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Ansteckung mit Covid-19 ist kein Arbeitsunfall

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)
  1. Ein Versicherungsschutz als Berufskrankheit besteht für Infektionskrankheiten grundsätzlich nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 ASVG iVm Nr 38 (nunmehr 3.1.) der Anlage 1.

  2. Die Qualifikation einer Infektion als Arbeitsunfall kommt lediglich in jenen Fällen in Betracht, in denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc) zurückgeht.

[1] Die Kl ist Mitarbeiterin eines Landes und war im Frühjahr 2020 im Sanitätsstab tätig, der sich mit der COVID-19-Pandemie beschäftigte. Ihre Tätigkeit verrichtete sie im März und April 2020 in einem Großraumbüro, in welchem regelmäßig zehn und mehr Mitarbeiter nebeneinander ohne Plexiglasscheiben oder FFP2-Masken beschäftigt waren. Die Kl war von 2.4. bis 4.4. sowie vom 6.4. bis 8.4.2020 an ihrem Arbeitsplatz tätig, aufgrund des großen Arbeitsaufwandes übernachtete sie teilweise am Dienstort. Die Fahrt dorthin erfolgte mittels eines vom DG gestellten Chauffeurs.

[2] Am 1.4.2020 erhielt die Kl eine viereinhalbstündige Infusion in einer Ordination, in der sie sich alleine in einem Raum befand und keine Maske trug. Aufgrund von Symptomen wurde sie am 11.4.2020 positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Aufgrund dieses positiven Tests wurden weitere Mitarbeiter getestet, von denen zwei positiv getestet wurden.

[3] Die Kl lebt mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn und ihrem Ehemann zusammen. Der Ehemann befand sich im Frühjahr 2020 im Home-Office, der Sohn besuchte den Kindergarten bereits seit dem 15.3. nicht mehr. Die Kl besuchte im April 2020 weder Freunde noch sonstige Familienmitglieder. Sie war im April 2020 ein einziges Mal einkaufen, dies mit OP-Maske. Die Kl befand sich aufgrund der SARS-CoV-2-Infektion auch in stationärer Behandlung im Krankenhaus. Sie leidet immer noch an Symptomen und befindet sich in ärztlicher Betreuung.552

[4] Mit Bescheid vom 23.5.2022 sprach die bekl Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau aus, dass die Ansteckung der Kl mit dem „Covid-19-Virus“ nicht als Dienstunfall anerkannt und Leistungen nicht gewährt werden.

[...]

[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Krankheiten seien in der UV nur versichert, wenn es sich um eine der in Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten handle und die dort genannten Voraussetzungen erfüllt seien. Verstünde man Infektionskrankheiten iS eines Dienstunfalls, wären die einschränkenden Regelungen der Berufskrankheiten Nr 37, 38 oder 39 obsolet und sinnwidrig.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge. [...] Die völlig unbemerkte Ansteckung mit einer Infektionskrankheit könne im Gegensatz zu deren „unfallähnlicher“ Verursachung – etwa durch Zeckenbiss, Insektenstich oder eine infizierte Nadel – nicht unter den Begriff des Unfalls subsumiert werden.

[...]

[11] Die Revision ist zulässig, weil sich der OGH noch nicht ausdrücklich mit der Qualifikation der Ansteckung mit einer Infektionskrankheit als Arbeits- oder Dienstunfall befasst hat. Sie ist aber nicht berechtigt.

[12] Die Revisionswerberin macht ua geltend, dass eine Infektion mit einer übertragbaren Krankheit regelmäßig auch die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfülle, weil das auslösende Ereignis die einmalige Ansteckung sei. Daran ändere der Umstand, dass Infektionskrankheiten als Berufskrankheiten normiert seien, nichts.

Dazu ist auszuführen:

[13] 1. Nach § 90 Abs 1 B-KUVG sind Dienstunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen.

[14] Die Voraussetzungen, unter denen ein Unfall als Dienstunfall anzusehen ist, entsprechen (im Wesentlichen) jenen für die Beurteilung eines Unfalls als Arbeitsunfall nach dem ASVG. Zur Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des B-KUVG kann daher auf Rsp und Lehre zu Arbeitsunfällen zurückgegriffen werden (RS0110598 [T2]; 10 ObS 150/20m [Rz 13]).

[15] 2. Der Unfallbegriff ist weder im B-KUVG noch im ASVG definiert. Rsp und Lehre umschreiben den Unfall dahin, dass es sich dabei um ein zeitlich begrenztes Ereignis – etwa eine Einwirkung von außen, ein abweichendes Verhalten, eine außergewöhnliche Belastung – handelt, das zu einer Körperschädigung (oder zum Tod) geführt hat (RS0084348; 10 ObS 80/20t [Rz 24]; Tomandl in Tomandl/Felten, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts 2.3.2.2. [271]; Pöltner/Pacic, ASVG § 175 Anm 1b ua). Von einem „Unfall“ kann daher im Allgemeinen nur gesprochen werden, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung durch ein plötzliches Ereignis bewirkt wurde, wobei „plötzlich“ nicht Einmaligkeit bedeuten muss. Auch kurz aufeinander folgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als „plötzlich“ anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht ereignet haben (RS0084348 [T4]; 10 ObS 48/21p [Rz 25]; Tarmann-Prentner in Sonntag, ASVG14 § 175 Rz 2 ua; vgl RS0110322). Nicht als Unfall gelten demnach Folgen von Dauereinwirkungen, die nur geschützt werden, wenn sie als Berufskrankheiten anerkannt sind (10 ObS 45/12h; vgl RS0110323; Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm Vor §§ 174-177 ASVG Rz 10). Der entscheidende Unterschied zwischen einem Unfall und einer Berufskrankheit ist daher der Zeitraum, in dem sie sich ereignen: Während der Unfall ein im dargestellten Sinn plötzliches Ereignis ist, entwickelt sich die Berufskrankheit typischerweise während eines länger andauernden Zeitraums (RS0110320; 10 ObS 48/21p [Rz 23]; Müller in SV-Komm Vor §§ 174-177 ASVG Rz 8; Tarmann-Prentner, ASVG14 § 175 Rz 3a).

[16] 2.2. Für die Frage, ob ein Unfall vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten (10 ObS 224/98h; Tomandl, System 2.3.2.2 [271]; Tarmann-Prentner, ASVG14 § 175 Rz 4; so auch Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9, 785). In der Rsp ist auch anerkannt, dass das schadenstiftende Ereignis nicht unbedingt ein mechanischer Vorgang sein muss, sondern – wie bei Krankheiten – auch ein chemo-physikalischer Vorgang sein kann. Demnach kann auch ein während der Arbeit zugezogener Insektenstich oder ein Biss durch einen tollwütigen Hund ein Arbeitsunfall sein, wenn durch die Einwirkung eine Gesundheitsschädigung hervorgerufen wird (10 ObS 71/04w = DRdA 2005, 412 [Müller]; 10 ObS 93/13v = DRdA 2014, 567 [Auer-Mayer]; Panhölzl/Bischofreiter, Angesteckt am Arbeitsplatz – Unfallversicherungsschutz bei Covid-19, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [121]; vgl auch Müller, DRdA 1998, 333 [Anm zu 10 ObS 325/97k] ua).

[17] 3. Wendet man diese Grundsätze auf Infektionskrankheiten (wie COVID-19) an, erscheint es nicht ausgeschlossen, sie nicht nur als Berufskrankheit (Nr 38 der Anlage 1), sondern auch als Arbeitsunfall zu qualifizieren, weil die Ansteckung in der Regel durch ein „plötzliches Eindringen“ der Erreger in den Körper erfolgt.

[18] 3.1. In der Literatur werden dazu unterschiedliche Ansichten vertreten.

[19] Müller (DRdA 2005, 412 [Anm zu 10 ObS 71/04w]) weist darauf hin, dass durch die Anerkennung einer durch Blutplasmaspende verursachten Infektion als „Unfall“ im Ergebnis der Unterschied zum Krankheitsbegriff eingeebnet würde, auf dem wiederum der Begriff der Berufskrankheit aufbaue. Obwohl er (Müller, Zum Begriff des [Arbeits-]Unfalls in der gesetzlichen Sozialversicherung, DRdA 2022, 56 [60] [Anm zu 10 ObS 48/21p]) konstatiert, dass es Abgrenzungsprobleme zwischen Berufskrankheit und Arbeitsunfall gibt und er der Arbeitsschicht als Äquivalent des Elements der Plötzlichkeit nicht entgegentritt, betont er die Notwendigkeit, das Unfallgeschehen von einem Erkrankungsgeschehen abzugren-553zen. Denn dieses führe nur dann zur unfallversicherungsrechtlichen Relevanz, wenn daraus eine Berufskrankheit entstehe (vgl auch Flatscher/Strasser, 58. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht, DRdA infas 2023, 208 [211]). Im Ergebnis geht Müller (SV-Komm, Vor §§ 174-177 Rz 10, § 175 Rz 41, § 176 Rz 138 und § 177 Rz 7) lediglich dann von einer Konkurrenz der beiden Anspruchsgrundlagen aus, wenn die Erkrankung auf ein unfallartiges Geschehen wie etwa einen (Insekten-)Stich oder Biss zurückgeht. Ansteckende Erkrankungen könnten dagegen keine Folge eines Arbeitsunfalls sein, weil die Übertragung in der Regel unbemerkt und zeitlich nicht eingrenzbar verlaufe.

[20] Tomandl (System 2.3.2.2. [275]) kommt letzten Endes zum selben Ergebnis, indem er darauf verweist, dass der Gesetzgeber jede Infektionskrankheit von Personen, die nicht in einem der geschützten Unternehmen laut Anlage 1 tätig sind, von der Leistungspflicht der UV ausschließe, weil diese aufgrund der prinzipiell unsicheren Ansteckungsvorgänge ansonsten für praktisch jede Infektionskrankheit einstehen müsse.

[21] Brodil (DRdA 2002, 383 [Anm zu 10 ObS 90/01k]) ist demgegenüber der Auffassung, dass dem Gesetzgeber die Überschneidung von Arbeitsunfall und Berufskrankheit durchaus bekannt sei. Es spreche daher nichts gegen eine Harmonisierung in der Form, dass Infektionen bzw Ansteckungen als plötzliche, zeitlich begrenzte Einwirkungen und damit als Unfall angesehen werden, sofern der Kausalzusammenhang in der für Arbeitsunfälle vorgesehenen Qualität nachgewiesen werde. Die befürchtete uferlose Ausdehnung der Leistungspflicht der UV würde durch das (strengere) Beweismaß verhindert.

[22] Födermayr (Strukturfragen der österreichischen gesetzlichen Unfallversicherung – Zustand nach Covid-19, DRdA 2023, 190 [195 f]), Panhölzl/Bischofreiter (Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [121 f]), Bischofreiter (Unfallversicherungsschutz bei Covid-19, DRdA-infas 2022, 416 [417]) und Obrecht (Long-COVID in der Sozialversicherung, ARD 6794/5/2022) gehen im Kontext der COVID-19-Pandemie ebenfalls davon aus, dass Infektionskrankheiten nicht nur als Berufskrankheit, sondern auch als Arbeits- bzw Dienstunfall zu qualifizieren seien, weil die Ansteckung in der Regel durch eine plötzliche und ungewollte Aufnahme der Viren erfolge und daher der Unfallbegriff erfüllt sei. Überwiegend wird dabei die Ansicht vertreten, dass der Umstand, dass Infektionskrankheiten in die Anlage 1 aufgenommen wurden, noch nicht (zwingend) bedeute, dass im Einzelfall nicht auch ein Arbeitsunfall vorliegen könne. Ein Unterschied zur Berufskrankheit bestehe (nur) darin, dass bei letzterer der Beweis der Erkrankung einfacher zu führen sei.

[23] 3.2. In Deutschland entspricht es der langjährigen Rsp und Lehre, dass auch Infektionskrankheiten iSd dortigen Berufskrankheit 3101 (iVm § 9 SGB VII) eine Körperschädigung darstellen können, die die Merkmale eines Arbeitsunfalls erfüllt (BSG 2 RU 106/59; 2 RU 191/59; jüngst BSG B 2 U 34/17 R [Bakterieninfektion]; Schwerdtfeger in Lauterbach, Unfallversicherung4 § 8 SGB VII Rz 26d, 27, 97 [COVID-19]; Ricke in Kasseler-Kommentar SGB VII § 8 Rz 118; Krasney in Krasney/Becker/Heinz/Bieresborn, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] § 8 SGB VII Rn 635; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9, 785).

[24] 3.3. Der OGH hat sich mit der Frage, ob die „bloße“ Ansteckung mit Infektionskrankheiten (für sich) ein Arbeits- oder Dienstunfall sein kann, noch nicht befasst. Zu 10 ObS 90/01k wurde zwar die Erkrankung an Hepatitis-C im Zuge einer freiwilligen Blutplasmaspende als Arbeitsunfall angesehen. Nähere Umstände der Infektion sind der Entscheidung aber nicht zu entnehmen; zudem wurde in der dortigen Revision ohnehin nur das vermeintlich fehlende rechtliche Interesse an einer Feststellung gem § 82 Abs 5 ASGG thematisiert. In der schon erwähnten E 10 ObS 71/04w war die Qualifikation als Arbeitsunfall nicht strittig (Einführen der verunreinigten Kanüle zur Plasmaspende).

[25] 4. Im Anlassfall ist dagegen eine behauptete „schlichte“ Ansteckung durch infizierte Kollegen zu beurteilen. Bei einer solchen scheidet nach Ansicht des Senats das Vorliegen eines Arbeitsunfalls de lege lata aus.

[26] 4.1. Charakteristikum der vom Gesetzgeber in die Anlage 1 zum ASVG aufgenommenen Berufskrankheiten ist überwiegend, dass sie erst durch längerfristige schädigende Einwirkungen (zB Schadstoffe, Druck, Lärm, Vibrationen) zur Erkrankung führen. Im Gegensatz dazu erfolgt bei Infektionskrankheiten der Infektionsvorgang als schadenstiftende Einwirkung grundsätzlich abrupt und erfüllt damit im Grunde eher die Voraussetzungen eines Unfalls. Wenn Infektionskrankheiten trotzdem den Berufskrankheiten zugeordnet werden, kann das nur dahin verstanden werden, dass der Gesetzgeber sie bewusst nur als solche behandeln, respektive sie nur unter den Voraussetzungen der Anlage 1 unter Versicherungsschutz stellen will. Der OGH hat zur Berufskrankheit Nr 38 auch mehrfach betont, dass eine Gesundheitsstörung verschiedene Ursachen haben kann und vor allem bei Infektionskrankheiten unterschiedlichste Ansteckungsquellen und Übertragungswege in Betracht kommen, die sich im Nachhinein weder sicher eruieren noch auf eine berufliche Tätigkeit zurückführen lassen (vgl 10 ObS 74/16d; 10 ObS 159/88 ua). Sinn und Zweck der Nr 38 der Anlage 1 besteht daher darin, nur jenen Personen (Unfallversicherungs-)Schutz bei einer Erkrankung an einer Infektionskrankheit zu gewähren, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in genau definierten Unternehmen einer besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind (vgl 10 ObS 149/22t [Rz 24]; 10 ObS 39/23t [Rz 17]; RS0085380). Dass der UV mit der Nr 38 der Anlage 1 nur eine beschränkte Leistungspflicht auferlegt werden sollte, zeigt auch der Umstand, dass kein lückenloses System des Versicherungsschutzes geschaffen wurde (10 ObS 1/23d; RS0120384), obwohl der Sache nach eigentlich jede auf betriebliche Einwirkungen zurückgehende Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden müsste (Tomandl, System 2.3.2.2. [273]). Wie schon das554Berufungsgericht zu Recht betont hat, lag die offenbare Absicht des Gesetzgebers somit darin, Infektionskrankheiten ausschließlich als Berufskrankheit unter den Schutz der UV zu stellen. Auch wenn Infektionen die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllen können, sind sie daher (e contrario) nicht vom Schutzbereich der UV erfasst.

[27] 4.2. Dass die Erkrankung anderer Personen als der in Nr 38 der Anlage 1 genannten Beschäftigten von der Leistungspflicht der UV ausgeschlossen sein soll, zeigt auch § 176 Abs 2 ASVG: Mit Ausnahme der in § 176 Abs 1 ASVG genannten „Dauertätigkeiten“ (etwa nach Z 7a oder Z 8) kommen dort mangels länger dauernder Expositionen praktisch nur punktuelle Einwirkungen wie vor allem die Infektion mit einem Krankheitserreger in Betracht (vgl Müller, SV-Komm § 176 Rz 140, der auf Hepatitis-Fälle verweist; Brodil, DRdA 2002, 383). Da der Gesetzgeber implizit selbst von der Dauer einer Arbeitsschicht als zeitliche Grenze für die Annahme eines Arbeitsunfalls ausgeht (vgl ErläutRV 181 BlgNR 14. GP 71), wäre eine Gleichstellung der (zwangsläufig kurzen) Einwirkungen mit Berufskrankheiten nicht notwendig, wenn sie ohnehin schon als Unfallereignis zu qualifizieren wären. In diesem Fall wäre der Versicherungsschutz nämlich bereits durch die in § 176 Abs 1 ASVG angeordnete Gleichstellung mit Arbeitsunfällen gegeben. Der Annahme, die Nr 38 der Anlage 1 solle bloß zu Beweiserleichterungen führen, indem bestimmte Bereiche (Unternehmen) definiert werden, in denen eine Infektion (hoch-)wahrscheinlich ist, steht entgegen, dass durch § 176 Abs 2 ASVG der Versicherungsschutz (für Tätigkeiten nach § 176 Abs 1 ASVG) erst geschaffen (ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 96) und nicht bloß für einen schon bestehenden Schutz eine einfachere Beweisführung ermöglicht werden sollte.

[28] 4.3. Auch die Nr 46 der Anlage 1 („Durch Zeckenbiss übertragbare Krankheiten“) spricht gegen die Qualifikation von Infektionskrankheiten als Arbeitsunfall. Die Aufnahme der Nr 46 erfolgte durch die 50. ASVG-Novelle (BGBl 1996/411), zu der die Materialien ausführen:

Sowohl die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) als auch die Borreliose (lyme disease) werden durch Zeckenbisse übertragen. [...] Diese Erkrankungen könnten zwar grundsätzlich auch als Folge eines Arbeitsunfalls (Unfall = Zeckenbiss) gewertet werden. Da es sich dabei letztlich um Infektionskrankheiten handelt, ist die Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten [...] wünschenswert. [...] Es sollte dies zweckmäßigerweise durch Schaffung einer neuen Position in der Berufskrankheitenliste geschehen, da eine an sich mögliche Subsumierung unter die Berufskrankheiten Nr 38 oder 39 schon wegen des bei diesen Berufskrankheiten eingeschränkten Unternehmensbegriffes kaum zielführend wäre“ (ErläutRV 284 BlgNR 18. GP 38 f).

[29] Somit sieht offenbar selbst der Gesetzgeber das mögliche Unfallereignis nicht im „plötzlichen Eindringen“ des Virus (FSME) oder der Bakterien (Borreliose) in den Körper, sondern im (unfallartigen) Zeckenbiss.

[30] 5. Insgesamt ergibt sich aus diesen Erwägungen letztlich klar, dass durch Aufnahme der Infektionskrankheiten in den Katalog der Anlage 1 der Unfallversicherungsschutz eingeschränkt und nicht eine weitere Anspruchsgrundlage mit erleichterter Beweisführung geschaffen werden sollte. Der Senat kommt daher zum Ergebnis, dass ein Versicherungsschutz dafür nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 ASVG iVm der Anlage 1 besteht. Davon ausgenommen sind lediglich Fälle, in denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc) zurückgeht. Ausschließlich insoweit überschneiden sich Dienst- bzw Arbeitsunfall und Berufskrankheit.

ANMERKUNG
1.
Infektion als Arbeitsunfall?

Eine Anerkennung von Covid-19 in nicht geschützten Betrieben als Arbeitsunfall geht mit dem Unfallbegriff der UV, der im Allgemeinen ein plötzliches (zumindest ein zeitlich begrenztes), von außen kommendes Ereignis erfordert, nicht zusammen, zumindest so wie dieser zum österreichischen Recht seit Anbeginn judiziert wird (vgl OGH RS0084348) und im deutschen Recht sogar kodifiziert wurde (§ 8 Abs 1 zweiter Satz SGB VII). Allerdings wird der Begriff des Arbeitsunfalls in der deutschen Lehre und Rsp etwas weiter gefasst als hierzulande, worauf der OGH in seiner Begründung schon kurz hingewiesen hat (vgl Rz 23 der Urteilsbegründung). Denn schon das Reichsversicherungsamt (RVA) hat 1915 eine in Afrika erlittene Malariainfektion durch Mückenstich als mittelbare Unfallursache anerkannt, obwohl Ort und Zeit der Stichverletzung nicht gesichert waren. Das war lange vor der gesetzlichen Anerkennung der Berufskrankheiten als Versicherungsfall der UV, die in Deutschland erst durch die Verordnung vom 12.5.1925, RGBl I 1925/20, 69, über Ausdehnung der UV auf gewerbliche Berufskrankheiten, erfolgt ist. Das Bundessozialgericht (BSG) hat seit 1990 in mehreren Fällen Infektionskrankheiten, die nicht der Definition als Berufskrankheit entsprochen haben, als Arbeitsunfälle anerkannt (vgl die Nachweise bei Molkentin, SGb 2022, 337 FN 18-21), zuletzt 2019 im Falle einer bakteriellen Infektion (Meningitis) während eines Krankenhausaufenthaltes, wobei es sich um eine nachträgliche Anerkennung eines Ereignisses aus 1992 (also noch unter dem Regime der RVO) handelte. Der Fall hat eine Person betroffen, der seinerzeit als Frischgeborener von einem Träger der gesetzlichen KV oder der gesetzlichen Rentenversicherung oder einer landwirtschaftlichen Alterskasse stationäre Behandlung (im Brutkasten) iSd § 559 RVO gewährt worden war (vgl jetzt § 2 Abs 1 Z 15 lit a erster Fall SGB VII). Das Eindringen eines Bakteriums in den Körper sei ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis iSd Definition des Unfalls555 im Arbeitsunfallrecht. Unschädlich sei insoweit, dass sich die Infektion während eines mehrwöchigen Krankenhausaufenthaltes ereignete, weil hier das nur kurze Zeit in Anspruch nehmende Eindringen von Bakterien in den Körper der Kl das Unfallereignis darstelle, nicht hingegen ein besonderes Risiko des Krankenhausaufenthaltes als längere hinreichende Einwirkung zu prüfen sei (BSG 7.5.2019, B 2 U 34/17 R).

Das würde – abseits der Problematik, dass dieser Vorgang weit entfernt vom herkömmlichen Unfallbegriff ist – freilich bedeuten, dass es bei der Infektion durch Aerosole oder auch bei Schmierinfektionen für den Schutz der UV darauf ankäme, ob die Erreger der Krankheit rascher oder langsamer in den Körper einwandern, ob sie also zumindest abstrakt nicht länger als eine Arbeitsschicht von acht Stunden benötigen (zur Arbeitsschicht als zeitliche Grenze der Anerkennung von Einwirkungen als Unfallgeschehen vgl OGH10 ObS 48/21p SZ 2021/47 mwH auf Lehre und Rsp). Abgesehen von der Problematik der verlässlichen Beweisführung solcher Umstände würde man damit die gesetzliche Begrenzung eines Infektionsgeschehens als Berufskrankheit iSd Berufskrankheit 38 (jetzt 3.1.) unterlaufen. Es ist auch sicher kein Zufall, dass die überwiegende Zahl von Entscheidungen, in denen der OGH die Dauer der Arbeitsschicht zur Beurteilung als Arbeitsunfall heranziehen musste, Einwirkungen bzw Erkrankungen psychischer Natur gewesen sind und für die betroffene Person einen in aller Regel negativen Ausgang hatten (vgl den Überblick über diese Rsp in OGH10 ObS 48/21p SSV-NF 35/34 = DRdA 2022, 56/7 [Rudolf Müller]; zu vergleichbaren Fällen der dt Rsp vgl Ricke in KassKomm § 8 SGB VII, Rz 24a). Das von der deutschen Rsp entwickelte theoretische Konstrukt der Dauer einer Arbeitsschicht als Äquivalent für die Plötzlichkeit eines typischen Unfallereignisses mag in seltenen Ausnahmefällen hilfreich sein (vgl die selbst für Deutschland eher dürren Rechtsprechungsbelege bei Ricke in KassKomm § 8 SGB VII Rz 23), hat aber in aller Regel keine nennenswerte praktische Bedeutung.

Der OGH war in der vorliegenden E mE zu Recht um eine klare Abgrenzung des Unfallbegriffs vom Krankheitsbegriff bei Infektionskrankheiten bemüht. Er hat diese Grenze zwischen den unfallähnlichen Ereignissen (Infektion durch Biss, Stich etc) einerseits und der Infektion durch „Einschleichen“ von Krankheitserregern aus Aerosolen andererseits gezogen. Diese Grenzziehung hat auch etwas Pragmatisches: Gerade bei Covid-19 können zwischen dem Infektionsgeschehen und dem Ausbruch der Symptomatik Tage vergehen, sodass es (häufig also anders als bei Infektionen durch Stich oder Biss) bei mehreren „verdächtigen“ Expositionen kaum möglich sein würde, eine dem gebotenen Beweismaß adäquate eindeutige Zuordnung der Infektion zu einer Arbeitsschicht vorzunehmen (zu den Problemen der diesbezüglichen Sachaufklärung im dt Recht vgl Becker, Covid-19 als Berufskrankheit und Arbeitsunfall, SGb 2022, 705 [711, 713]).

2.
Berufskrankheit und Gemeingefahr
2.1.
Das Problem

Die WHO hat Covid-19 am 11.3.2020 zur Pandemie erklärt. Damit wurde sie zur Gemeingefahr, sodass man sich eigentlich in erster Linie hätte fragen müssen, wie eine Infektionskrankheit, auch wenn sie an sich eine Berufskrankheit sein kann (vgl Anlage 1 zum ASVG Nr 38 [nunmehr 3.1.]), zu beurteilen ist, wenn sie zugleich eine Gemeingefahr darstellt, dh ein großes Ansteckungsrisiko für die Bevölkerung im Allgemeinen besteht, welches auch in abstrakter Betrachtungsweise die Ansteckungsrisken in bestimmten medizinischen oder pflegerischen Einrichtungen überlagern kann. Angesichts der Sicherheitsvorkehrungen in derartigen Einrichtungen, in denen bekanntlich Vollkörperschutzanzüge zum Schutz der dort tätigen DN ausgegeben wurden, könnte man sogar auf die Idee kommen, dass die konkrete Ansteckungsgefahr trotz FFP2-Maske in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Lebensmittelsupermarkt oder im Familienkreis größer oder zumindest gleich hoch gewesen sein könnte als in einer solchen medizinischen Einrichtung. Man hätte sich erwarten können, dass die Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit zumindest hinterfragt worden wäre.

Hierzulande gab es darüber jedoch – soweit ersichtlich – keine öffentliche Diskussion.

2.2.
Die deutsche Debatte

Anders in Deutschland, aber in eine ganz andere Richtung: Die Dachorganisation der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen in Deutschland (DGUV) vertrat nämlich zunächst die Auffassung, die bestehende Allgemeingefahr schließe zwar im Falle einer Covid-19-Infektion die Annahme eines Arbeitsunfalls aus, aufgrund des besonderen Infektionsrisikos in medizinischen Einrichtungen aber nicht die Annahme einer Berufskrankheit. Die Allgemeingefahr trete dabei wegen des erhöhten beruflichen Risikos in den Hintergrund (vgl den Bericht in der deutschen Ärztezeitung vom 8.4.2020, COVID-19 kann eine Berufskrankheit sein [aerzteblatt.deaerzteblatt.de – abgefragt 14.5.2024]). Gegen die Inkonsequenz dieser Auffassung (Gemeingefahr sticht zwar Arbeitsunfall, nicht aber Berufskrankheit) wendeten sich alsbald Stimmen in der deutschen Literatur (vgl die zusammenfassende Darstellung bei Molkentin, SARS-CoV-2-Infektion: gesetzlich unfallversicherte Betriebsgefahr statt unversicherte Allgemeingefahr, SGb 2022, 335 ff [337 bei FN 22]).

Im Juni 2020 (so Molkentin, SGb 2022, 339) änderte die DGUV ihre zunächst differenzierende Haltung, sie erstreckte sie aber nicht in Richtung einer pandemiebedingten Restriktion auch bei Berufskrankheit, sondern – im Gegenteil – in Richtung einer Öffnung: Erfolge eine Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 im Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit, ohne dass die Voraussetzungen einer Berufskrankheit vorliegen, und zeigten sich Krankheitssymptome, so könne die Erkrankung einen Arbeitsunfall darstellen. Vor-556aussetzung sei, dass die Infektion auf die jeweilige versicherte Tätigkeit (Beschäftigung, [Hoch-]Schulbesuch, Ausübung bestimmter Ehrenämter, Hilfeleistung bei Unglücksfällen oa) zurückzuführen sei. In diesem Rahmen müsse ein intensiver Kontakt mit einer infektiösen Person („Indexperson“) nachweislich stattgefunden haben. Dieser Kontakt müsse unter Zugrundelegung der Anforderungen, die das Robert-Koch-Institut (RKI) dazu entwickelt hat, zwischen zwei Tagen vor dem Auftreten der ersten Symptome bei der Indexperson und zehn Tagen nach Symptombeginn erfolgt sein, bei schwerer oder andauernder Symptomatik gegebenenfalls auch noch später. Grundsätzlich sei auch immer zu prüfen, ob und inwieweit in der fraglichen Inkubationszeit vergleichbare außerberufliche Gefährdungen zu einer Infektion geführt haben könnten (COVID-19 als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall; dguv.dedguv.de – abgefragt am 14.5.2024). Das ist offenbar die derzeit gängige Praxis; Rsp des BSG dazu war keine festzustellen (zuletzt am 8.7.2024).

2.3.
Die europäische Beurteilung

Auf der Ebene der EU ging abseits dogmatischer Erwägungen der politische Konsens in eine ähnliche Richtung: Die Anerkennungspraxis betreffend Covid-19 als Berufskrankheit kann die Empfehlung der Europäischen Kommission (EU) 2022/2337 vom 28.11.2022 für sich in Anspruch nehmen, die Covid-19 ungeachtet ihres pandemischen Auftretens in ihre Liste empfohlener Berufskrankheiten ausdrücklich aufgenommen hat. Bereits zuvor hatte dies die Kommission in ihrer Mitteilung vom 28.6.2021 „Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027, Arbeitsschutz in einer sich wandelnden Arbeitswelt“, COM (2021) 323 final, angekündigt.

Ein Gedanke, der mich von der Argumentation, wonach eine Covid-19-Pandemie keine das Unfallversicherungsrecht ausschaltende Gemeingefahr darstellt, halbwegs überzeugt, ist jener des AN-Schutzes (vgl Mollentin, SGb 2022, 335 [340] mwH): Soweit Maßnahmen des AN-Schutzes gegen die Pandemie in Stellung gebracht werden konnten, wird eine normative Grenze zwischen einer offensichtlich beeinflussbaren Gemeingefahr (wie Covid-19) zu einer nicht weiter beeinflussbaren, schicksalhaften – hier daher aber nicht vorliegenden – Gemeingefahr gezogen. Diesseits dieser Grenze hat man daher ungeachtet der Pandemie bei Covid-19 den Schutz der UV greifen lassen.

3.
Ergebnis
  1. Der OGH hat in der vorliegenden E die Lehre und Rsp in extenso aufgearbeitet und die nur teilweise vergleichbare Rechtslage in Deutschland in die Überlegungen miteinbezogen. Die vom OGH schließlich gegebene ausführliche Begründung ist einer Grundsatzentscheidung würdig. Ihr ist im Ergebnis und in der Begründung (ebenso übrigens der E vom selben Tag, 16.1.2024, 10 ObS 68/23g – Polizeibeamter; Ansteckung mit Covid-19 durch einen Kollegen) beizupflichten.

  2. Das zwei Monate nach dieser E kundgemachte Berufskrankheiten-Modernisierungsgesetz, BGBl I 2024/18, brachte zwar ua eine veränderte Systematik der Berufskrankheitenliste in Anlage 1 zum ASVG, aber keine Änderung betreffend die Infektionskrankheiten als Berufskrankheit (nunmehr Berufskrankheit 3.1.). Die Aufzählung der einschlägigen Unternehmen, in denen Infektionskrankheiten als Berufskrankheit anerkannt werden können, samt der Öffnungsklausel „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht“, blieben unverändert. Der Gesetzgeber hat sich also zu keiner Erweiterung der Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit veranlasst gesehen.

  3. Die E des OGH verschärft freilich die Problematik der in einer Pandemie entstehenden Ungleichbehandlung: Erkrankte Personen, die in kritischen Betrieben iSd Berufskrankheit Nr 38 (nunmehr 3.1.) der Anlage 1 zum ASVG tätig sind, können im Falle entsprechend gravierender gesundheitlicher Beeinträchtigungen auch Rentenleistungen aus der UV beanspruchen, während dies dem Gros der auf andere Weise infizierten Personen trotz eines vergleichbar hohen Infektionsrisikos selbst bei vergleichbar gravierender gesundheitlicher Folgen versagt bleibt. Das kann als sozialpolitisch unbefriedigend empfunden werden, ist aber nicht mit dem Gleichheitssatz zu messen (vgl insoweit zum Recht der Berufskrankheiten die Beschlüsse des VfGH vom 26.11.2020, G 209/2020 und VfGH vom 25.1.2024, G 140/2022). Daran etwas zu ändern, wäre daher Aufgabe der Gesetzgebung gewesen und nicht der Rsp.557