Mehr als die Summe der einzelnen Teile – Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität in der Arbeitswelt
Mehr als die Summe der einzelnen Teile – Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität in der Arbeitswelt
Eine im Rahmen eines Ausbildungsverbundes beschäftigte türkischstämmige AN wird aufgefordert, ihr Kopftuch abzulegen, ihre schwarzen Haare zu färben und wird vor der Kundschaft nicht mit ihrem eigenen Namen, sondern mit „Kathi“ angesprochen.*
Eine 39-jährige AN wird ab dem Zeitpunkt, als sie ihre Schwangerschaft meldet, mit abfälligen Bemerkungen zu „später“ Schwangerschaft bedacht und dies auch noch nach einer erlittenen Fehlgeburt.*
Im Arbeitsvertrag einer Bordstewardess wurde eine Klausel aufgenommen, durch die die Beendigung des Vertrages vorgesehen wird, wenn die AN das Alter von 40 Jahren erreicht – im Arbeitsvertrag der männlichen Purser*, die die gleiche Arbeit zu leisten haben, ist keine derartige Beendigung vorgesehen.*
In all diesen Fällen wurden AN aufgrund persönlicher Merkmale (Geschlecht, ethische Herkunft etc) diskriminiert. Solche Benachteiligungen „setzen die Betroffenen herab und bringen sie zudem in eine ausweglose Situation, weil sie über diese Merkmale nicht disponieren können
“.* Das Gleichbehandlungsrecht soll diese unmittelbaren* und auch mittelbaren* Diskriminierungen verhindern bzw abstellen und einen Ausgleich für erlittene Diskriminierungen schaffen. Menschen sollen in ihrem „So-Sein“* geschützt werden.
Die Beispiele oben zeigen, dass Diskriminierungssituationen nicht immer „nur“ an einem geschützten Merkmal festzumachen sind, sondern eine Person verschiedene Merkmale in sich tragen kann, an die in Kombination durch die diskriminierende Handlung angeknüpft wird (hier bspw an Geschlecht und Alter, ethnische Herkunft, Religion). „Die Betrachtung der Diskriminierung aus der Perspektive eines einzigen Grundes wird vielen Erscheinungsformen der Ungleichbehandlung nicht gerecht.
“* Hiermit wird das Feld der „Mehrfachdiskriminierung“ und „Intersektionalität“ betreten.*
Diskriminierungsverbote können „sowohl Angehörige einer marginalisierten als auch einer gesellschaftlich dominanten Personengruppe schützen
“.* Die Funktion des Antidiskriminierungsrechts wird aber oft gerade darin gesehen, „Angehörige von Minderheiten gegenüber der Mehrheit zu schützen beziehungsweise für Angehörige von Minderheiten einen Ausgleich für historisch verfestigte gesellschaftliche Benachteiligungen zu schaffen
“.*
Das Gleichbehandlungsrecht der EU definiert keine spezifisch geschützten Gruppen, sondern „verbietet, bestimmte Merkmale als Differenzierungsmerkmale zu verwenden
“.*, *Schindler attestiert dieser Grundkonzeption Klugheit, indem sie es vermeidet „gesellschaftliche ‚Randgruppen‘ festzulegen
“ und keine Definition von Normalität und Abweichung vornimmt.*421
Es gibt keine allgemeingültige (rechtliche) Definition von Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität.* Das ändert jedoch nichts daran, dass es dieses Phänomen in der Lebens- und Arbeitsrealität gibt und Handlungsbedarf besteht. „Erst wenn diejenigen, die unter Mehrfachdiskriminierungen leiden, nicht mehr übersehen werden, wird es möglich darauf mit einschlägigen Rechtsvorschriften und einer geeigneten Sozialpolitik zu reagieren.
”*
Intersektionale Diskriminierung als ein zentraler Begriff der Soziologie beschreibt, wie sich verschiedene soziale Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, soziale Schicht, sexuelle Orientierung, Behinderung oder Alter überschneiden, in ihrer Interaktion komplexe Formen der Benachteiligung erzeugen und nicht isoliert voneinander wirken. Die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw beschreibt diese als eine analytische Perspektive, die sich mit den „Weisen beschäftigt, auf die verschiedene Ungleichheitsdimensionen miteinander interagieren und eine kumulative und verstärkende Wirkung entfalten
“.* Dadurch entstehen spezifische Diskriminierungserfahrungen. Crenshaw führte „den Begriff der Intersektionalität Ende der 1980er Jahre nachhaltig in die Debatte
“*, * ein. Die „last hired-first fired“-Politik eines Unternehmens hatte in Kombination mit seiner früheren Vorgehensweise, keine Schwarzen* Frauen einzustellen, jedoch weiße Frauen und Schwarze Männer schon, dazu geführt, dass vor allem Schwarze Frauen ihre Arbeit wieder verloren.* Dies war einer von drei juristischen US-amerikanischen Diskriminierungsfällen, in denen amerikanische Antidiskriminierungsgesetze entweder zugunsten Schwarzer Männer oder weißer Frauen wirkten, jedoch nicht Schwarze Frauen schützten.*Crenshaw bediente sich, um „das Zusammentreffen von Ereignissen (wie etwa diskriminierende Handlungen, Gewalt etc) mit Strukturbedingungen zu verdeutlichen
“* der berühmt gewordenen „Straßenkreuzungs-Metapher“.*, *
Menschen, die mehreren Diskriminierungsfaktoren gleichzeitig ausgesetzt sind, erleben spezifische Formen von Ungleichheit und Ausgrenzung, die durch „die Verwobenheit verschiedener Machtstrukturen [entstehen], die nicht unabhängig voneinander analysiert werden können
“.* Traditionelle Diskriminierungsanalysen, die oft nur eine Dimension isoliert betrachten, lassen die komplexen Wechselwirkungen und die daraus resultierenden spezifischen Ausformungen von Diskriminierung außer Acht.
Die Studie „Diskriminierungserfahrungen in Österreich 2019“* bietet ein umfassendes Bild von Mehrfachdiskriminierungen in Österreich. Sie analysiert Diskriminierungen in verschiedenen Lebensbereichen und bezieht sich auf Merkmale wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Religion und soziale Herkunft. Von den 2.300 telefonisch befragten Personen im Alter zwischen 14 und 65 Jahren gab fast die Hälfte an, in den letzten drei Jahren Diskriminierungen in zumindest einem der Bereiche Arbeit, Wohnen, Gesundheit oder Bildung erfahren zu haben. Besonders häufig berichten Migrant:innen, Menschen muslimischen Glaubens, Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen, Homosexuelle und sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen von Benachteiligungen.
In der Arbeitswelt ist die Belastung durch Diskriminierung besonders ausgeprägt: Rund ein Drittel der Befragten gab an, dass die erlebte Diskriminierung 422 ihre Fähigkeit, ihre Arbeit gut zu verrichten, erheblich beeinträchtigt. Etwa 13 % der Befragten im Arbeitsbereich berichteten, dass sie aufgrund der Diskriminierung krank geworden seien. Diese Ergebnisse verdeutlichen die weitreichenden Folgen von Diskriminierung – sowohl für die Betroffenen, die unter psychischen Problemen wie Stress, Angst und Depressionen und in weiterer Folge oft auch körperlichen Erkrankungen leiden, als auch für die Unternehmen, die Motivation, Leistungsfähigkeit und Kreativität ihrer Mitarbeiter:innen verlieren. Darüber hinaus führt Diskriminierung häufig zu einem Gefühl der sozialen Ausgrenzung und einem Verlust des Vertrauens in öffentliche Institutionen.
Die Studie zeigt, dass Personen, die von mehrdimensionaler Diskriminierung betroffen sind, stärkere und vielfältigere Benachteiligungen erleben. Dies korrespondiert mit Befunden aus anderen europäischen Ländern. In Großbritannien wurde festgestellt, dass Schwarze Frauen im Vergleich zu ihren weißen männlichen Kollegen signifikant geringere Chancen auf beruflichen Aufstieg haben und häufiger Diskriminierung am Arbeitsplatz erleben.* Ebenso belegt eine deutsche Studie, dass Migrantinnen in Deutschland besonders stark von intersektionaler Diskriminierung betroffen sind, insb am Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen.*
Weitere Studien bestätigen diese Erkenntnisse, etwa dass trans* und intersexuelle Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig Diskriminierungen in Bezug auf ihre berufliche Tätigkeit, die innerbetriebliche Situation mit Kolleg:innen und Vorgesetzten sowie bei Gehalt, Aufstieg oder Urlaubsregelungen erfahren.* Eine weitere Studie* verdeutlicht, dass insb die Verknüpfung der Merkmale (weibliches) Geschlecht und Elternschaft bzw (weibliches) Geschlecht und Drittstaatsangehörigkeit zu verminderten Chancen beim Zugang zu Erwerbsarbeit führt.
Die Analyse legt die Notwendigkeit nahe, dass es notwendig ist, mehrdimensionale und intersektionale Ansätze stärker in rechtliche und politische Maßnahmen zu integrieren, um Diskriminierung wirksamer entgegenzutreten. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, umfassende Datengrundlagen zu schaffen, um das Ausmaß und die Folgen von intersektionaler Diskriminierung besser zu verstehen und wirksamere Gegenstrategien entwickeln zu können.
Es gibt keine rechtliche Definition von „Mehrfachdiskriminierung“ oder „Intersektionalität“ in der österreichischen Gesetzgebung. Auf EU-Ebene findet sich erstmals in den 2024 beschlossenen EU-Richtlinien über Standards für Gleichbehandlungsstellen 2024/1500 sowie 2024/1499 der Begriff der „intersektionalen Diskriminierung
“ „als Diskriminierung aufgrund einer Kombination von Diskriminierungsgründen
“. Bis dahin gab es in den europäischen Rechtsquellen lediglich den Begriff der „Mehrfachdiskriminierung“ bzw „mehrfache Diskriminierung“.*
Eine etwas vertiefende Auseinandersetzung mit den Begriffen erlaubt ein Blick auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).* Die damalige amtliche Begründung des Regierungsentwurfs*, * und die Kommentare zu § 4 AGG* weisen darauf hin, dass bestimmte Personengruppen typischerweise der Gefahr ausgesetzt sind, gleichzeitig aus mehreren Gründen benachteiligt zu werden. Im Hinblick auf Fälle in der Realität wird ausgeführt, dass „jeder Mensch zwingend mehrere verpönte Merkmale
“ erfüllt, jedoch die „Anfälligkeit gegenüber Diskriminierungen
“ sehr unterschiedlich sei.* Wer „dabei mehrfach von der Norm
*abweicht
“, trage ein höheres Diskriminierungsrisiko.* Menschen, die mehrere Merkmale auf sich vereinen, erleben „häufiger Ausgrenzung, wirtschaftliche Einbußen und andere materielle und
423immaterielle Nachteile
“.* Frauen seien besonders von Benachteiligungen betroffen, nicht nur im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht, sondern auch bei den anderen Diskriminierungsmerkmalen.* Ebenso wird festgehalten, dass eine erhöhte Entschädigung geboten ist, wenn eine Person aus mehreren Gründen „unzulässig benachteiligt oder belästigt wird
“.*
Mehrfachdiskriminierungen können laut Literatur „in verschiedenen Formen auftreten“.* Bei einer „additiven“ Diskriminierung wird eine Person wiederholt wegen mehrerer Gründe benachteiligt. Eine „kumulative“ Diskriminierung ist eine (einzige) Benachteiligung wegen mehrerer Gründe. Eine „intersektionelle“ Diskriminierung liegt vor, wenn sich eine Benachteiligung wegen mehrerer Gründe erst aus der Kombination dieser Gründe ergibt.*
„Mehrfachdiskriminierung“ wird im österreichischen Recht in Bezug auf für Gleichbehandlungsfragen zuständigen Stellen angeführt.* Zudem wurde mit der GlBG*-Novelle 2008* ausdrücklich normiert, „dass Mehrfachdiskriminierungen bei Bemessung des immateriellen Schadenersatzes zu berücksichtigen sind
“.* In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage* wurde festgehalten, dass Ansprüche wegen Diskriminierung aus unterschiedlichen Gründen in ein und demselben Sachverhalt nicht kumulativ nebeneinander bestehen, aber sehr wohl bei getrennten Sachverhalten, die unterschiedliche Tatbestände erfüllen („z.B. wenn eine Arbeitnehmerin zunächst belästigt wird und in weiterer Folge in ihrem beruflichen Aufstieg gehindert wird
“).
In Bezug auf Lebens- und Arbeitsrealitäten wird im Vergleich zur deutschen Begründung knapp konstatiert, dass es in der Praxis öfter vorkomme, dass Personen auf Grund desselben Sachverhaltes auf Grund mehrerer Diskriminierungsgründe diskriminiert werden „z.B. wird eine Frau mit dunkler Hautfarbe nicht eingestellt, weil sie eine Frau und dazu noch dunkelhäutig ist
“ und hier eine Gesamtbetrachtung bei der Bemessung des Schadenersatzes vorzunehmen sei.
In der Literatur beschäftigen sich bspw Dullinger/Windisch-Graetz* ausführlich mit dem Thema der intersektionellen Diskriminierung unter der Bezeichnung „Teilgruppenbenachteiligung“: Es würden hier zwar nicht alle Personen mit den entsprechenden geschützten Merkmalen benachteiligt, aber nur solche.* Es handle sich um eine unzulässige Mehrfachdiskriminierung, wenn etwa eine „Person deswegen schlechter behandelt [wird], weil sie eine Frau einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit ist
“,* da beide Merkmale „in ihrer Kombination kausal für die Benachteiligung
“ sind. Windisch-Graetz* hält fest, dass der immaterielle Schadenersatz umso höher sein muss, je stärker die Diskriminierung ist und je vielfältiger sie begründet wird – eine intersektionale Diskriminierung muss sich erhöhend auswirken.
Die Gleichbehandlungskommission für die Privatwirtschaft Senat I listet Fälle unter der Bezeichnung „Mehrfachdiskriminierung“ auf.* In manchen Gutachten wird auf „intersektionelle Diskriminierung“ Bezug genommen und festgehalten, dass sich diese auf eine Situation beziehe, „in der mehrere Diskriminierungsgründe greifen und gleichzeitig miteinander so interagieren, dass sie nicht voneinander zu
424trennen sind
“.* Bei Beendigungen des Arbeitsverhältnisses handelt es sich vor allem um Fälle von Benachteiligung von Frauen im Zusammenhang mit dem (noch) unterschiedlichen gesetzlichen Pensionsalter.*, * Unter „Begründung des Arbeitsverhältnisses“ finden sich vor allem Fälle in Kombination von Geschlecht mit Alter (zB GBK I/907/19-M, GBK I/548/14-M), mit Religion (zum Thema Kopftuch; GBK I/392/11-M*, GBK I/579/14-M) sowie Religion und ethnischer Zugehörigkeit (bspw GBK I/865/18-M, GBK I/894/19-M, GBK I/1196/23-M). Bei (geschlechtsbezogener) „Belästigung“ handelt es sich bei allen Fällen um Kombinationen mit dem Merkmal der ethnischen Zugehörigkeit.* Einen expliziten Bezug auf intersektionelle Diskriminierung gibt es bspw in GBK I/644/15-M (Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Religion).
Im Senat II wurde unter „mehrere Diskriminierungsgründe“* in einer einzigen E eine Mehrfachdiskriminierung bejaht (GBK II/79/09 ethnische Zugehörigkeit und Religion).
Der OGH hat bis dato in einer E* auf eine intersektionelle Diskriminierungssituation Bezug genommen und festgehalten, dass bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung für die erlittene persönliche Beeinträchtigung auf eine „Mehrfachdiskriminierung – darunter wird die Diskriminierung einer Person aufgrund eines Sachverhalts aber aufgrund mehrerer Diskriminierungsgründe (zB Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit) verstanden
“ Bedacht zu nehmen ist. In diesem Fall bestehen die Ansprüche nicht kumulativ nebeneinander – dies im Gegensatz zu einer „mehrmaligen Diskriminierung“, wo Betroffene die einzelnen Ansprüche „schon aufgrund der gesonderten Rechtsfolgenanordnung im GlBG
“ auch nebeneinander geltend machen können.
Um besser vor Mehrfach- und intersektionaler Diskriminierung zu schützen, braucht es eine tatsächliche und stärkere Berücksichtigung bei der Bemessung von Schadenersatz.*Schindler stellt nach wie vor treffend fest, dass Schadenersatzansprüche nur dann abschreckend sind, „wenn unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Risikos, ‚erwischt‘ zu werden, Diskriminierung unwirtschaftlich wird
“.* Notwendig wäre bspw auch die Berücksichtigung der Wirtschaftskraft von Unternehmen bei der Schadenersatzhöhe.*
Auf arbeitsverfassungsrechtlicher Ebene sollten Maßnahmen der Antidiskriminierung und der betrieblichen Frauenförderung als erzwingbare Betriebsvereinbarungen ermöglicht werden.
Ebenfalls auf betrieblicher Ebene wäre es wichtig, stärker präventiv gegen Belästigung vorzugehen. AG sollten je nach Betriebsgröße ein geeignetes Präventionskonzept gegen Belästigung vorweisen müssen* und bei Fehlen eines solchen sollte im Falle einer Belästigung ein Schadenersatz in der Höhe von mindestens € 5.000,- vorgesehen werden.
Zudem sollten die Möglichkeiten von kollektiven Klagsformen gestärkt werden. Gerade bei Diskriminierung ist es erforderlich, die Last von den Schultern des/der Einzelnen zu nehmen* und strukturelle Diskriminierung im Kollektiv effizient und kostengünstig zu bekämpfen. Aus diesem Grund fordert die Arbeiterkammer seit Jahren die Einführung eines Verbandsklagerechts der Arbeiterkammern, des ÖGB und der Gewerkschaften in diesem Bereich. 425