SchöffmannEuropäisches Sozialkollisionsrecht – Entsendung und Mehrfachtätigkeit in ihrem verfahrensrechtlichen Kontext
Manz Verlag, Wien 2024, XXXII, 230 Seiten, broschiert, € 62,–
SchöffmannEuropäisches Sozialkollisionsrecht – Entsendung und Mehrfachtätigkeit in ihrem verfahrensrechtlichen Kontext
Das vorliegende Werk von Peter C. Schöffmann analysiert das europäische Sozialkoordinierungsrecht mit den besonderen Tatbeständen der Entsendung und Mehrfachtätigkeit und konzentriert sich dabei insb auf verwaltungsverfahrensrechtliche Implikationen. Erklärtes Ziel ist es, das europäische Sozialkoordinierungsrecht als „Referenzgebiet des europäischen Verwaltungsrechts“ zu begreifen. Dazu werden nach einer Einführung (erster Teil) sowie einem Grundlagenkapitel zur Kollisionsrechtsordnung (zweiter Teil) die Tatbestände von Entsendung und Mehrfachtätigkeit als Ausnahmen der Beschäftigungsstaatsregel (dritter Teil) in den Blick genommen, bevor im abschließenden vierten Teil die Entsendebescheinigung im System der Verfahrensregeln eingeordnet wird.
In der Einführung spricht Schöffmann zunächst das Territorialitätsprinzip an, das es den Staaten gestattet, den Geltungsbereich ihrer Bestimmungen eigenständig festzulegen. Die sich daraus ergebenden möglichen Normkollisionen müssen durch Kollisionsrecht bzw Koordinierungsrecht bewältigt werden. Dazu weist er darauf hin, dass die Europäische Union im Grundsatz nur eine Kompetenz zur Koordinierung, nicht aber zur Harmonisierung habe. Zur Bestimmung der Frage, was zur sozialen Sicherheit rechnet, arbeitet er am Beispiel der E de Ruyter (EuGH 26.2.2015, C-623/13) heraus, dass es sich um ein Qualifikationsproblem handelt, wenn sich etwa die Frage stellt, ob eine Leibrentenabgabe als steuerrechtliches oder als sozialversicherungsrechtliches Instrument zu begreifen ist. Im Weiteren wird klargestellt, dass die Verweisungen des Koordinierungsrechts die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats begründen und zugleich das anwendbare Recht bestimmen, was im engen Zusammenhang mit dem Grundsatz steht, dass die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats zur Anwendung gebracht werden. Am Beispiel der Regressklage wird aber deutlich, dass die Anwendung eines fremden Rechts durch eine Behörde nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Folgerichtig plädiert Schöffmann für eine strikte Trennung von Zuständigkeitsfrage und Klärung des anwendbaren Rechts, wenngleich er konzediert, dass das Koordinierungsrecht eine Doppelfunktion hinsichtlich beider Fragestellungen einnehme.
Im zweiten Teil werden die Grundlagen des Koordinierungsrechts ausgebreitet. Zunächst wird dazu der Anwendungsbereich in den Blick genommen, insb die unionsautonome Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs. Sodann wendet der Verfasser sich dem Grundsatz der Anwendung einer einzigen Rechtsordnung (sowohl für Beiträge als auch für Leistungen) zu. Mit diesem Prinzip würden Normenhäufung und Normenmangel vermieden. Der Grundsatz der Exklusivität einer Rechtsordnung geht von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen aus. Daraus wäre an sich eine grundlegend ablehnende Haltung gegenüber materiellrechtlichen Korrekturen abzuleiten. Doch habe die Rsp in der Rs Petroni (EuGH 21.10.1975, 24/75, Slg 1975, 1149)eine erste Relativierung mit dem Grundsatz, dass das Unionsrecht nicht zur Begründung von Leistungskürzungen herangezogen werden dürfe, geboten. Das blieb zunächst aber auf die Frage einer Kumulation von Leistungen beschränkt. Die Bosmann-Rsp (EuGH 20.5.2008, C-352/06, Slg 2008, I-3827) ist jedoch darüber hinausgegangen, insoweit auch unzuständige Mitgliedstaaten nicht gehindert seien, zusätzliche Leistungen zu erbringen. Was zunächst als unproblematisch erscheinen könnte, wird vom Verfasser allerdings mit nachvollziehbarer Kritik versehen, weil die vorgelagerte kollisionsrechtliche Frage der Anwendbarkeit des Rechts dieses nicht zuständigen Mitgliedstaats ungeklärt blieb. Deren Beantwortung setze ein System von Ersatzanknüpfungen voraus, das in den Verordnungen nicht angelegt sei. In der Sache wird dadurch jedenfalls das Prinzip der Anwendung des Rechts nur eines Mitgliedstaats infrage gestellt. Im Anschluss geht es um die Frage der Qualifikation der Beschäftigung. Hier wird mit Recht eine Qualifikationsverweisung auf das Recht am Ort der Tätigkeit angenommen.
Der dritte Teil der Untersuchung nimmt Entsendung und Mehrfachtätigkeiten in den Blick. Der Verfasser sieht in der Entsendung eine „bedeutende Ausnahme vom Beschäftigungsortprinzip“. Sie diene der Kontinuität der sozialrechtlichen Integration und vermeide Verwaltungsaufwand. Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der Entsendung und deren innerer Berechtigung. Freilich ist schon hinter die Annahme, dass es sich bei der Entsendung um eine Ausnahme zum Beschäftigungsortprinzip handle, ein deutliches Fragezeichen zu setzen. Denn der Entsendetatbestand lässt sich auch so begreifen, dass er der Konturierung des Beschäftigungsortes dient: Gerade weil eine Entsendung nur vorübergehend erfolgt, wird der Beschäftigungsort aufs Ganze gesehen gar nicht verändert. Die Entsendung dient damit letztlich der Stabilisierung bei der Standortbestimmung. So gesehen lassen sich auch die Voraussetzungen der Entsendung besser begreifen. Das Verlangen nach einer arbeitsrechtlichen Bindung dient dann weniger der Präzisierung eines grenzüberschreitenden Elements (S 70) als vielmehr der Klärung, ob es noch um dieselbe Beschäftigung geht oder eine Zäsur eingetreten ist, die die neuerliche Bestimmung des Beschäftigungsortes fordert. In der Folge analysiert Schöffmann das Kriterium einer nennenswerten AG-Tätigkeit im Herkunftsstaat sowie die Befristung der Entsendung. Es werden zahlreiche Einzelfragen behandelt, wie etwa die, ob für den Tatbestand einer erneuten Entsendung eine zwischenzeitliche Arbeitsleistung im Herkunftsstaat erforderlich ist. Anschließend wird das Ablöseverbot in den Blick genommen. Der Verfasser arbeitet zutreffend heraus, dass es auch der Bekämpfung einer missbräuchlichen dauerhaften Inanspruchnahme einer Leistung durch den Dienstleistungsempfänger ohne Anschluss an das Sozialleistungssystem des Aufnahmestaates diene (S 83).
Die Mehrfachtätigkeit betrifft die Tätigkeit in mehreren Staaten, gleichzeitig oder nacheinander. Die Rege- 425 lung des Art 13 der Koordinierungsverordnung verhelfe dem Prinzip nur einer anwendbaren Rechtsordnung zum Durchbruch. Auch hier werden die verschiedenen inhaltlichen Voraussetzungen erläutert. Kritik formuliert der Verfasser an der Höchstgrenze von zwölf Monaten für Teiltätigkeiten nach der Format II-E (EuGH 20.5.2021, C-879/19, ECLI:EU:C:2021:409), indem er veranschaulicht, dass Konstellationen möglich blieben, bei denen es normzweckwidrig zum Statuswechsel komme. Schließlich wird die Anknüpfungsleiter erläutert, die vorrangig den Wohnstaat zum Verweisungsziel erklärt, in verschiedenen Konstellationen aber auch zum Staat des AG-Sitzes führen kann. In seiner abschließenden Zwischenbilanz betont der Verfasser, dass die Rsp bei der Konturierung der Tatbestände der Mehrfachbeschäftigung die Missbrauchsabwehr anstelle der Freizügigkeitsförderung in den Vordergrund gestellt habe.
Der vierte Teil schließlich wendet sich der Entsendebescheinigung im System der Verfahrensregeln des europäischen Sozialkoordinierungsrechts zu. Die Anknüpfungsregeln führten zu einer einheitlichen Bestimmung der Zuständigkeit. Es gebe indes kein harmonisiertes Verfahrensrecht. Vielmehr seien die Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten anzuwenden. Es existierten allerdings Kooperationsstrukturen, die zur Sicherung des geschlossenen Systems des Kollisionsrechts erforderlich seien. In diesem Kontext erblickt der Verfasser in der A1-Bescheinigung ein zentrales Element. Er sieht diese als einen transnationalen Verwaltungsakt an. Eine solche Bescheinigung sei von einer nationalen Behörde erlassen. Sie habe einen individuellen Charakter, obwohl sie nach der österreichischen Rsp, der der Verfasser sich ausdrücklich anschließt, kein Bescheid sei; des ungeachtet sei aber die Einzelfallbezogenheit gegeben. Durch die Bindungswirkung komme es zur territorialen Entgrenzung ohne weitere Vermittlungsschritte. Ausführlich wird die inhaltliche Bindungswirkung erläutert. Anschließend wird die Form der Entsendebescheinigung kurz in den Blick genommen. Sodann wendet der Verfasser sich der Frage einer rückwirkenden Entsendebescheinigung zu und weist auf das eminente Problem hin, dass diese selbst einer bereits bestandskräftigen Feststellung der Versicherungspflicht im Aufnahmestaat nach der Alpenrind-Rsp (EuGH 6.9.2018, C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669 = DRdA 2019, 220 [Zwinger] = NZA 2018, 1253, Rn 70 ff) entgegensteht. Eine rechtswidrige Entsendebescheinigung entfalte ebenfalls Bindungswirkung. Indes sei das Dialog- und Vermittlungsverfahren als kooperatives Aufhebungsverfahren zu begreifen. Die instruktiven Ausführungen zu fehlenden Möglichkeiten ausländischer Träger, das Verfahren auf Beseitigung der A1-Bescheinigung in Österreich zu betreiben, lassen aber doch eine deutliche Rechtsschutzlücke erkennen. Die Ausführungen Schöffmanns erläutern jedoch, dass dies letztlich in dem Vertrauen, dass die Träger und Gerichte der jeweils zuständigen Mitgliedstaaten das Recht verwirklichen, begründet sei. Noch deutlicher wird das in den sehr ausführlichen Erörterungen der Bindungswirkung in Missbrauchsfällen. Er arbeitet hier heraus, dass auch in diesen Fällen die Durchbrechung der Bindungswirkung erst dann stattfindet, wenn der Träger, der die Bescheinigung ausgestellt hat, im Dialog- und Vermittlungsverfahren nicht reagiert. Fällen von Betrug und Missbrauch Rechnung zu tragen, sei in erster Linie Sache des ausstellenden Trägers (S 214). Eine etwas kritischere Hinterfragung der Bindungswirkung hätte man sich gleichwohl gewünscht. Denn die Behörde, die eine A1-Bescheinigung ausstellt, ist eigentlich nicht die „per se zuständige“ Behörde. Ihr wird letztlich nur die Macht des Zugriffs gewährt, weil sie im Hinblick auf eine in der Regel zeitlich vorausgegangene Beschäftigung die Möglichkeit hat, eine Entsendebescheinigung auszustellen, während der Behörde des Aufnahmestaates ein solches Instrument nicht zur Verfügung steht, und zwar auch dann nicht, wenn der Aufnahmestaat tatsächlich nach dem System der Koordinierungsverordnungen zuständig ist. Die Diskussionen um Missbrauchsfälle machen das nur zu deutlich.
Doch das ist letztlich rechtspolitische Kritik. Das vorliegende Werk ist hingegen dem geltenden Recht verschrieben. Die Darstellung ist insgesamt ertragreich. Sie nimmt vor allem bei den Grundlegungen verschiedentlich Rückgriff beim Internationalen Privatrecht, etwa bei der Befassung mit Normenmangel und Normenhäufung oder der Auseinandersetzung mit der Qualifikationsfrage. Damit kann gesicherter Boden betreten werden und das Verständnis wird gefördert. Die Verwandtschaft beider kollisionsrechtlicher Systeme tritt deutlicher in den Vordergrund, es zeigt sich aber zugleich an verschiedenen Stellen die notwendige Eigenständigkeit im Hinblick auf die Besonderheiten des Sozialrechts. Der Verfasser liefert zudem einen instruktiven Überblick über die Tatbestände der Entsendung und der Mehrfachtätigkeit und bietet eine stimmige systematische Einordnung. Dabei gelingt es, den Fokus auf die verwaltungsrechtlichen Implikationen der Doppelnatur der Verweisungsnormen zur Bestimmung des anwendbaren Rechts einerseits und der zuständigen Behörde andererseits zu richten und die verfahrensrechtlichen Konsequenzen zu analysieren. Insgesamt handelt es sich um eine Arbeit, die einen wichtigen Beitrag zum System des europäischen Sozialkollisionsrechts leistet und eine Orientierung bei der Handhabung von Beschäftigungsortprinzip und den Tatbeständen der Entsendung und der Mehrfachtätigkeit bietet.