Kölbel (Hrsg)Whistleblowing. Normative Perspektiven, Bd 2

C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2024, X, 415 Seiten, gebunden, € 112,10

FLORIAN G. BURGER (INNSBRUCK)

Im ersten Band des zweiteiligen Werks zum Whistleblowing sammelte 2022 der in München lehrende Strafrechtler und Kriminologe Ralf Kölbel mehrere Beiträge zur (zumeist internationalen) empirischen Forschung darüber, was Whistleblowing ausmacht, wie es dazu kommt, welche Folgen es hat und wie es gesellschaftlich eingeschätzt wird. Für den nun vorliegenden zweiten Band sollen nun die rechtlichen Perspektiven erschlossen werden, nachdem in Deutschland – wie in Österreich – verspätet die Whistleblowing-Richtlinie (-RL) 2019/1937/EU im Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) umgesetzt wurde.

Der Band versammelt sechzehn Beiträge von insgesamt 24 Autor:innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Die Texte bewegen sich auf hohem fachlichen Niveau und bieten substanzielle Beiträge zur rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Einordnung des 431 Whistleblowings. Für österreichische Leser:innen bietet das Werk trotz seines dezidierten Bezugs zum deutschen Recht wertvolle systematische und rechtsvergleichende Perspektiven.

Teil 1 eröffnet den Band mit grundlegenden Überlegungen zur demokratischen Bedeutung von Whistleblowing. Kapitel 1 behandelt das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Geheimnis und stellt den Zusammenhang zwischen Publizität hoheitlicher Vorgänge und demokratischer Mitwirkung in den Mittelpunkt. Whistleblowing erscheint hier als Korrektiv gegenüber obrigkeitsstaatlicher Geheimhaltung. Kapitel 2 vertieft diesen Gedanken ideengeschichtlich, indem es die Entwicklung von Arkanpolitik über aufklärerische Transparenz hin zu heutigen Anforderungen an offene Demokratien nachzeichnet. Das 3. Kapitel liefert eine rechtsvergleichende Perspektive zur Entwicklung des Whistleblowing-Rechts – vom Bürgerkrieg in den USA bis zur „Swedish Exception“ – und stellt die Rsp des EGMR als zweite verbindliche Säule für die RL 2019/1937 heraus. Kapitel 4 und 5 widmen sich der politischen und diskursiven Wahrnehmung von Whistleblowing im deutschen Gesetzgebungsprozess. Die Analyse ambivalenter Narrative – etwa zwischen „zivilcouragiertem Hinweisgeber“ und „illoyalem Denunzianten“ – ist auch aus österreichischer Sicht erkenntnisreich, denn diese unterschiedlichen Narrative stellen die Klammer dar, unter der die verschiedensten Interessen und Belange debattiert werden können. Kapitel 5 ergänzt dies um eine historische Einordnung einschlägiger Hinweisgeberfälle im Deutschen Bundestag – vom Fall Pätsch 1964 bis zum CumEx-Skandal 2018.

Teil 2 widmet sich spezifischen Rechtsgebieten und institutionellen Kontexten innerhalb des Wirtschaftssystems. Kapitel 6 analysiert das Zusammenspiel des HinSchG mit dem Gesellschaftsrecht, insb unter dem Aspekt bestehender sektorspezifischer Regelwerke und Corporate-Governance-Strukturen. Der Verzicht auf konkrete Organisationsvorgaben für interne Meldestellen eröffnet betriebliche Spielräume, deren Relevanz auch in Österreich gegeben ist. Für die Leserschaft der DRdA ist Kapitel 7 von besonderem Interesse, in dem sich Martin Franzen dem Arbeitsrecht zuwendet. Er bietet eine profunde Einführung in zentrale Vorschriften des HinSchG, beginnend mit dem Anwendungsbereich und der Errichtung und dem Betrieb interner Meldestellen. Im Besonderen diskutiert er § 36 HinSchG (in Österreich entsprechend § 20 HSchG) im Lichte der Rsp des BAG. Die von ihm vertretene Auffassung, dass die Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses keine verbotene Repressalie darstelle, weicht in Österreich von § 20 Abs 1 Z 2 HSchG ab. Kapitel 8 befasst sich mit datenschutzrechtlichen Anforderungen, etwa zur Rolle des Datenschutzbeauftragten als interne Meldestelle. Kapitel 9 und 10 thematisieren strafrechtliche Aspekte und verweisen ua auf das Problem mangelnder transnationaler Schutzwirkung – ein Thema, das auch außerhalb Deutschlands hohe Relevanz besitzt. Wenngleich der kleinste gemeinsame Nenner der Schutzbereich des Art 10 EMRK darstellt, nützt es dem Hinweisgeber mitunter wenig, wenn er zwar national vor Strafverfolgung geschützt ist, nicht aber im involvierten Ausland. Kapitel 11 behandelt die Einordnung des Whistleblowings aus Sicht der Wirtschaftsprüfung, die freilich bereits auf verschiedene Hinweisgeberregelungen und -empfehlungen zurückgreifen kann. Hier führt das HinSchG zwar zu einem gewissen Anpassungsbedarf, gleichzeitig aber mitunter auch zu mehr Klarheit.

Teil 3 nimmt jene Bereiche in den Blick, die außerhalb des Wirtschaftssystems liegen. Kapitel 12 analysiert Whistleblowing in Verwaltung und Regierung – mit besonderem Fokus auf Staatsgeheimnisse und deren systematische Ausgrenzung aus dem Schutzbereich des HinSchG. Die Möglichkeit, durch formale Klassifikation große Mengen an Verschlusssachen vom Whistleblower- Schutz auszunehmen, wird kritisch beleuchtet – denn allein auf bundesdeutscher Ebene werden jährlich mehr als 300.000 Verschlusssachen registriert. Kapitel 13 untersucht die „Cop Culture“ der Polizei im Spannungsverhältnis zu interner Kritik – auch hier treten strukturelle Schutzlücken zutage, denn Hinweise können wahlweise an die bereits eingerichteten Polizeibeauftragten und Beschwerdestellen oder an die erforderliche interne Meldestelle eingereicht werden, die Sicherheitsgarantien des HinSchG bestehen aber nur bei Meldungen an die interne Meldestelle. Im Gesundheitswesen (Kapitel 14) trifft das HinSchG auf etablierte Meldesysteme; gerade im Bereich wirtschaftlicher Delikte bleibt das Gesetz dort dennoch von Bedeutung. Das Kapitel zum Whistleblowing im Sport (Kapitel 15) erschließt den noch jungen Forschungsbereich der sozio-psychologischen Motive der Hinweisgeber:innen, während das abschließende Kapitel 16 aufzeigt, wie unzureichend Whistleblowing im Bereich wissenschaftlichen Fehlverhaltens geschützt ist – auch dies eine Fragestellung, die in Österreich Berechtigung besitzt.

Die Beiträge haben überwiegend einführenden Charakter. Dies ist jedoch Teil der erklärten Konzeption des Bandes: Ziel ist nicht die Kommentierung des HinSchG im Detail, sondern eine exemplarische Beleuchtung seiner normativen Wirkungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen. In dieser Hinsicht löst der Band seinen Anspruch überzeugend ein. Für österreichische Leser:innen ist der Sammelband vor allem dort wertvoll, wo er systematische Grundlagenfragen stellt, normativ aus den europarechtlichen Vorgaben argumentiert oder Vergleichsperspektiven eröffnet. Die strukturelle Nähe der Rechtslage erlaubt eine produktive Übertragung vieler Beobachtungen, auch wenn dogmatische und institutionelle Unterschiede nicht vernachlässigt werden dürfen. Neben inhaltlichen Stärken ist auf einige redaktionelle Schwächen hinzuweisen: So füllen die Kapitel zum Teil Wiederholungen (etwa zum Aufbau des HinSchG oder der Sachverhalt zur Rs Heinisch), die jedoch beim Lesen nur einzelner Beiträge nicht auffallen. Hilfreich wäre auch ein Abkürzungsverzeichnis gewesen, weil gerade aus einer ausländischen Perspektive nicht sogleich ersichtlich ist, was zB das „LkSG“ ist. Etwas bedauerlich sind Komma- und Rechtschreibfehler (auffallend oft in der Großschreibung von „ihnen“/„Ihnen“) sowie das Fehlen eines Verzeichnisses der Autor:innen. Die Leserschaft bleibt damit über die Identität und den Hintergrund der beitragenden Personen im Unklaren – ein Aspekt, der insb in einem interdisziplinär angelegten Werk durchaus von Interesse gewesen wäre.

Wer sich in Österreich mit Hinweisgeberschutz wissenschaftlich oder legistisch auseinandersetzt, wird an diesem Werk – gerade weil es über das rein Nationale hinausweist – nicht vorbeikommen. 432