisch zu sehen. Selbst bei Annahme eines legitimen Ziels für diese Ausnahme, muss spätestens die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs angezweifelt werden. Als unzulässiger Eingriff in Art 31 Abs 2 GRC muss die Ausnahme daher unangewendet bleiben (sogenannte Ausschlusswirkung).

Die Ersetzungswirkung (also die Ableitung von Ansprüchen gegen Private), wie sie bei den österreichischen Regelungen für Hausangestellte zur Unionsrechtskonformität notwendig wäre, setzt voraus, dass ein Grundrecht „schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht verleiht, das er in einem Rechtsstreit gegen eine andere Privatperson als solches geltend machen kann“ (EuGH C-569/16, Bauer, ECLI:EU:C:2018:871, Rn 89). Ob sie den gleichen Bedingungen wie die Ausschlusswirkung unterliegt, wird im Schrifttum nicht einhellig beantwortet (vgl Schöffmann, Nichtverlängerungserklärung nach TAG und Unionsrecht, ZAS 2023, 300 [306]). Eine derartige Wirkung hat der EuGH bereits ua bei Art 21 Abs 1 GRC (Egenberger) und beim Grundrecht auf Jahresurlaub gem Art 31 Abs 2 GRC mittlerweile in einer Vielzahl von Rechtssachen angenommen. Unverändert offen bleibt dennoch, ob der EuGH diese Judikaturlinie auch auf die anderen Rechte in Art 31 Abs 2 GRC ausweitet und ob er die Grundrechte mit den Inhalten der korrespondierenden Bestimmungen der AZ-RL als Untergrenze konkretisiert (zB Grundrecht auf tägliche Ruhezeit gem Art 31 Abs 2 GRC iVm 11 Stunden tägliche Ruhezeit gem Art 3 AZ-RL), wofür es mE sanfte Anzeichen in der Judikatur und gute Gründe gibt (siehe hierzu Obrecht, Umgang mit Umsetzungsmängeln im nationalen Recht, im Tagungsband der 52. Tagung der Hans-Schmitz-Gesellschaft [im Erscheinen]). In Anbetracht der Fülle an Verstößen gegen die AZ-RL im HGHAG bleibt allerdings zu wünschen, dass der Gesetzgeber es gar nicht erst soweit kommen lässt und selbst novellierend eingreift.

Und wie ging nun der Rechtsstreit in Spanien aus? Das vorlegende spanische Gericht ging zumindest implizit von einer unmittelbaren horizontalen Wirkung des Grundrechts aus: So entschied es schlussendlich, dass der AG doch verpflichtet gewesen wäre, Arbeitszeitaufzeichnungen zu führen und die fehlenden Aufzeichnungen zu Lasten des AG gehen; es ließ entgegenstehendes nationales Recht daher unangewendet (Tribunal Superior de Justicia del País Vasco 6.3.2025, STSJ PV 899/2025, ECLI:ES:TSJPV:2025:899, letra G.). 388