Der seelische Umsturz – Sozioökonomische Utopien von Frauen in der österreichischen Rätebewegung

  VERONIKA HELFERT (WIEN)

Am Ende des Ersten Weltkriegs regte sich in der Habsburgermonarchie intensiver Protest gegen den Krieg und die anhaltenden Krisen, die er verursacht hatte. Frauen und Männer, die nicht im aktiven Kriegsdienst standen, legten in mehreren großen Streikwellen 1917 und 1918 die Arbeit nieder und protestierten auf den Straßen. In Zuge der Streikbewegungen und nach den beiden Russischen Revolutionen 1917 organisierten sich Arbeiter:innen auch in Österreich als Arbeiterräte. Während aber im ehemaligen Zarenreich die bolschewistische Partei die Macht ergriff, war die Rätebewegung in Österreich bis zu ihrem Ende 1924 pluralistisch geprägt.1 Waren die sich auf mehreren Ebenen organisierenden Arbeiterräte (von den Bezirks-, Orts-, Kreisarbeiterräten bis hin zur Reichskonferenz) sozialdemokratisch dominiert, gab es auch andere linke und linksradikale Gruppierungen: die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ), im November 1918 gegründet,2 die Föderation Revolutionärer Sozialisten – Internationale (F.R.S.I.),3 die Poale Zion4 und eine Linksströmung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die bald in zwei Gruppen zerfiel: die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Arbeiterräte (Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Sozialdemokraten Österreichs), 1920 aus der SDAP ausgeschlossen, und die Neuen Linken, die in der SDAP verblieben.5 Das Rätemodell erschien vielen Sozialistinnen als eine Möglichkeit, eine Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem zu entwickeln; wie diese aussehen konnte, war freilich umstritten.6 Die Sozialdemokratin Marianne Pollak beschrieb die Attraktivität des Rätemodells folgendermaßen:

Der große Gedanke der Räteordnung ist die Intensivierung des Vertretungswesens. Sie besteht darin, daß das Volk in ungleich lebendigerer Weise seine Angelegenheiten selbst entscheidet, überwacht. Und darin, daß das Volk sich durch sich selbst erzieht.7

Im Rätesystem organisierten sich neben erfahrenen Aktivist:innen und Parteifunktionär:innen auch Menschen, die davor weder in Parteien noch in Gewerkschaften engagiert waren.8 Kommunistische und linksradikale Arbeiterrät:innen strebten vor allem im ersten Jahr nach Kriegsende eine Rätediktatur an. Daneben übernahmen sie aber auch zentrale Funktionen im neuen Staat in der Organisierung des Alltags – etwa bei der Kontrolle von Lebensmittelpreisen. Obwohl die „Arbeiterinnen- Zeitung“ im Jänner 1918 ihre Hoffnung ausgedrückt hatte, dass das „neue Rußland [...] auch in Bezug auf die Frauen [...] die große französische Revolution [überflügle; Anm der Autorin], die nur den Männern die Freiheit gab, die Frauen aber unfrei ließ und sie auf Herd und Familie beschränkte,9 sah die Realität hier anders aus. Trotz proklamierter Gleichheit von Frauen und Männern blieben Räteund revolutionäre Bewegungen männerdominiert – in Österreich genauso wie in Ungarn, Deutschland oder Russland.10 Wie im Folgenden aber gezeigt werden wird, stellten Sozialistinnen, die sich am Ende und nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb der Rätebewegung engagiert hatten, Überlegungen für eine neue Gesellschaft an, die Fragen von Geschlechtergerechtigkeit im Alltag, in der Arbeit und im Zusammenleben berührten.

1.
Ökonomische Demokratie

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs entwarf Emmy Freundlich ihr Konzept einer demokratischen Gesellschaft, das auch ökonomische Verhältnisse und Beziehungsweisen11 am Arbeitsplatz umfasste:421Unsere produktive Arbeit und unsere Arbeitsgemeinschaft müssen demokratisch sein, der gesamte Arbeits- und Verteilungsprozess muss eine demokratische Grundlage erhalten; erst dann kann die politische Demokratie den Boden gewinnen, auf dem sie unerschüttert zu ruhen vermag.12

Der Boden, auf dem die Demokratie stehen solle, war eine auf Partizipation und (bis zu einem gewissen Grad) Selbstverwaltung ausgelegte Gesellschaft. Eine strikte Trennung von politischer, öffentlicher Sphäre und einem produktiven, ökonomischen sowie reproduktiven, privaten Bereich machte für Freundlich wenig Sinn. Verantwortlich für eine demokratische Gesellschaftsordnung, die die Art und Weise, wie wirtschaftliche Produktion organisiert wurde, beinhaltete, war die Arbeiterbewegung; Mittel dafür konnten Enteignungen und Sozialisierungen von Unternehmen sein. Ein anderer Weg war für Freundlich aber die (zunehmende) Einbindung von Arbeiter:innen und Konsument:innen in die Leitung von Betrieben – allen voran den staatlichen. An die Stelle von „autokratischer Wirtschaftsführung“ müsse „die Organisation der wirtschaftlichen Demokratie“ stehen.13

Die Einbindung von Arbeiter:innen und Konsument: in nen – also auch von Personengruppen, die keinen (akademischen) Expert:innenstatus auf dem Gebiet von Betriebs- oder Volkswirtschaft hatten – war der Weg zur wirtschaftlichen Demokratie. Eine weitere Möglichkeit dazu waren Genossenschaften. Sie waren aber noch viel mehr. Das Einkaufen in Genossenschaften konnte überhaupt als eine „friedliche Enteignung“ gesehen werden.

Wenn die Hausfrauen ihre Einkäufe im Laden der Genossenschaft decken, verhindern sie die Bildung von privatem Kapital. Sie sozialisieren, indem sie die Neubildung von kapitalistischen Betrieben hindern und an ihrer Stelle gemeinwirtschaftliche Betriebe aufbauen helfen.14

Freundlich und andere (linke) Sozialdemokratinnen, wie etwa die Sozialwissenschaftlerin Helene Bauer, suchten in den Jahren des politischen Umbruchs damit auch nach Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem.15 Beide waren im Übrigen auch als Arbeiterrätinnen tätig.16

Im Gegensatz dazu forderten Kommunistinnen eine sofortige Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse: „man kann die ökonomische von der politischen Revolution unterscheiden, man kann sie aber nicht voneinander trennen17, schrieb die Lehrerin Hilde Wertheim rückblickend 1925. Wertheim war gemeinsam mit großen Teilen der F.R.S.I. der KPÖ beigetreten.18 Sozialisierung – also die (Enteignung und) Vergemeinschaftung von Betrieben – war eine konkrete Maßnahme, die gefordert wurde, um auch die wirtschaftliche Macht in die Hände der Arbeiterklasse zu legen. Eine Maßnahme, die nicht auf Freiwilligkeit beruhen konnte, wenn sie denn erfolgreich sein sollte, wie es auch die Titelfigur in der Novelle „Der Altar“ (1920) von Gina Kaus erkannt hatte.19

Der revolutionäre Elan hatte es in der Nachkriegszeit ermöglicht, erste Schritte in Richtung betrieblicher Demokratie zu gehen. Wie auch in Deutschland20 wurde eine Staatskommission für Sozialisierung eingerichtet. Diese Kommission sollte Modelle erarbeiten, wie staatliche Unternehmen gemeinwirtschaftlich und unter Einbezug von Arbeiter:innen geleitet werden konnten. Über Modellversuche gingen diese Bemühungen allerdings nicht hinaus, es wurde aber Mitte Mai 1919 ein Betriebsrätegesetz verabschiedet. Als Mitarbeiterin und später auch Sekretärin in der Sozialisierungskommission fungierte Käthe Leichter, bevor sie in der Arbeiterkammer das Frauenreferat aufbaute.

Kommunistischen Akteur:innen gingen diese Reformen nicht weit genug: Im Gegensatz zu Betriebsräten wurden die Arbeiterräte, die seit Ende der Monarchie bestanden und für die bis 1923 Wahlen stattfanden, gesetzlich nicht verankert; die 1920 eingerichteten Arbeiterkammern verstanden sie als Maßnahme, den Einfluss von Arbeiterräten zu beschränken.21

2.
Revolutionierung des Alltags

Emmy Freundlich stellte 1928 fest: „In den kleinen Dingen des täglichen Lebens liegt auch revolutionäre Kraft.22 Mit ihrer Vision einer Revolutionierung des Alltags – des Einkaufens, der Hausarbeit, des Wohnens und des Kinderversorgens – war sie nicht allein. Für viele Sozialistinnen war der „seelische Umsturz23 ein wichtiger Bestandteil einer neuen Gesellschaft. Mit dem Beispiel des revolutionären Russlands vor Augen24 proklamierten Kommunistinnen neue, kollektive Kindererziehung, um diese für die kommende sozialistische Gesellschaft vorzubereiten.

Mütter [...] denkt an eure hungernden Kinder, an diese körperlich und geistig von Geburt auf hungernden Kinder, wählt Mütterräte. Diese sollen schon jetzt alles vorbereiten, ihr werdet sie mit Aerzten und Lehrern und Erziehern gemeinsam einrichten, die Villen und Gärten um die Stadt herum, die Schlösser, die Paläste und Gärten, dort wird das Heim eurer Kinder, aller Kinder [sein].25

Die Vision in diesem Aufruf im April 1919 in der Beilage „Die revolutionäre Proletarierin“ zur kommunistischen Zeitung „Soziale Revolution“ wurde im Nachkriegsösterreich umzusetzen versucht. Die 1908422 gegründeten sozialdemokratischen Kinderfreunde richteten 1919 mit Einverständnis des Bezirksarbeiterrates Hietzing im Schloss Schönbrunn ein Kinderheim und eine Ausbildungseinrichtung für Erzieher:innen ein.26 Die von den sozialistischen Akteur:innen geteilte Vision einer gemeinschaftlichen Erziehung von Kindern sollte diese in einem demokratischen Umfeld heranwachsen lassen. Der Lehrer sollte kein „predigende[r] Vorgesetzte[r]“ mehr sein, sondern der „mitschaffende, erfahrene und helfende Kamerad27, statt militärischem Drill Koedukation. Schüler- und Elternräte sollten auch hier die Institution der Schule demokratisieren helfen.

Die sozialdemokratische Lehrerin und Journalistin Marianne Pollak, die ua an der Schönbrunner Schule für Erzieher:innen tätig war, dachte 1919 programmatisch über die gesellschaftliche Bedeutung der Erziehungsarbeit nach. Im Gegensatz zu den vielfach anzutreffenden Adressierungen der Mütter sprach Pollak von der Notwendigkeit einer „Revolutionierung des Elterngehirns28 und forderte Väter auf, einen aktiven Part im Leben ihrer Kinder einzunehmen. Die Vaterrolle sei nahezu ein politisches Mandat, das nicht nur die Zukunft der Kinder, sondern der sozialistischen Gesellschaft sichere:

Es muß klarwerden, daß die Eigenschaft, Vater zu sein, sowohl einen persönlichen Beruf als eine gesellschaftliche Funktion bedeutet und daß sie daher in sich die soziale Verpflichtung der Arbeit und des Mandats verbindet.29

Die gemeinschaftliche Erziehung von Kindern außerhalb der Familie und die partnerschaftlich aufgeteilte Erziehungsarbeit waren beides Forderungen, die im Zusammenhang mit der Befreiung der Frauen von der „häuslichen Knechtschaft“ standen.30 Die Doppel- und Dreifachbelastung von arbeitenden Frauen, die Erwerbs-, Erziehungs-, und Hausarbeit vereinbaren mussten – oft erschwert durch begrenzte finanzielle Mittel –, sollte durch eine modernere Haushaltsführung, leicht zu erreichende Einrichtungen wie Waschküchen oder Kindergärten und helle, leistbare Wohnungen erleichtert werden. Das Wohnbau- und Sozialprogramm sozialdemokratisch geführter Gemeinden – allen voran das Rote Wien – brachte in der Zwischenkriegszeit konkrete Verbesserungen. Dennoch kritisierten Sozialistinnen, wie etwa Therese Schlesinger, Nationalratsabgeordnete für die SDAP in der Ersten Republik, das Verharren in der kleinbürgerlichen Idylle der Parteigenossen und ihr fehlendes Verständnis für Frauen:

Kleinbürgerlich stumpfes Behagen, kleinbürgerlich beschränkte Wohlanständigkeit und kleinbürgerliche Familienhierarchie, das sind die Ideale [...], die eine so mächtige Suggestion ausüben, als sie verwachsen sind mit allem, was das Gemüt am tiefsten ergreift: Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an das aufopfernde Walten der eigenen Mutter, an die Hoffnungen des Brautstandes, die ersten Ehefreuden.31

In einem anderen Artikel zu „Die Frauen und die Revolution“ stellte Schlesinger die schwierigen Bedingungen von Frauen vor, sich an der politischen Arbeit in der Transformationszeit zu beteiligen. Erschwert wurde die bereits vorhandene Mehrfachbelastung durch die Folgen des Krieges, wie etwa die allgemeine Lebensmittel- und Rohstoffknappheit.32 Arbeiter:innen würden den Unternehmern aufgrund von Unterbezahlung und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen „Kraft, Zeit, Gesundheit, Mutterglück und Wehrhaftigkeit33 schenken. Notwendig war also, Frauen von der unbezahlten Tätigkeit im Haushalt zu befreien und ihre Interessen am Arbeitsplatz zu vertreten, nur dadurch konnten diese auf der einen Seite individuelles Glück erlangen und auf der anderen Seite mit Energie in der Arbeiterbewegung mitwirken. Eine Möglichkeit, Frauen in ihren Care-Arbeiten zu unterstützen, waren Formen von kollektiver Haushaltung wie etwa Einküchenhäuser.34

Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen in ganz Europa überlegten, wie die alltäglichen Sorgearbeiten sozialisiert, die Mehrfachbelastung und Ausbeutung von arbeitenden Frauen reduziert und die Bildungschancen von Kindern verbessert werden konnten.35 In einigen Fällen sollte auch das Rätemodell dafür verwendet werden. Allerdings waren die Überlegungen in Bezug auf Sorgearbeiten meistens als Frauenangelegenheit gedacht. Dies kann als Zeichen des Androzentrismus36 verstanden werden, einer unhinterfragten Maskulinität (revolutionärer) Arbeiterbewegung, die den Haushalt als weibliche, unproduktive Sphäre geringschätzte.37

3.
Beziehungsweisen

In den Vorstellungen einer gleichberechtigten Gesellschaft iSd Geschlechter- und Klassenverhältnisse wurden auch Ehe- und Liebesideale neu formuliert. Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen verstanden die Ehe als ein Instrument von kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen und423 Folge von Privatbesitz,38 die Frauen materiell und rechtlich vom Ehemann abhängig machte, wie es das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811 kodifiziert hatte.39 Nicht nur in revolutionären Kreisen zirkulierten seit 1900 Ideen von freier Liebe und Partner:innenwahl.40 Die reformierten Ehe- und Sexualpolitiken Russlands galten auch in diesem Bereich nach dem Krieg als Vorbild. Therese Schlesinger sprach anerkennend von der „Kühnheit der Reformen41 im ehemaligen Zarenreich: Es waren ua die Zivilehe eingeführt, uneheliche Kinder den ehelichen gleichgestellt und der Schwangerschaftsabbruch legalisiert worden.42 Vorstellungen von Mutterschaft bzw Elternschaft, Liebe und Sexualität und damit auch Weiblichkeit und Männlichkeit wurden mit neuer Bedeutung versehen.43 Die Philosophin Bini Adamczak betont, dass diese neue und andere Gesellschaft als radikal neue Beziehungsweise verstanden werden kann.44

Elfriede Eisler-Friedländer hoffte in ihrer Schrift „Sexualethik des Kommunismus“, dass in „der von wirtschaftlichen Kämpfen befreiten glücklicheren Zukunft des Sozialismus“, diese „frei von der kapitalistischen Sexualheuchelei [sei], die unsere Gegenwart verpestet“.45 Die „Hässlichkeit des Sexuallebens46 in bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaften drücke sich nicht zuletzt durch misogyne Doppelmoral aus. Sie betrachtete als „selbstverständliche Forderung47, dass auch gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen frei gelebt werden sollten. Die Frauenrechtsaktivistin Olga Misař, die sich in den frühen 1920er-Jahren der anarchistischen Bewegung annäherte, publizierte eine Schrift, in der sie sich für das „Selbstbestimmungsrecht in der Liebe48 starkmachte.

Grundlage für dieses neue Selbstbestimmungsrecht war die Reform des Eherechts – auch für Sozialdemokratinnen, die vielfach die Idee einer partnerschaftlichen und gleichberechtigten Ehe propagierten.49 Die Reform des Eherechts scheiterte bereits 1919, Scheidungen von katholischen Ehepaaren mussten beim Gesetzgeber als Ehedispens angesucht werden.

In ähnlicher Weise war die Legalisierung bzw Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen und ein unkomplizierter Zugang zu Verhütungsmitteln ein wichtiges Agitationsfeld – auch für Arbeiterrätinnen: Die Frauenärztin und Sozialdemokratin Margarethe Hilferding publizierte dazu und Elise Skolik hielt Vorträge wie etwa „Mutterschaftszwang und Familie“ für den Bund gegen den Mutterschaftszwang.50 Die Frauenreichskonferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei forderte 1920 eine sogenannte Fristenlösung (straffreien Abbruch der Schwangerschaft innerhalb eines bestimmten Zeitraums) und einen Antrag im Parlament.51

Hatte sich die unmittelbare Nachkriegszeit als ein fruchtbarer Boden erwiesen, das Geschlechterverhältnis auch im intimen Zusammenleben neu zu ordnen, sollte dies nicht von allzu langer Dauer sein. Viele der geschlechterpolitischen Neuerungen wurden im bolschewistischen Russland 1926 wieder zurückgenommen.52 Auch in Österreich scheiterten Sozialistinnen an der innenpolitischen Lage und an den eigenen Parteigenossen, die diesen Fragen keine zentrale Aufmerksamkeit schenkten.

***

In den ersten Jahren der neuen Republik wurde von sozialdemokratischen Akteur:innen Demokratie als ein Modell verstanden, das nicht nur Politik, sondern die gesamte Gesellschaft umfassen sollte und das auch in Form des Rätesystems mit einer parlamentarischen Republik in Eingang gebracht werden konnte. Linksradikalen und Kommunist:innen ging dies nicht weit genug – sie wollten die Abschaffung der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie und die Errichtung einer Räterepublik.

Allerdings: In ihren Zukunftsentwürfen träumten Emmy Freundlich, Marianne Pollak oder Therese Schlesinger genauso wie Elfriede Eisler-Friedländer und Hilde Wertheim von hierarchiefreien Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Lehrer:innen und Schüler:innen, Fabriksdirektoren und Arbeiter:innen oder Männern und Frauen. Das bolschewistische Russland diente in vielerlei Hinsicht als Referenzpunkt und Argumentationshilfe für die sozioökonomischen Utopien von linken Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen zwischen 1916 und 1924. Das Ende der Habsburgermonarchie schaffte einen Moment des Neuanfangs, in dem auch die Geschlechterverhältnisse zur Verhandlung standen. Aktivistinnen schlugen ua vor, die Organisation der täglichen Sorge- und Familienarbeiten zu einer Angelegenheit zu machen, die alle Geschlechter etwas anging, und Liebesbeziehungen gleichberechtigt und frei zu gestalten. Ihre Überlegungen blieben allerdings weitgehend marginalisiert. Trotz der Proklamierung gleicher Rechte von Männern und Frauen war auch in der revolutionären Transformationsphase der Widerspruch wirksam, der bereits im Versprechen der Französischen Revolution gelegen war: Gleichheit und Freiheit war in erster Linie für männliche Staatsbürger, die Brüder, gedacht.424