FrankDer Gewerkschaftsbegriff des MitbestG im Lichte der kollektiven Koalitionsfreiheit
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, 441 Seiten, gebunden, € 119,90
FrankDer Gewerkschaftsbegriff des MitbestG im Lichte der kollektiven Koalitionsfreiheit
Die vorliegende Schrift, die an der Universität Münster als Dissertation angenommen wurde (Betreuer: Clemens Höpfner), zeigt sehr gut, dass das kollektive Arbeitsrecht in Deutschland grundlegende Unterschiede zum österreichischen aufweist und damit die dafür erzielten Ergebnisse nicht unbedingt übertragbar sind. Konkret geht es bei dieser Arbeit im Kern darum, ob Gewerkschaften, damit sie Vertreter:innen in einen Aufsichtsrat entsenden dürfen, alle Voraussetzungen erfüllen müssen, die für die Tariffähigkeit gefordert werden (insb die soziale Mächtigkeit). Damit sind zwei Punkte angesprochen, bei denen grundlegende Unterschiede zwischen der deutschen und österreichischen Rechtslage bestehen: Einerseits geht es um das System der Mitbestimmung der Belegschaft im Aufsichtsrat und andererseits um die Kollektivvertragsfähigkeit (in Deutschland: Tariffähigkeit) von Gewerkschaften. Bevor in das konkrete Thema des zu rezensierenden Buches eingestiegen wird, bedarf es daher einiger Hinweise zum deutschen Recht.
Die Mitbestimmung der AN im Aufsichtsrat in Deutschland divergiert grundlegend von der in Österreich. Sie ist bei uns als Teil der betrieblichen Mitbestimmung im § 110 ArbVG mit einem Entsendungsrecht des Zentralbetriebsrats bzw, sofern nur ein Betrieb besteht, des BR konzipiert. In Deutschland ist sie hingegen aus dem betriebsrätlichen Kontext des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) herausgelöst und in einem eigenen Gesetz, dem Mitbestimmungsgesetz (MitbestG), geregelt. Die Aufsichtsratsmitglieder der AN werden dabei nicht durch die Betriebsratskörperschaften gewählt, sondern direkt durch die im Unternehmen 164 beschäftigten AN, wobei die Wahl ab einer gewissen Größe durch Delegierte erfolgt, die unmittelbar durch die Belegschaftsmitglieder zu wählen sind (§§ 9 ff MitbestG). Eine zweite Besonderheit ist der Umstand, dass gesetzlich vorgesehen ist, dass nicht nur AN des Unternehmens im Aufsichtsrat vertreten sein müssen, sondern auch Vertreter:innen von Gewerkschaften. Nach § 7 Abs 2 MitbestG gehören dem Aufsichtsrat in Deutschland somit vier bis sieben AN des Unternehmens und zwei bis drei Vertreter:innen von Gewerkschaften an. Hinsichtlich der Gewerkschaften sieht Abs 5 leg cit vor, dass diese in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sein müssen, dessen AN nach dem MitbestG an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen.
Das BAG vertritt nun in seinem Beschluss vom 15.5.2019 (7 ABR 35/17), dass im Arbeitsrecht ein „einheitlicher Gewerkschaftsbegriff“ zur Anwendung komme und damit für die Mitbestimmung im Aufsichtsrat die Voraussetzungen relevant sind, die für die Tariffähigkeit zu § 2 Abs 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) entwickelt wurden. Damit reicht nicht aus, dass es sich iSv Art 9 Abs 3 Grundgesetz (GG) um eine Koalition handelt, dh einen organisatorisch verfestigten Zusammenschluss mit dem Zweck, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen seiner Mitglieder zu wahren und zu fördern. Zusätzlich bestehen nämlich für die Tariffähigkeit noch weitere von der Rsp entwickelte Mindestvoraussetzungen: Gewerkschaften müssen tarifwillig sein, sie müssen das geltende Tarif-, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht als für sich verbindlich anerkennen und über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler verfügen (sogenannte soziale Mächtigkeit). Zudem wird verlangt, dass die innere Ordnung und die Willensbildung des Berufsverbands demokratischen Grundsätzen entsprechen müssen. Diese weiteren Voraussetzungen sollen das Funktionieren des deutschen Tarifvertragssystems sicherstellen, indem nur solche Organisationen Tarifverträge abschließen können sollen, die über eine gewisse Leistungsfähigkeit verfügen und als verlässlich einzuschätzen sind (dazu ErfK/Franzen24 § 2 TVG Rz 7 ff). Anders als in Österreich besteht aber kein formelles Verfahren für die Zuerkennung der Tarifvertragsfähigkeit und die Kriterien für diese sind nicht ausdrücklich gesetzlich niedergelegt, sondern ergeben sich aus einer telelogischen Interpretation des Gewerkschaftsbegriffes im Lichte eines funktionsfähigen Kollektivvertragssystems.
Vor diesem Hintergrund prüft Caroline Frank in der vorliegenden Arbeit nun, inwieweit die These des einheitlichen Gewerkschaftsbegriffes überzeugt oder ob nicht differenzierter vorgegangen werden und der Unterschied der teloi der einzelnen Gesetze stärkeren Niederschlag bei der Begriffsbildung finden muss.
Die Untersuchung ist dabei breit angelegt und stellt zuerst über 100 Seiten den Status quo dar, um dann auf Basis der Grundgedanken der Mitbestimmung im Allgemeinen und der Unternehmensmitbestimmung im Besonderen ab S 275 über weitere 100 Seiten einen eigenen mitbestimmungsrechtlichen Gewerkschaftsbegriff zu entwickeln. Dabei wird auf Basis der – wie es heißt – „klassischen“ Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik und Historie) festgestellt, dass unterschiedliche und zwar widersprüchliche Ergebnisse erzielt werden. Während der einheitlich durch die Gesetzeslandschaft verwendete Wortlaut (Gewerkschaft ohne weitere Spezifikation) für ein einheitliches Begriffsverständnis spricht, so deuten systematische und auch historische Argumente in die andere Richtung. Letztlich wird dann auf eine verfassungskonforme Interpretation zurückgegriffen und nachvollziehbar damit argumentiert, dass der Auslegung der Vorzug zu geben ist, der die Betätigungsfreiheit von Koalitionen bzw die Koalitionsmittelfreiheit möglichst wenig einschränkt. Das führt zum Erfordernis einer eigenen am Zweck der Unternehmensmitbestimmung orientierten Begriffsbildung. Nach Frank sind damit das Merkmal der Tarifwilligkeit ebenso auszusondern wie die Anerkennung des Tarifrechts sowie des Arbeitskampf- und Schlichtungsrechts. Die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften sind im Hinblick auf die Funktionsweise der Unternehmensmitbestimmung vom Erfordernis der Druckausübungsfähigkeit zu entkleiden und sie beschränken sich auf das Mindestmaß, das zur Erfüllung der Mandatspflichten sowie der Vorbereitung und der Ausgabe der Wahlvorschläge erforderlich ist. Zuletzt wird insb die soziale Mächtigkeit als nicht erforderlich angesehen, da deren Zwecke in der Unternehmensmitbestimmung bereits normativ abgesichert sind. Sozusagen im Ausgleich dazu werden dann andere an der Unternehmensmitbestimmung orientierte Voraussetzungen entwickelt, die zT quasi eine Anpassung der Anforderungen der Tariffähigkeit für das Mitbestimmungsrecht darstellen. Konkret geht es um die Anerkennung des Mitbestimmungsrechts, die Beschlusswilligkeit und um – das ist originär – branchenspezifische Fachkenntnisse.
Aus einer österreichischen Außensicht erscheint die Untersuchung schlüssig und die Ergebnisse sind nachvollziehbar; übertragbar sind sie hingegen ob der dargestellten Unterschiede der Rechtslage kaum. Sie schärft jedoch den Blick für die grundlegenden Unterschiede im Mitbestimmungsrecht und zeigt zudem, wie lohnend eine umfassende Auseinandersetzung mit einer auf den ersten Blick wohl bestechenden „einfachen“ Lösung der Rsp sein kann, wie sie vom BAG mit dem einheitlichen Gewerkschaftsbegriff entwickelt wurde.