Arbeiterkammern oder Arbeitskammern? – Anmerkungen zum Diskurs im Deutschen Reich bis 1910
Arbeiterkammern oder Arbeitskammern? – Anmerkungen zum Diskurs im Deutschen Reich bis 1910
Die vergeblichen Bemühungen im 19. Jahrhundert in Österreich, Arbeiterkammern als Pendant zu den Handelskammern zu errichten, sind weitgehend bekannt. Erinnert sei an die Forderungen der Arbeiterschaft 1872/74 und an den von Victor Adler vehement abgelehnten Antrag der Liberalen ein Jahrzehnt später.1 Kaum bekannt ist jedoch, dass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich zu einem heftigen politischen Diskurs über die Errichtung von Arbeiter- oder Arbeitskammern kam.2 Die nachfolgende Darlegung versucht – ohne nun auf die sozialpolitische Entwicklung des Deutschen Kaiserreiches im Detail einzugehen – einen ersten Überblick über diese kaum bekannte Debatte bis zum Beginn des 1.Weltkrieges zu geben.
Waren die Jahrzehnte zwischen 1815 und 1848 in Österreich geprägt durch das Metternichsche System polizeistaatlicher Unterdrückung von einem Rückzug des Bürgertums ins Private, so waren sie auch in den deutschen Staaten „erfüllt von innerer politischer Gärung und untergründiger sozialer Dynamik
“.2 Manche, wie Johann Wolfgang von Goethe, sahen den ökonomischen Wandel mit gemischten Gefühlen: „Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich: es wälzt sich heran, wie ein Gewitter, langsam, langsam, aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.
“3 Die „soziale Frage“, die Lage des Proletariats in den entstehenden Fabriken,4 rief eine Reihe von bürgerlichen politischen Romantiker auf den Plan, die sich als Gegner des wirtschaftlichen Liberalismus in Deutschland outeten.5 Wollte etwa der Romantiker Heinrich Müller den Arbeitern zu mehr Recht in der bürgerlichen Gesellschaft verhelfen, so ging Franz v. Baader einen Schritt weiter und forderte nicht zuletzt, um einen revolutionären Umbau der Gesellschaft hintanzuhalten, eine staatliche überbetriebliche Interessenvertretung in Form eines „Arbeiter- und Armenlandesrates“. Dieser sollte „aus den Arbeitern selber und dem ihm als Fürsprecher, Leiter und Pfleger beigegebenen Clerus
“ gebildet werden.6 Während andere Sozialreformer in Deutschland Überlegungen zu einer betrieblichen Mitbestimmung anstellten, wies Immanuel Wohlwill auf die Ursprünge von Altersarmut hin und forderte ein Eingreifen des Staates: „Der Staat darf die schreiende Ungerechtigkeit nicht dulden, dass der aus der Arbeit hervorgehende Gewinn dem Herrn allein zu Gute kommt
.“7 Er präferierte die Gründung von aus AN und AG sowie Rechtsvertretern paritätisch zusammengesetzten „Ausgleichs-Commissionen“. Dadurch könne „ohne alle weitere Freiheitsberaubung das gute Einverständnis am besten zu erhalten erhalten sein
“.8 Der Österreicher Alois Perthaler wiederum konzentrierte sich auf die betriebliche Mitbestimmung „im Sinne einer Betriebspartnerschaft
“.9 Diesen und vielen anderen Bemühungen zur Verbesserung der Beziehung von Kapital und Arbeit war gemein, dass sie keine konkreten Ergebnisse in einer zutiefst patriarchalischen, unsozialen, kapitalistischen Gesellschaft zeitigten. Die Lage des Proletariats war von der brutalen bis zur Erschöpfung reichenden Ausnützung der Arbeitskraft, von Kinderarbeit, Massenarmut und schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen geprägt.10154
Die sogenannte „bürgerliche Revolution“ 1848 war auch ein Aufstand der Arbeiterschaft und in vielen Teilen Europas ein Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut und für AN-Schutz, Mitbestimmung, demokratische Rechte. Das Schlagwort „Organisation der Arbeit“, von Luis Blanc in Frankreich erstmals skizziert11 und letztlich probiert, stand für ein vielfach unterschiedlich interpretiertes soziales Reformprogramm, in dem Arbeit als Menschenrecht postuliert wird. Weidenholzer/Keplinger haben darauf hingewiesen, dass die von Louis Blanc während der französischen Februarrevolution einberufene „Regierungskommission für die Arbeit“ den Wiener Arbeiterführer Friedrich Sandner inspiriert haben könnte, ein Arbeitsministerium oder ein Arbeitsparlament zu fordern.12 Davon unbeeinflusst forderte der Sozialphilosoph Karl Georg Winkelblech auf einer Abgeordnetenversammlung des norddeutschen Handwerker- und Gewerbestandes am 2.7.1848 in Hamburg „die Errichtung einer sozialen Kammer oder eines Parlaments, das die soziale Gesetzgebung zu beraten und die gefaßten Beschlüsse der politischen Kammer, der die endgültige Feststellung der politisch-sozialen Ordnung vorbehalten sein müsse, vorzulegen habe
“.13 Diese „soziale Kammer“ sollte aus AG und AN paritätisch zusammengesetzt sein und das soziale Moment in der Gesetzgebung stärken. Alsbald zerbrach jedoch die auf Handwerk und Gewerbe beschränkte Zusammenarbeit von AG und AN. Letztere luden in der Folge auch Vertreter der Fabriksarbeiterschaft zu einem „Allgemeinen deutschen Arbeiterkongress
“ ein.14 Dieser erneuerte Winkelblechs Forderung nach einer „sozialen Kammer (soziales Parlament)“, deren Vertreter auch Mitglieder eines zu errichtenden „sozialen Ministeriums“ sein sollten. Die Beschlüsse des „Arbeiterkongresses“ wurden an die in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung weitergeleitet. Die in der Nationalversammlung diskutierten Überlegungen zu einer neuen Gewerbeordnung wurden von den in Arbeiterversammlungen vorab beschlossenen teils utopistischen, teils auch noch von zünftlerischen Gedanken getragenen Vorschlägen beherrscht. Von der Reichsversammlung wurde eine umfassende soziale, demokratische Reform erwartet. Wie sich jedoch bald zeigen sollte, konnte dieser Anspruch von einer überwiegend aus Vertretern des gehobenen Bürgertums, Professoren und Juristen, zusammengesetzten Versammlung nicht eingelöst werden. Einer der in Frankfurt diskutierten Entwürfe einer Gewerbeordnung sah ein AN-Mitbestimmungsmodell vor, welches von paritätisch zusammengesetzten „Fabriksauschüssen“ über regionale „Fabriksräte“ bis hin zu ebenfalls paritätisch besetzten „Gewerbekammern“ (nicht zu verwechseln mit den bereits zT existierenden Handelskammern) reichte. Aufgaben der „Fabriksräte“, in welchen Teutenberg eine Ähnlichkeit mit den in der wilhelminischen Zeit projektierten Arbeitskammern sieht, waren die Genehmigung von Fabriksordnungen, die Festsetzung von Arbeitszeiten und Kündigungsfristen, das Lehrlingswesen, die Aufsicht über die betrieblichen Krankenkassen und die Vertretung der Fabriksinteressen bei der Kreisgewerbekammer.15 Die Niederschlagung der Revolution, der Auszug Preußens und Österreichs aus der Frankfurter Versammlung, dem bald andere Staaten folgten, ließen nicht nur das Experiment eines deutschen Nationalstaates, sondern auch die in unterschiedlicher Weise diskutierten sozialstaatlichen Vorstellungen scheitern: „Die erste große Konzeption für eine betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung blieb auf dem Papier.
“16
Nach der Gründung des Deutschen Reiches stellte der an der Universität Freiburg lehrende Staatswissenschaftler Gustav Schönberg fest, dass es nun, da der Rechtsstaat „fest begründet
“ sei, gelte, „den Culturstaat zur Wahrheit zu machen
“.17 In der sogenannten „socialen Frage
“ erblickte er „vielleicht die Wichtigste der Zukunft
“. Zur Lösung dieser entwickelte er ein vom Staat per Gesetz zu errichtendes Organisationsgefüge von „Arbeitsämtern“, welches an die bald in der Diskussion stehenden Arbeitskammern erinnert und darum auch in der Literatur als erster konkreter Beitrag zur „Arbeitskammerfrage
“ bezeichnet wird.18 Die von Schönberg als „Arbeitsamt“ bezeichnete Institution hat nichts mit Arbeitsvermittlung und ähnlichem zu tun, sondern sollte eine von einem „Amtmann“ geführte Behörde mit einem aus AG und AN paritätisch besetzten Beirat sein. Die in den Provinzen zu errichtenden „Arbeitsämter“ sollen Feststellungen über die materielle Lage der AN treffen, strukturelle Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen beobachten, das gesammelte Material den staatlichen Behörden und der Wissenschaft zur Verfügung stellen, statistische Daten über den Konsum der arbeitenden Klasse und über die Produktionsund Absatzverhältnisse sammeln, jedenfalls aber die Selbsthilfe und die „Gesellschaftshilfe“ fördern sowie die Durchführung der sozialen Gesetzgebung überwachen.19
Der Schönbergsche Vorschlag zur Errichtung von „Arbeitsämtern“ blieb ohne Resonanz, hatten doch bereits einige Jahre zuvor sozialdemokratische Abgeordnete im Norddeutschen Reichstag im Rahmen einer Diskussion über Gewerbekammern gefordert, in diese auch AN als Mitglieder 155 aufzunehmen.20 Es ging um paritätisch von Meistern und Gesellen zusammengesetzte Handwerkskammern. Der 1869 eingebrachte Antrag wurde schließlich abgelehnt.
1876 machte der katholische Zentrumsabgeordnete Christoph Moufang21 auf das Fehlen einer gesetzlichen AN-Interessenvertretung aufmerksam. Zum ersten Mal im öffentlichen Diskurs wurde auf eine staatspolitisch notwendige Parität in den gesetzlichen Interessenvertretungen im Deutschen Reich hingewiesen: „Gibt es ja auch Advokatenkammern, Handelskammern und Gott weiß was für Kammern, von welchen der Minister direkt, aus dem speziellen Stande heraus, Informationen empfängt, die also das Recht haben, an kompetenter Stelle gehört zu werden. Gleiches müßte man auch den Arbeitern einräumen, um es ihnen zu ermöglichen, die in seinem Reihen vorhandenen Ideen und Wünsche offiziell an den Mann zu bringen.
“22 Es war nicht allein christliches Gerechtigkeitsempfinden, welches den katholischen Theologen zu diesen Worten im Reichstag bewog, vielmehr die Befürchtung vor Aufruhr und agitatorischen Kräften in der Arbeiterschaft.
Nach der Reichstagswahl 1877 brachten die Sozialdemokraten, die als geeinte „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ bereits 9 % der Stimmen23 erhielten, einen umfangreichen Antrag zum Arbeitsschutz ein, in dem wiederum paritätisch von AG und AN besetzte Gewerbekammern gefordert wurden.24 Diese Kammern sollten den Behörden mit Berichten zur Seite stehen und Fortbildungsschulen und gewerbliche Einrichtungen betreiben. In der Debatte, in der der sozialdemokratische Abgeordnete auf das Fehlen einer gesetzlichen Interessenvertretung der Industriearbeiter hinwies, begründete er den Wunsch nach einer paritätischen Zusammensetzung der Kammer mit einer dadurch gesicherten gleichmäßigen Verteilung der „Interessen der Arbeit“ und mit der Garantie, dass in gewerblichen Fragen auch die „speziellen Interessen“ der Arbeiterschaft Gehör finden würden. Der Antrag wurde von einem freisinnigen Abgeordneten brüsk abgelehnt, der der Sozialdemokratie Inkonsequenz vorwarf: Zum einen hätte die Sozialdemokratie eine Harmonie von Kapital und Arbeit immer abgelehnt und zum anderen die Bildung von Berufsgenossenschaften gewerblicher AN (Gewerkschaften) gefördert. Unklar blieb, ob die geforderte Erweiterung der Mitgliedschaft nur „gewerbliche Lohnarbeiter und Arbeiterinnen“ oder auch in industriellen Unternehmungen beschäftigte AN betraf. Dem Antrag war letztlich kein Erfolg beschieden.
Als sieben Jahre später eine reichseinheitliche Errichtung von Gewerbekammern erneut den deutschen Reichstag beschäftigte, machten die Sozialdemokraten den Vorschlag, auch Arbeiterkammern einzurichten, denn die Arbeiterschaft hätte keine ihre Interessen wahrnehmenden Minister und niemand würde die Wirksamkeit der AN-Schutzgesetzgebung überwachen und deren Ausbau fordern.25 Darum bedürfe es bei der Schaffung von Kammern für Handel und Gewerbe „doppelt der Kammern für Arbeiter
“. Die Beratung über den Antrag wurde vertagt und nie wieder aufgenommen.
Rund ein halbes Jahr später, im Jänner 1885, überraschten die sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Grillenberger26 und August Bebel27 den Reichstag mit einem umfangreichen Antrag zur Änderung der Gewerbeordnung.28 Erstaunlich an diesem Antrag war, dass nun wieder von „gemischten Arbeitskammern“ die Rede war. Der Antrag sah die Errichtung eines „Reichsarbeitsamtes“ vor, dem in den Bezirken des Reiches „Arbeitsämter“ unterstehen. Die Arbeitsämter hatten die Aufgabe, den AN-Schutz in allen Betrieben zu kontrollieren und entsprechende Anweisungen zu geben. Für diese Aufgaben sollten sie mit amtlichen ortspolizeilichen Befugnissen ausgestattet werden. Darüber hinaus waren die Arbeitsämter auch als Nachweisstellen für Arbeitsnachweise gedacht. Das Arbeitsamt wurde gebildet aus einem „Arbeitsrat“ und mindestens zwei Hilfsbeamten. Die Beschlüsse hatten kollegialisch gefasst zu werden. Das Reicharbeitsamt bestimmte den „Arbeitsrat“ aus zwei von der Arbeitskammer vorgeschlagenen Bewerbern. Dieser „Arbeitsrat“ führt auch den Vorsitz in der aus 24 oder 36 Mitgliedern bestehenden Arbeitskammer, die zur einen Hälfte aus Unternehmern und zur anderen Hälfte aus AN für zwei Jahre zu wählen wären. Aufgabe der Arbeitskammern war, abgesehen von der Unterstützung der Arbeitsämter, Studien und Untersuchungen über die wirtschaftliche und soziale Lage zu erstellen, die Begutachtung von Gesetzen, die Feststellung und Bestätigung von Arbeitszeiten, Minimallöhnen und Arbeitsordnungen sowie die Bildung von Schiedsgerichten. Der Antrag kam in ähnlicher Form den folgenden Sessionen des Reichstages immer wieder zur Behandlung, aber nicht zum Beschluss.29 Als den Sozialdemokraten in einer Reichstagsdebatte Inkonsequenz zum Vorwurf gemacht wurde, da sie einst für Arbeiterkammern, nun aber wieder für Arbeitskammern eingetreten sind, begründeten sie dies etwas holprig mit dem Hinweis, dass der Vorschlag für Arbeiterkammern auf den Versuch zur Gründung von selbständigen AG-Verbänden durch die anderen Parteien zurückzuführen war.30
Nachdem im Jänner 1890 das „Sozialistengesetz“ vom Deutschen Reichstag nicht mehr verlängert wurde, die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in die Legalität zurückkehren konnten, 156 erließ Wilhelm II im Februar 1890 Erlässe, die einer „Befriedung“ der Arbeiterschaft durch gewerberechtliche Maßnahmen dienten. In den sogenannten „Februarerlässen“ des deutschen Kaisers und preußischen Königs wurde vom Reichskanzler und den zuständigen Ministern die Abhaltung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz sowie gewerberechtliche Maßnahmen zum Arbeiterschutz und die Einrichtung von Arbeitervertretungen gefordert.31
In der Folge verhandelte der Deutsche Reichstag eine umfangreiche von der Regierung vorgelegte Novellierung der Gewerbeordnung,32 die jedoch von der SPD nicht mitgetragen wurde, da sie in relevanten Bestimmungen hinter österreichischen und Schweizer Gesetzen zurückblieb.33 Als Beitrag zum kollektiven Arbeitsrecht wurde die Möglichkeit der Einrichtung von „Arbeiterausschüssen“ geschaffen, jedoch keine Bestimmungen über eine gesamtstaatliche Interessenvertretung der AN getroffen. Die SPD nahm auf ihrem Erfurter Parteitag 1891 die bereits bekannte, alte Forderung nach der „Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichs-Arbeitsamt, Bezirks-Arbeitsämter und Arbeitskammern
“ in ihr Parteiprogramm auf.34 Friedrich Engels merkte zu diesem Programmpunkt sehr kritisch an, dass die Sozialdemokraten „mit Arbeitskammern von halb Arbeitern und halb Unternehmern geleimt wären. Auf Jahre hinaus werden da die Majoritäten stets auf Seiten der Unternehmer sein, wozu ein schwarzes Schaf unter den Arbeitern genügt. Wird nicht ausgemacht, dass in Streitfällen beide Hälften separat Meinungen abgeben, wäre es viel besser, eine Unternehmerkammer und daneben eine unabhängige Arbeiterkammer zu haben.
“35
Doch es waren nicht die Sozialdemokraten, sondern die katholische Zentrumspartei, die bei den Reichstagswahlen 1890 von der SPD als stärkste Fraktion im Reichstag abgelöst wurde, welche in Weiterverfolgung des Februarerlasses 1893 in den folgenden Jahren die „Arbeiterkammerfrage“ erneut aufs Tablet brachte: Nachdem ein entsprechender Gesetzesantrag unerledigt blieb, brachten Zentrumabgeordnete 1895 im Reichstag eine Interpellation an die verbündeten Regierungen ein, ob die Vorlage eines Gesetzesentwurfes „betreffend die gesetzliche Anerkennung der Berufsvereine und die Errichtung einer geordneten Vertretung der Arbeiter (Arbeiterkammern)
“ erwartet werden kann.36 Der Zentrumsabgeordnete Dr. Franz Hitze, Theologe, Priester, Politiker und „Vater der katholischen Arbeitervereine und Wegbereiter des Deutschen Caritasverbandes
“37 meinte, dass er früher auch – wie die Sozialdemokraten – für eine „gemischte Arbeitskammer“ eingetreten war, nun jedoch „großes Gewicht
“ darauf legt, „dass die Arbeiter vor allem das Gefühl haben: das ist unsere Vertretung, das sind unsere Kammern. Die Arbeitgeber haben ihre Vertretung in den Handelskammern, die Arbeiter sollten in gleicher Weise ihre Vertretung haben.
“ Worum es dem Abgeordneten tatsächlich ging, erschließt sich aus seinem Vorschlag, die Vorsitzführung in der Arbeiterkammer einem offenbar beamteten „Gewerberat
“ zu übertragen, damit „die Verhandlungen ruhig und objektiv verlaufen
“.38 Die Arbeiterschaft sollte mit der Arbeiterkammer als nur „begutachtende Behörde“ gleichsam domestiziert werden. Prinzipiell aber blieb es, wie ein Abgeordneter betonte, für das Zentrum eine offene Frage, ob man Arbeits- oder Arbeiterkammern fordern sollte. Für die SPD hatten die Wünsche der Zentrumspartei keine unmittelbare Relevanz, da für die AN andere Forderungen, wie etwa nach einem Normalarbeitstag oder nach Ausdehnung von Versicherungsleistungen, als wichtiger angesehen wurden. Der Handelsminister begründete den eingetretenen Stillstand in der Sozialgesetzgebung mit der Gefahr einer durch Sozialreformen einhergehenden verstärkten Agitation der Sozialdemokratie: „Jede Maßnahme, mag sie noch so wohlmeinend, noch so nützlich für die Arbeiter sein, [wird] von der sozialdemokratischen Agitation und Führung vergiftet [...] bis in ihr letztes Moment.
“39 In den folgenden vier Jahren wurden dann auch keine Forderungen nach einer überbetrieblichen Interessenvertretung der AN mit oder ohne AG erhoben.
Wiederum war es 1898 die Zentrumpartei, die wohl eingehend auf die Wünsche der nichtsozialdemokratischen Gewerkschaften und katholischer Arbeitervereine im Reichstag den Antrag stellte, die Regierung möge einen Gesetzesentwurf zur „Errichtung von Arbeitskammern“ vorlegen. Den Sinneswandel zu einer nun wieder paritätisch aus AN und AG zusammengesetzten Institution erklärte Franz Hitze mit den Worten: „Wir sind ebenso, wie es jede andere Partei nur sein kann, durchdrungen von dem Bewußtsein, dass die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im letzten Grunde solidarisch sind
.“40 Nach Vorschlägen von Arbeitervereinen sollte die Organisation der Kammern – wie sie Hitze skizzierte41 – aus lokalen Arbeitskammern, Bezirksarbeitskammern und einem Reichsarbeitsamt bestehen. Die lokalen Arbeitskammern sollten durch Vorschläge und Gutachten über Verkehrs-, Banken-, Gesundheits- und Wohnungswesen sowie über das örtliche Bildungswesen an die Gemeindeverwaltung auch durch Sammlung statistischer Daten gleichsam „kommunale Sozialpolitik“ betreiben. In den Arbeitskammern sollten etwa auch Arbeitsordnungen gemeinsam 157 von AN und AG besprochen werden. In trauter Sozialharmonie sollten von AN und AG gemeinsam Missverständnisse und Missstände verhütet werden. Den Bezirksarbeitskammern wären die gleichen Aufgaben für die Staatsregierung und Staatsverwaltung zugewiesen. Die Vorsitzführung in den Kammern sollte ein ernannter Beamter mit der Aufgabe machen, „die gegenseitigen Interessen auf einer Mittellinie zu vereinigen“. Um eine Finanzierung durch den Staat hintanzuhalten, könnte die Industrie aus den Handelskammern herausgenommen und in die „Industrie- und Arbeitskammern
“ eingefügt werden. Heftig diskutiert wurde in der hier besprochenen Reichstagssitzung auch die Forderung von Nationalliberalen, die Gewerbegerichte zu Arbeitskammern umzubauen, wogegen sich allerdings die freisinnige Volkspartei wehrte.
Im November 1899 brachten dann die Sozialdemokraten ihren früheren Antrag von 1885 über ein „Gesetz betreffend die Errichtung eines Reichsarbeitsamtes, von Arbeitsämtern, Arbeitskammern und Einigungsämtern
“ in einigen Teilen modifiziert ein: Die regionale Verteilung der Kammern und Ämter wurde geändert, die Aufgabe Minimallöhne festzusetzen, fiel weg, statt Schiedsgerichte sollten Einigungsämter eingesetzt werden.42 Der sozialdemokratische Gesetzesentwurf wurde dann auch 1903 erneut in den Reichstag eingebracht.
Nachdem dieser nicht zur Verhandlung kam, interpellierte die Zentrumsfraktion erneut einen Gesetzesentwurf für Arbeitskammern.43 In seiner umfangreichen Begründung ging der Zentrumsabgeordnete Karl Trimborn44 auf die 1902 in Druck erschienene Habilitationsschrift von Bernhard Harms über die holländischen Arbeitskammern ein.45 In der Beantwortung der Interpellation machte der Staatsminister und Staatssekretär des Inneren Dr. Graf v. Posadowsky-Wehner darauf aufmerksam, dass im Gewerbegerichtsgesetz das Gewerbegericht berechtigt wurde, „in gewerblichen Fragen Anträge an Behörden, an Vertretungen von Kommunalbehörden und gesetzgebende Körperschaften der Bundesstaaten oder des Reiches zu richten
“. Auf dieser Grundlage seien die verbündeten Regierungen bereit, „Arbeitsvertretungen weiter auszubauen
“.46
Anfangs des 20. Jh. kam es parallel zu Initiativen auf Reichstagsebene auch in mehreren Ländern des Deutschen Reiches zu Debatten über die Errichtung von Arbeiter- bzw Arbeitskammern.47 In Hessen wurde 1900 über einen Antrag des sozialdemokratischen Abgeordneten Carl Ulrich48 verhandelt, in dem Arbeiterkammern gefordert wurden. Wie in Hessen forderte die SPD 1901 auch in Württemberg – ganz im Gegensatz zur SPD auf Reichsebene – Arbeiterkammern. Diesen Forderungen schlossen sich 1902 auch die Sozialdemokraten in Bremen an, die ausdrücklich „die Errichtung einer reinen Arbeiterkammer, nicht einer Arbeitskammer
“ verlangten. Über Arbeiterkammern wurde auch in den Landtagen von Reuss i.J., Oldenburg und Sachsen-Altenburg beraten. Dagegen wurde in Baden über paritätisch zusammengesetzte Arbeitskammern verhandelt.
Inspiriert durch die Erklärung des Staatssekretärs Graf von Posadowsky im Reichstag und wahrscheinlich angeregt durch die ihn zitierenden Worte des Zentrumabgeordneten Trimborn legte der Privatdozent Bernhard Harms 1904 eine Studie „zur Frage einer gesetzlichen Interessenvertretung der Unternehmer und Arbeiter in Deutschland
“ vor.49 Der Autor ließ in seiner Untersuchung die in anderen Staaten arbeitskammerähnlichen Institutionen Revue passieren: So etwa die belgischen „Conseils de l‘industrie du travail“, die holländischen „Kamers van Arbeid“, die französischen „Conseils du travail“, die italienischen „Camere del Lavoro“, die „Arbeitskammer“ in Zürch und die Genfer „Chambre de Travail“.50 In einem kurzen Artikel über „die projektierten Arbeiterkammern in Österreich
“ stellte er mit Victor Mataja51 fest, dass es kein besonderes Interesse der österreichischen Arbeiter „an einer gesetzlichen Vertretung zur Erfüllung sozialer und wirtschaftlicher Aufgaben
“ gäbe.52 Das sollte sich – wie bekannt – jedoch später im Laufe des Weltkrieges ändern.
Bernhard Harms wurde zum streitbaren Verfechter der Errichtung von paritätisch von AN und AG zusammengesetzten Arbeitskammern. Sein Modell einer Arbeitskammer war stark an das zuletzt von der Zentrumspartei präferierte angelehnt. Arbeitskammern sah er aus staatsrechtlichen und zweckmäßigen Erwägungen notwendig. Zum einen brauchte es eine den Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern gleichwertige Institution, zum anderen hätten nur Vertreter einer Arbeitskammer eine tiefe Kenntnis von der Lage der Arbeiterschaft und zum dritten gäbe es gemeinsame Interessen von AG und AN, wie überhaupt die Leistungsfähigkeit im trauten Zusammenwirken von Kapital und Arbeit gesteigert werden könne. Der bürgerliche Wissenschaftler Bernhard Harms, der später 1914 das Kieler Institut für Weltwirtschaft gründete,53 wollte durch die Arbeitskammern eine Entpolitisierung der sozialdemokratischen Gewerkschaften erreichen: 158 „Die Loslösung der Gewerkschaften von der sozialdemokratischen Partei kann am erfolgreichsten dadurch geschehen, dass sie zur Mitarbeit an den Aufgaben des Staates herangezogen werden.
“54
Die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands – der Dachverband der Freien Gewerkschaften – sah das allerdings vorerst ganz anders.55 Nachdem die Aufgaben „reiner Arbeiterkammern
“ nur in „der Äußerung von Meinungen, Vertretung von Forderungen, Stellung von Anträgen und Abgabe von Gutachten
“ lägen, Arbeitskammern mit der Verbindung von Arbeitsämtern – wie von der Sozialdemokratie vorgeschlagen – „staatliche Befugnisse der Selbstverwaltung und Regelung der Arbeitsverhältnisse
“ ausüben könnten, müsse die Generalkommission paritätisch zusammengesetzte Arbeitskammern fordern. Im Übrigen werde durch diese Institution der Einfluss von Interessenorganisationen der AG geschwächt. Tendierten die sozialdemokratischen Gewerkschafter 1904 noch für Arbeitskammern, so entschied sich der Fünfte deutsche Gewerkschaftskongress 1905 in Köln in namentlicher Abstimmung mit 771.663 zu 379.431 Stimmen für reine Arbeiterkammern. Der Kongress forderte von der Reichsgesetzgebung „die Schaffung von Arbeiterkammern als gesetzlich anerkannte Arbeitervertretung
“.56 Die Freien Gewerkschaften nahmen in dieser Frage somit einen ähnlichen Standpunkt wie die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine ein. Die christlichen Gewerkschaften hingegen favorisierten wie die katholische Zentrumspartei Arbeitskammern.
Hatten sich die AG, wie aus Artikeln der „Deutschen Arbeitgeberzeitung“ 1904 hervorgeht, vorerst durchaus positiv zur Errichtung von Arbeitskammern geäußert, so wurde bald zurückgerudert. Eine AK sei noch immer das kleinere Übel als eine Arbeitskammer, die strikt abgelehnt wurde. Allerdings: Ob Arbeiter- oder Arbeitskammern, in beiden werde die Arbeiterschaft versuchen, die „Expropriierung des Unternehmertums
“ voranzutreiben und die „Ablösung der individualistischen Produktionsweise durch die kollektivistische
“ zu fördern.57 Der sozialdemokratische Vorschlag von paritätischen Arbeitskammern mit weitreichenden staatlichen Befugnissen wurde denn auch abgelehnt.
In der zwischen 1904 und 1914 sehr hitzig geführten Diskussion spielte auch die 1901 gegründete „Gesellschaft für soziale Reform“58 eine zentrale Rolle, da sie die Debatte durch Veröffentlichungen und Tagungen vorantrieb. Die in diesem Verein vereinten bürgerlichen Sozialreformer sahen in sozialpolitischen Fortschritten, in einer Arbeiterschutzgesetzgebung und in einer Befreiung der Gewerkschaften von repressiver Politik eine Chance, in der Arbeiterschaft sozialdemokratische klassenkämpferische Forderungen zurückzuweisen.59 In der Zeitschrift „Soziale Praxis“ wurde regelmäßig über alle sozialpolitischen Entwicklungen berichtet. Auf den Tagungen der Gesellschaft kamen auch kontroverse Ansichten zur Diskussion und oft war man im Führungsgremium auch in zentralen Fragen über Aufgaben und Ausgestaltung der Arbeitskammern uneinig.60
Im Februar 1908 unterbreitete die Regierung dem Bundesrat – 18 Jahre nach dem Februarerlass von Wilhelm II – einen Gesetzesentwurf über die Errichtung von Arbeitskammern. Nach diesem Gesetzesentwurf61 sollten für einen oder mehrere Gewerbezweige von AN und AG zu besetzende Arbeitskammern errichtet werden. Zentrale Aufgabe war, „den wirtschaftlichen Frieden zu pflegen
“ und „ein gedeihliches Verhältnis
“ zwischen AG und AN fördern. Gemeinsam sollten das Gewerbe und ihre AN betreffende Angelegenheiten beraten und die Staatsund Gemeindebehörden durch Mitteilungen, Gutachten und statistische Daten unterstützt werden. Bei Streitigkeiten sollte die Arbeitskammer als Einigungsamt auftreten. Die Mitglieder der Arbeitskammer waren auf 6 Jahre zu wählen, das aktive Wahlalter war mit 25 Jahren, das passive Wahlrecht mit 30 Jahren festgesetzt. Der Vorsitzende der Arbeitskammer war von der Aufsichtsbehörde zu bestimmen. Der Gesetzesentwurf wurde von der SPD in nahezu allen Punkten abgelehnt. Erneut wurde bemerkt, dass ein „Reichsarbeitsamt“ als zusammenfassende Organisation der Arbeitskammern fehlt.62
In den sozialistischen Monatsheften bezeichnete Carl Servering63 die im Gesetz normierte Aufgabe der Arbeitskammern, den wirtschaftlichen Frieden zu pflegen, als eine „ziemlich willkürliche Interpretation des kaiserlichen Erlasses
“. Für ihn war auf Grund des vorliegenden Gesetzesentwurfes klar, dass die AN das Recht haben müssen, „eine reine Arbeitnehmervertretung zu fordern
“: „Es ist eine durchaus irrige Annahme, dass durch eine paritätische Zusammensetzung der Arbeitskammer eine Angleichung der bestehenden wirtschaftlichen Gegensätze zwischen Arbeitern und Unternehmern geschaffen würde.
“64 Dennoch arbeitete die sozialdemokratische Fraktion in einer Kommission des Reichstages an zahlreichen Änderungen des Entwurfs. Zu einem Konflikt kam es in der Frage der Wählbarkeit von Angestellten von Berufsvereinen, welche von den Regierungsvertretern unannehmbar 159 waren. In anderen Fragen, wie etwa bei der Herabsetzung des Wahlalters, konnte Konsens erzielt werden. Wegen Beendigung der Reichstagssession konnte der Gesetzesentwurf nicht mehr im Plenum diskutiert und beschlossen werden.
Im Februar 1910 ist dem Reichstag ein neuer Regierungsentwurf zugeleitet worden. Es zeigte sich, dass die Regierung die von der Kommission vorgeschlagenen Verschlechterungen des ursprünglichen Entwurfes aufgenommen, die Verbesserungen jedoch nicht berücksichtigt hat. Ohne nun auf die einzelnen Kritikpunkte einzugehen, muss festgehalten werden, dass auch diese Vorlage sowohl von der Sozialdemokratie, wie auch von bürgerlichen Vertretern einer Sozialreform, weitestgehend abgelehnt wurde. Die Freien Gewerkschaften sahen in dem Entwurf einen deutlichen Beweis „für die Macht und den Einfluss der industriellen Scharfmacher und ihrer Organisationen
“.65 Für die SPD stand fest, dass die Arbeiter nur dann einem Arbeitskammergesetz zustimmen können, „wenn es ihnen die Möglichkeit gewährt, wirtschaftlich unabhängige Männer ihres Vertrauens mit der Vertretung ihrer Wünsche zu beauftragen. Im andern Fall bleibt es weiße Salbe.
“66 Letztlich scheiterte der Entwurf (in der dritten Lesung) an der Weigerung der Regierung, Gewerkschaftsbeamte als Mitglieder der Arbeitskammern zuzulassen und an der Einbeziehung von Eisenbahnbediensteten.67 In der Folge verhinderte der 1914 beginnende 1. Weltkrieg vorerst weitere Gesetzesinitiativen.