KornwachsKI und die Disruption der Arbeit – Tätig jenseits von Job und Routine

2. Auflage, Carl Hanser Verlag, München 2023, 410 Seiten, gebunden, € 30,90

SASCHA OBRECHT (WIEN)

Was ist Arbeit und was hat unser Bild von Arbeit geprägt? Wie ist ihr Stellenwert in unserer Gesellschaft? Wie verhält sich Technik zur Arbeit? Und schlussendlich: Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt der Gegenwart und Zukunft?

All diesen Fragestellungen und noch vielen weiteren geht der Autor nach, wobei sich bereits anhand der Fragen zeigt, dass das Werk keine juristische, sondern eine philosophisch-technische Annäherung an dieses 167 umfassende Thema darstellt. Das vermag auch nicht wirklich zu überraschen, zumal der Autor Physiker und Philosoph ist. Genau dieser interdisziplinäre Mix ermöglicht es Kornwachs auch Zusammenhänge zu schildern, die ohne dem Wissen um die andere Disziplin wohl sonst nur schwer herauszuarbeiten wären.

Dabei startet er sein Buch mit Fragen und Thesen: KI entwickle sich immer mehr zum Kontroll-, Gestaltungs- und Steuermittel in der Arbeitswelt, was die altbekannte Frage aufwerfe, ob uns die Arbeit durch den technologischen Fortschritt ausgehe. Die Erleichterung der Arbeit durch den Einsatz von KI komme auch potentiell zu einem hohen Preis. Einerseits drohe ohne entsprechende Maßnahmen die völlige Transparenz sämtlicher privater und professioneller Handlungen und andererseits drohe die Entstehung einer Sachzwangkultur; insb, wenn Ergebnisse der KI nicht mehr nachvollziehbar sind und damit alternativlos erscheinen. Die Entwicklung würde zu einer weiteren Zersetzung klassischer Arbeitsverhältnisse hin zu einer selbstbestimmten Aneinanderreihung von Aufträgen führen.

Um seine Thesen zu stützen, macht sich der Autor auf die Reise der Bedeutung von Arbeit für Individuen nachzuspüren. Dabei weist er zurecht darauf hin, dass Arbeit nicht nur Anstrengung bedeutet und stets auf die Sicherung des Lebensunterhalts gerichtet ist, sondern mitunter auch Selbstbewusstsein und Sinn stiftet sowie soziale Teilhabe und Interaktion für Menschen ermöglicht.

Als nächstes werden die Veränderungen in der Arbeitswelt anhand der „Siegeszüge“ des Computers und der Algorithmen beschrieben. Dabei bietet er einen – durchaus auf Österreich übertragbaren – historischen Überblick über die zunehmende Maschinisierung in der deutschen Landwirtschaft, die dazu geführt hat, dass die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft von 80 % um 1900 auf ca 5 % heute gesunken ist. Er zeigt außerdem, dass das Automatisierungspotential in jenen Branchen am höchsten ist, in denen gleichartige, repetitive Handgriffe von Menschen erfolgen; es überrascht daher nicht, dass die Automatisierung vor allem in Bereichen der Produktion weit fortgeschritten ist. Die daraus gewonnene Entkopplung von maschineller Produktion und Notwendigkeit der Anwesenheit von AN war ein wesentlicher Aspekt, der die Abnahme der Lebens- und Tagesarbeitszeit ermöglicht hat. Mit dem Siegeszug des Computers zwingend verbunden ist der Siegeszug der Algorithmen. Zur Etablierung dieser Algorithmen bedarf es der Fähigkeit, Prozesse zu abstrahieren und mathematisieren. Das wiederum stellt erneut Arbeit dar – so mache der Einsatz von Algorithmen zwar bestimmte Tätigkeiten überflüssig, mache aber neue, diesem Prozess vorangehende Arbeit notwendig.

Folgend beschreibt der Autor die Entstehung der Arbeit und ihren Wert in der Gesellschaft durch die Jahrhunderte. Über die Sklavenzeit und die Verachtung der Arbeit in der antiken Philosophie, zur Wertigkeit der Arbeit im Konfuzianismus, Hinduismus, Judentum, Islam und dem Christentum bis hin zur Schule der Scholastik, der Reformation und den Veränderungen in der Perzeption während der Aufklärung und der Industrialisierung: Dem Autor gelingt es dabei, die wesentlichen Eckpunkte in prägnanter Kürze zu skizzieren, was das Buch zu einem breiten Fundus an unterschiedlichsten Zugängen zur Arbeit macht. Schließlich nähert sich der Autor der Gegenwart an und beschreibt die Formen der Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeit, die erst durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie möglich werden (Stichwort Homeoffice und Telearbeit).

Einen besonderen Schwerpunkt legt Kornwachs auch auf die Schilderung der Wechselwirkung zwischen Technik und Arbeit. So ersetze Technik Arbeit, setze aber gleichsam abstraktere Arbeit von qualifiziertem Personal voraus. Dieser Umstand führe zu einem auch in Österreich zu beobachtenden Paradoxon: Auf der einen Seite stehen AN, die ihre Arbeit verlieren, während auf der anderen Seite Unternehmen nach Fachkräften suchen, derer sie nicht am Arbeitsmarkt fündig werden. Die vielfach vertretene These, dass die Arbeit nicht ausgehe und sich aus jeder Entwicklung auch neue Arbeit ergebe (dazu bspw auch Füllsack in seinem kompakten und gelungenen Werk zur Arbeit: Füllsack, Arbeit [2009]), mag somit zwar auf Makroebene stimmen; das helfe jedoch den betroffenen Individuen in einer solchen Situation wenig, da diese persönlich oft nicht mehr die notwendigen Qualifikationen erwerben können und arbeitslos bleiben.

Schlussendlich fällt es schwer, ein Urteil über das Werk zu finden. Obgleich aus dem Werk viele wertvolle Erkenntnisse gewonnen und Zusammenhänge etabliert werden können, stellte sich der Rezensent während des Lesens des Öfteren die Frage, ob der Titel nicht ein wenig irreführend ist. So schreibt der Autor selbst, dass der Einsatz von KI fälschlicherweise „gern aus Marketinggründen als disruptiv bezeichnet wird“; was die Wahl des Titels umso bemerkenswerter macht. Außerdem scheinen die Schwerpunktsetzung und der Titel ein wenig auseinanderzuklaffen. So fließen KI und Digitalisierung oft auch in die Kapitel ein und die letzten Kapitel widmen sich dann der Thematik auch unmittelbar; über weite Teile ist das Buch jedoch grundlegenderen Fragen rund um den Begriff, die Entwicklung und die Wertigkeit der Arbeit gewidmet. Dies hat einen umfassenden Mehrwert und wird fundiert und sehr kompakt beschrieben, allerdings lässt der Titel – zumindest für den Rezensenten – doch eine andere Schwerpunktsetzung vermuten.

Es bleibt festzuhalten, dass das Werk mit interdisziplinären und umfassenden Wissen unterfüttert ist, was es spannend, aber auch durchaus anspruchsvoll zum Lesen macht. Zur Hilfe eilt, dass der Autor stets Beispiele bedient, viele Grafiken einbindet und trotz Komplexität des Themas einen angenehmen Schreibstil pflegt. Das Buch ist zwar nicht unbedingt eine Empfehlung für den nächsten Strandurlaub, aber wer Interesse an einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit und kommenden Herausforderungen für den Arbeitsmarkt hat, wird mit dem Werk sicherlich glücklich. 168