Soziale Nachhaltigkeit im globalen Kontext – Das Recht auf angemessenen Lohn

KIRSTENSCHMALENBACH (SALZBURG)
„Soziale Nachhaltigkeit“ gehört zu den Themen, die in den Fluren und den Organen der Vereinten Nationen (VN), der Weltbank und der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) immer öfter und eindringlicher diskutiert werden. Der Ruf nach sozialer Nachhaltigkeit steht dabei im Kontext einer größeren Nachhaltigkeitsdebatte, die 1987 durch den sogenannten Brundtland-Bericht „Our Common Future“ angestoßen wurde.* Dort wurde der Begriff der „Nachhaltigkeit“ primär auf ökologisch nachhaltige Entwicklung ausgerichtet (siehe Elias Felten in diesem Heft), was der Eingängigkeit seiner Definition aber keinen Abbruch tut: Entwicklung ist danach nachhaltig, wenn sie den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die mit dem Brundtland-Bericht angesprochene intergenerationelle Gerechtigkeit zwischen den Menschen von heute und morgen mahnt in erster Linie den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen ein. Das hier relevante Thema, die soziale Nachhaltigkeit, wird im Bericht dagegen nur mittelbar thematisiert, und zwar durch die Betonung des reziproken Verhältnisses zwischen Armut und Umweltschädigung. Der Brundtland-Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass Armutsbekämpfung zu den wesentlichen Gelingensbedingungen für ressourcenbezogene, intergenerationelle Gerechtigkeit zählt. Es wäre allerdings verfehlt, das Konzept der sozialen Nachhaltigkeit auf die weltweite Bekämpfung von extremer Armut zu reduzieren. Internationale Dokumente, die sich mit dem Thema befassen, verdeutlichen vielmehr, dass das internationale Verständnis von sozialer Nachhaltigkeit in einem umfassenden Sinne menschenfokussiert ist. Der Globale Pakt der VN (engl: Global Compact), das VN-Kooperationsinstrument für Unternehmen, das unverbindlich aber gleichwohl wirkungsvoll der ökologischen und sozialen Gestaltung der Globalisierung dient, versteht unter sozialer Nachhaltigkeit das Erkennen und Bewältigen der unternehmerischen Auswirkungen auf den Menschen.* Die Weltbank erachtet die unternehmerische Tätigkeit Soziale Nachhaltigkeit im globalen Kontext – Das Recht auf angemessenen Lohn
  1. Einleitung: Soziale Nachhaltigkeit im Völkerrecht

  2. Internationale arbeitsrechtliche Standards und soziale Menschenrechte

    1. Regionale Internationale Standards

    2. Globale Internationale Standards

  3. Globale Sicherstellung sozialer Nachhaltigkeit durch angemessenen Lohn

    1. Völkerrechtliche Verpflichtungen transnationaler Unternehmen

    2. Unilaterale Sicherstellung sozialer Standards: das deutsche Lieferkettengesetz

  4. Schlussfolgerung

1.
Einleitung: Soziale Nachhaltigkeit im Völkerrecht

„Soziale Nachhaltigkeit“ gehört zu den Themen, die in den Fluren und den Organen der Vereinten Nationen (VN), der Weltbank und der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) immer öfter und eindringlicher diskutiert werden. Der Ruf nach

sozialer Nachhaltigkeit steht dabei im Kontext einer größeren Nachhaltigkeitsdebatte, die 1987 durch den sogenannten Brundtland-Bericht „Our Common Future“ angestoßen wurde.* Dort wurde der Begriff der „Nachhaltigkeit“ primär auf ökologisch nachhaltige Entwicklung ausgerichtet (siehe Elias Felten in diesem Heft), was der Eingängigkeit seiner Definition aber keinen Abbruch tut: Entwicklung ist danach nachhaltig, wenn sie den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die mit dem Brundtland-Bericht angesprochene intergenerationelle Gerechtigkeit zwischen den Menschen von heute und morgen mahnt in erster Linie den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen ein. Das hier relevante Thema, die soziale Nachhaltigkeit, wird im Bericht dagegen nur mittelbar thematisiert, und zwar durch die Betonung des reziproken Verhältnisses zwischen Armut und Umweltschädigung. Der Brundtland-Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass Armutsbekämpfung zu den wesentlichen Gelingensbedingungen für ressourcenbezogene, intergenerationelle Gerechtigkeit zählt.

Es wäre allerdings verfehlt, das Konzept der sozialen Nachhaltigkeit auf die weltweite Bekämpfung von extremer Armut zu reduzieren. Internationale Dokumente, die sich mit dem Thema befassen, verdeutlichen vielmehr, dass das internationale Verständnis von sozialer Nachhaltigkeit in einem umfassenden Sinne menschenfokussiert ist. Der Globale Pakt der VN (engl: Global Compact), das VN-Kooperationsinstrument für Unternehmen, das unverbindlich aber gleichwohl wirkungsvoll der ökologischen und sozialen Gestaltung der Globalisierung dient, versteht unter sozialer Nachhaltigkeit das Erkennen und Bewältigen der unternehmerischen Auswirkungen auf den Menschen.* Die Weltbank erachtet die unternehmerische Tätigkeit 91 dann für sozial nachhaltig, wenn sie den Menschen und nicht den Profit an die erste Stelle setzt.* Konkret auf Arbeitsbeziehungen bezogen verknüpfen die Ziele der VN-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung (engl.: Sustainable Development Goals, kurz SDG) in ihrem Ziel Nr 8 globales nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit menschenwürdiger Arbeit für alle.* In der Welt der Arbeit bedeutet soziale Nachhaltigkeit also ebenfalls, dass Arbeit und Arbeitsbedingungen am Menschen und nicht am Profit orientiert sind. Dieser Fokus steht im völligen Einklang mit der Nachhaltigkeitsagenda der IAO.*

In ihrem globalen Kontext betrachtet thematisiert das SDG-Ziel Nr 8 die soziale Nachhaltigkeit vor allem mit Blick auf den sogenannten „globalen Süden“, die Gruppenbezeichnung von Entwicklungs- und Schwellenländern, die nicht geographisch, sondern politisch zu verstehen ist. Der Diskurs zur globalen sozialen Nachhaltigkeit, wie er in den VN geführt wird, ist in erster Linie ein Diskurs zur intragenerationellen Gerechtigkeit, da Menschen im globalen Norden und Süden sehr unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden. Im Zentrum stehen also die sozialen Ungleichheitsstrukturen zwischen den zurzeit auf unserem Planeten lebenden Generationen an Menschen, also im Hier und Jetzt. Trotzdem wohnt dem Prinzip der sozialen Nachhaltigkeit auch ein Element der intergenerationellen Gerechtigkeit inne, da die durch menschenunwürdige Arbeit verursachte Armut über die Generationen vererbbar ist. Die sozialen Bedürfnisse der nächsten Generation verlangen also, dass bereits die heutige Generation den Weg aus der Armut findet, während für die heutige Generation ein zentrales Element sozialer Nachhaltigkeit ist, dass ihre Nachkommen vom sozialen Aufstieg ihrer Vorfahren nachhaltig profitieren können.*

2.
Internationale arbeitsrechtliche Standards und soziale Menschenrechte

Die inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit durch die soziale Nachhaltigkeit der Welt der Arbeit ist auch für die Republik Österreich trotz ihrer unangefochtenen Stellung als wohlhabendes Industrieland von Bedeutung: Die offizielle Statistik Austria sah die Armutsgefährdungsquote für Österreich für das Jahr 2022 bei 15 %; 2,3 % der Bevölkerung waren 2022 von Armut konkret betroffen und galten als erheblich materiell und sozial benachteiligt.* Für diese Armut bzw Armutsgefährdung gibt es viele Gründe, die weit über das Recht auf angemessenen Lohn hinaus gehen. Dennoch konzentriert sich der vorliegende Beitrag aus Gründen der Übersichtlichkeit auf dieses soziale Menschenrecht.

2.1.
Regionale Internationale Standards

Aus der Sicht Österreichs und vieler anderer Industriestaaten Europas erscheint es angesichts der hohen nationalen Menschenrechts-, Arbeits- und Sozialstandards nicht notwendig, sich mit global anerkannten, internationalen Minimumstandards auseinanderzusetzen. Wenn überhaupt, wird auf das regionale internationale Recht verwiesen. Hier ist vor allem die Revidierte Europäische Sozialcharta von 1996 (rev. ESC) von Bedeutung, die im Bereich staatlicher Leistungspflichten die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ergänzt. Hinzu tritt das Recht der Europäischen Union (EU) und seine Grundrechtecharta als lex specialis des Völkerrechts. Doch dieser Fokus geht oft einher mit einer Romantisierung regionaler europäischer Standards im Bereich des Arbeitsrechts. Die rev. ESC enthält zwar in ihrem 2. Teil viele Verpflichtungen mit kernarbeitsrechtlichen Bestimmungen, allerdings zeigt die Lektüre des 3. Teils, dass diese für die Vertragsstaaten eine Art à la carte-Menü sind, das den Vertragsstaaten eine Auswahl an Verpflichtungen erlaubt (gewählt werden müssen sechs von neun Kernverpflichtungen). Dem Recht des AN auf gerechtes Arbeitsentgelt (Art 4 rev. ESC) kann ein Vertragsstaat zB sehr leicht entgehen, indem er sich nicht dazu verpflichtet, dieses zu gewährleisten.* Ein weiteres Problem ist das Fehlen eines individualschützenden Kontrollsystems auf der Ebene der rev. ESC. Es gibt lediglich das System nationaler Berichte, das seit dem Zusatzprotokoll 1995 um einen Mechanismus für kollektive Beschwerden ergänzt wurde. Letzteres hat Österreich nicht ratifiziert, und zwar mit dem Argument, dass Kollektivbeschwerden nicht in das österreichische Rechtssystem passen.* Wirft man einen genaueren Blick auf das Ratifikationsverhalten einzelner Staaten, erhärtet sich der Verdacht, dass nur jene Artikel der rev. ESC als verbindlich akzeptiert werden, die ohnehin schon dem innerstaatlichen Recht entsprechen.*

Die rev. ESC hat bekanntlich ihren Weg in die die EU-Grundrechtecharta (GRCh) gefunden, jedoch setzt sich auch hier das Problem einer reduzierten Verpflichtungsdichte fort, indem die GRCh zwischen „Rechten“ und „Grundsätzen“ unterscheidet. Jenseits davon findet sich kein Recht auf gerechtes Arbeitsentgelt in der GRCh, auch nicht in ihrem Titel IV, der mit „Solidarität“ überschrieben ist.*

92 Ein angemessener Lohn kann nur dann unter Art 31 GRCh subsumiert werden, wenn der Begriff der „Würde“ in Art 31 Abs 1 GRCh, der gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen garantiert, im Lichte internationaler Standards interpretiert wird, wie etwa Art 23 Abs 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte („just, fair and favourable renumeration“).*

Generell kann nicht übersehen werden, dass internationale europäische Regelungen im Bereich des Arbeitsrechts zumindest teilweise hinter globalen Standards herlaufen.* Das gilt im Bereich des Mindestlohns auch für die EU: Erst 2022 wurde mit der RL (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der EU das Thema rechtsverbindlich auf EUEbene angegangen, unter Verweis auf die rev. ESC, Art 31 der GRCh und das IAO-Übereinkommen Nr 131 (1970).* Eine verbindliche Mindestlohngrenze wird die Richtlinie nicht festlegen, sodass ein nachhaltiger Einfluss auf die Mindestlohnpolitik der EU-Mitgliedstaaten bezweifelt wird.*

2.2.
Globale Internationale Standards

Es mag überraschen, aber die Spielräume, die die rev. ESC im Bereich arbeitsrechtlicher Standards ihren europäischen Vertragsparteien lässt, finden sich auf universeller Ebene nicht. Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) sind in Teil III die wichtigsten arbeitsrechtlichen Standards festgeschrieben, zB das Recht auf einen angemessenen Lohn und gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit (Art 7). Der IPwskR wird in seiner Bedeutung oft unterschätzt, weil viele seiner Verpflichtungen unter dem sogenannten Progressionsvorbehalt stehen, also bedingt sind durch den Stand der Entwicklung des betreffenden Vertragsstaats. Die Republik Österreich, die den IPwskR 1978 unter der parlamentarischen Vorgabe eines Erfüllungsvorbehalts (Art 50 Abs 2 Z 4 B-VG) ratifiziert hat, muss als hochentwickelter Staat selbstredend alle arbeitsrechtlichen Verpflichtungen des Sozialpakts einschränkungslos einhalten und darf auch nicht hinter den bereits erreichten Stand zurückfallen.

Neben den IPwskR treten die vielen IAO-Konventionen, die Österreich ratifiziert hat: Insgesamt 190 IAO-Konventionen stehen zur Ratifikation bereit, 54 davon hat Österreich ratifiziert, von denen heute 43 in Kraft sind. Unter diesen 43 Abkommen befinden sich neun der zehn sogenannten „IAO-Kernarbeitsnormen“,* wobei der Nationalrat auch hier einige Ratifizierungen nur mit innerstaatlichem Erfüllungsvorbehalt nach Art 50 Abs 2 Z 4 B-VG genehmigt hat. Die IAO-Konvention Nr 131 über den angemessenen Mindestlohn ist keine solche Kernarbeitsnorm und wurde von Österreich auch nicht ratifiziert:* Mit nur 54 Vertragsstaaten hat die Konvention ohnehin nur wenig internationalen Zuspruch gefunden. Die fehlende Ratifikationsbereitschaft stellt IAO-Mitgliedstaaten aber nicht völlig verpflichtungsfrei: Die IAO-Deklaration über die Grundprinzipien und Rechte bei der Arbeit (1998) identifiziert eine kleine Gruppe an Kernstandards, an die alle 187 IAO-Mitgliedstaaten ohne weiteres kraft Mitgliedschaft gebunden sind. Der angemessene Lohn gehört nicht diesem Kanon an, wohl aber die Anerkennung des Rechts auf Tarifverhandlungen. Die Verknüpfung von Arbeit und Umwelt wurde erst 2022 von der IAO hinzugefügt; dieser neue unabdingbare IAO-Kernstandard verlangt ein gesunderes Arbeitsumfeld.

3.
Globale Sicherstellung sozialer Nachhaltigkeit durch angemessenen Lohn

Die Zurückhaltung Österreichs gegenüber internationalen Verpflichtungen zur Sicherstellung eines angemessenen Lohns wird in der Regel mit der österreichischen Kollektivvertragsautonomie begründet. Ob dies ein gutes Modell zur Vermeidung sogenannter „Working Poor“ ist, mag dahinstehen;* global sieht es mit der effektiven Umsetzung des Rechts auf angemessenen Lohn jedenfalls schlecht aus. Der Kommentar des IPwskR- Ausschusses zu Art 7 IPwskR (2016) thematisiert die ernüchternde globale Bilanz im Bereich arbeitsrechtlicher Standards.* 57 Jahre nach der Verabschiedung des IPwskR ist das Lohnniveau in vielen Teilen der Welt nach wie vor niedrig und das geschlechtsspezifische Lohngefälle ist ein anhaltendes und globales Problem. Brennpunkte sind dabei Produktionsstätten und Dienstleister in afrikanischen und asiatischen Staaten. Zur Veranschaulichung: Der monatliche gesetzliche Mindestlohn in Bangladesch liegt bei umgerechnet € 15,77 (variierend nach Branche), in Pakistan bei € 87,47 und in Sierra Leone bei € 38,31 (Stand 2022).*93 Ein Vergleich mit den monatlichen Mindestlöhnen in Europa – in Bulgarien lag er im Jahr 2022 bei € 332,– im Monat* – verlangt freilich die Berücksichtigung der Kaufkraftparität.

Sollte die Republik Österreich sich auf globaler Ebene ganz iSd SDG politisch für eine weltweit angemessene Arbeitsentlohnung einsetzen, kann sie sich als Vertragspartei des IPwskR grundsätzlich damit begnügen, auf VN-Ebene die Beachtung und Umsetzung des Art 7 IPwskR von denjenigen Staaten zu fordern, die durch existenzgefährdende Niedriglöhne auffallen. Viele Staaten des globalen Südens können den Industriestaaten jedoch vorhalten, dass die Profiteure der geringen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen die transnational agierenden Unternehmen des globalen Nordens sind.

3.1.
Völkerrechtliche Verpflichtungen transnationaler Unternehmen

International sorgt die Frage, wer die Verantwortung für Niedriglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen trägt, seit langem für Verstimmungen zwischen den Industriestaaten und den Ländern des globalen Südens: Während Erstere auf die Verantwortung der Produktionsländer verweisen, entsprechendes Arbeitsrecht zu erlassen und durchzusetzen, sehen sich viele Länder des globalen Südens dem wirtschaftlichen Druck westlicher Unternehmen ausgesetzt und fordern, diese völkerrechtlich unmittelbar in die Pflicht zu nehmen.* 2014 wurde deshalb auf VN-Ebene vom Menschenrechtsrat eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe eingerichtet, die Intergovernmental Working Group on Transnational Corporations and other Business Enterprises with Respect to Human Rights.* Erklärtes Ziel ist die Schaffung eines völkerrechtlich verbindlichen Vertrags, allerdings herrschte seit Anbeginn große Uneinigkeit über dessen genauen Inhalt. Ursprünglich hofften einige Länder des globalen Südens, Unternehmen direkt durch den neuen Vertrag zur Einhaltung der sozialen Menschenrechte und internationalen Arbeitsrechtsstandards zu verpflichten.* Zudem sollte der neue Vertrag ursprünglich nur für transnationale Unternehmen verbindlich sein, die ihren Sitz regelmäßig im globalen Norden haben, nicht aber für die lokale Wirtschaft. Damit sahen die Industriestaaten des globalen Nordens eine rote Linie überschritten. Nicht nur die unmittelbare unternehmerische Pflichtenposition, sondern auch die Begrenzung auf transnationale Unternehmen war damit in der zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe schnell vom Tisch.*

Im Juli 2023 publizierte die zwischenstaatliche Arbeitsgruppe den jüngsten Text, an dem nach anfänglicher Zurückhaltung auch die Industriestaaten aktiv mitgearbeitet hatten.* Der jetzt anvisierte Vertragsinhalt konzentriert sich auf zwei Punkte: Zum einen statuiert er die Pflicht der künftigen Vertragsstaaten, durch nationale Gesetzgebung und deren effektive Durchsetzung die Verletzung internationaler Menschenrechte und arbeitsrechtlichen IAO-Standards durch Unternehmen zu verhindern.

Zum anderen soll eine komplementäre Pflicht der künftigen Vertragsstaaten normiert werden, die rechtliche Haftung der Unternehmen innerhalb ihres Hoheitsgebiets sicherzustellen. Diese Haftung muss dabei nicht notwendigerweise zivilrechtlich sein, jedoch soll den Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen jedenfalls ein effektiver Rechtsweg zur Verfügung stehen.

3.2.
Unilaterale Sicherstellung sozialer Standards: das deutsche Lieferkettengesetz

Einer der Gründe, warum der globale Norden seine anfängliche Ablehnung gegenüber dem geplanten völkerrechtlichen Vertrag aufgegeben hat, war der wachsende Wille einzelner Industriestaaten und der EU, ihre global tätigen Unternehmen gesetzlich zur Beachtung der Menschenrechte in ihrer gesamten Lieferkette zu verpflichten. Den Anfang machte Frankreich mit dem Loi de Vigilance aus dem Jahr 2017.* In Deutschland trat das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (LkSG) am 1.1.2023 in Kraft.*

3.2.1.
Lieferketten und soziale Nachhaltigkeit

Aus der Perspektive der Wirtschaft des globalen Nordens wird oft gegen nationale Lieferkettengesetze vorgebracht, dass sie den eigenen Wirtschaftsstandort und damit Arbeitsplätze gefährden und deshalb nicht zur sozialen Nachhaltigkeit der Arbeit in Österreich oder in Deutschland beitragen. In der FAZ vom 5.7.2021 war zu lesen, dass jedes 94 vierte deutsche Unternehmen aufgrund des damals noch in der Planung begriffenen LkSG davon ausgeht, dass sich die eigene Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern wird.* Der französische Gesetzgeber hat interessanterweise anders argumentiert, als er sein Loi de Vigilance auf den Weg brachte: Das Lieferkettengesetz mache französische Unternehmen stärker im globalen Wettbewerb, weil es dazu beitrage, dass Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen in der Lieferkette keine Wettbewerbsvorteile mehr seien.* Diese Argumentation setzt freilich voraus, dass alle Industriestaaten, oder zumindest die EU als Wirtschaftsraum, eine ähnliche Lieferkettenpolitik verfolgen, weshalb viele EU-Mitgliedstaaten – auch Österreich – auf das Inkrafttreten der EU-Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht warten.* Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Lieferkettengesetzen sind nicht nur im globalen Norden spürbar, sie können auch zu Lasten der wirtschaftlichen Entwicklung und der Armutsbekämpfung im globalen Süden gehen. So haben 2022 in einer Umfrage 12 % der teilnehmenden deutschen Unternehmen angegeben, sie wollten sich als Konsequenz des LkSG aus dem globalen Süden zurückziehen.* Wenn dem tatsächlich so ist, bestätigt sich eine große Sorge des globalen Südens: Unabhängig von den dort tatsächlichen anzutreffenden Menschenrechts- und Arbeitsbedingungen lohnt sich für viele deutsche Unternehmen die globale Lieferkette nicht mehr, mit der Folge, dass Arbeitsplätze im globalen Süden verloren gehen. Hinzu kommt, dass die Unternehmen des globalen Südens nur wenig bis gar keine Informationen dazu haben, was genau nach den europäischen Lieferkettengesetzen von ihnen verlangt wird, ganz zu schweigen von oft fehlenden finanziellen Ressourcen, alle dort vorgesehenen Standards auch ad hoc umzusetzen.

3.2.2.
. Das deutsche LkSG und das Recht auf angemessenen Lohn

Ab 1.1.2024 gilt das deutsche LkSG für Unternehmen, die mehr als 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Inland beschäftigen, dh rund 4.800 Unternehmen (§ 1 Abs 1 LkSG). Das LkSG dient dazu, global anerkannten Standards des Umweltrechts, der Menschenrechte und des Arbeitsrechts innerhalb der sogenannten Lieferkette zur Geltung zu verhelfen. Die Lieferkette umfasst dabei den eigenen inländischen oder ausländischen Geschäftsbetrieb sowie die unmittelbaren und mittelbaren Zulieferer (§ 2 Abs 5-8 LkSG). Im Gegensatz zum französischen Loi de Vigilance ist das LkSG bezüglich der relevanten internationalen Standards sehr konkret. Im Annex des LkSG werden 14 universelle Übereinkünfte angeführt, darunter auch der IPwskR mit seinem Art 7 zur gerechten und diskriminierungsfreien Entlohnung und das IAO-Übereinkommen Nr 98 über das Recht zu Kollektivverhandlungen. Dagegen wird kein Bezug auf das IAO-Übereinkommen Nr 131 über die Festsetzung von Mindestlöhnen genommen, weil dieses nur für wenige IAO-Mitglieder verbindlich ist.

Da die genannten völkerrechtlichen Verträge nur Staaten direkt verpflichten, nicht aber Unternehmen, formt das LkSG diese internationalen Normen in unternehmerische Sorgfaltspflichten um, deren verbindlicher Charakter sich allein aus dem nationalen Gesetz ergibt. Diese Umformung erfolgt durch § 2 LkSG, der in Abs 2 aufzeigt, was ein menschenrechtliches Risiko ist, auf das das Unternehmen im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht reagieren muss. Ein menschenrechtliches Risiko ist ein Zustand, bei dem aufgrund tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen ein menschenrechtliches Verbot droht. Ein solches menschenrechtliches Verbot ist nach § 2 Abs 2 Nr 8 LkSG das Verbot der Vorenthaltung eines angemessenen Lohns. § 2 Abs 2 Nr 8 konkretisiert auch, was das LkSG unter einem „angemessenen Lohn“ versteht: Der mindestens nach dem Recht des Beschäftigungsortes festgelegte Mindestlohn, wobei § 2 Abs 2 Nr 8 durch den Begriff „angemessen“ nicht ausschließt, dass die Sorgfaltspflicht auf eine höhere Entlohnung als den gesetzlichen Mindestlohn gerichtet sein kann.

Der Verweis auf beides, das Recht des Beschäftigungsortes und die internationalen Standards, wird leicht zu einem Problem für Unternehmen, die ihre Sorgfaltspflicht nachvollziehen wollen: Global betrachtet finden sich in den nationalen Arbeitsgesetzen vieler Staaten Vorschriften, die einen hohen Standard versprechen, diesen aber nicht durchsetzen; andere Beschäftigungsorte haben keine adäquaten Arbeitsgesetze bzw gesetzliche Mindestlohnregelungen. Selbst die Europäische Kommission stellte 2018 fest, dass der gesetzliche Mindestlohn in neun EU-Mitgliedstaaten nicht ausreichend Einkommen bietet, um Mindestlohnempfänger über die Armutsgefährdungsschwelle zu heben.* Unternehmen müssen sich also fragen, was zu tun ist, wenn das Recht des Beschäftigungsortes keine verlässliche Auskunft darüber gibt, was für einen bestimmten Sektor ein angemessener Lohn iSd Art 7 IPwskR ist. Der IPwskR-Ausschuss verweist hierzu auf die Notwendigkeit, mit dem Lohn ein menschenwürdiges Leben für sich und seine Familie finanzieren zu können (engl. decent living), wobei das menschenwürdige Leben den Genuss aller Rechte des IPwskR umfasst (Gesund- 95 heitsvorsorge, Bildung, Wohnung und andere Elemente eines adäquaten Lebensstandards).* Damit nähert sich der IPwskR der sogenannten Anker- Methode an, die sowohl von der IAO also auch der Global Living Wage-Koalition genutzt wird, um einen angemessenen Lohn zu schätzen.* Nach der Anker-Methode, die für Unternehmen leicht zu erschließen ist, sind die örtlichen Wohnkosten, die Kosten der Gesundheitsvorsorge, Bildungskosten, Transportmittel sowie Lebenshaltungskosten bei der Bemessung eines angemessenen Lohns zu berücksichtigen.*

§ 3 Abs 1 LkSG verpflichtet Unternehmen dazu, in ihrer gesamten Lieferkette die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in „angemessener Weise“ zu beachten, um das Risiko eines unangemessenen Lohns in der Lieferkette zu minimieren und Niedriglöhne zu verhindern. Das sorgfaltspflichtige Unternehmen schuldet aber keinen Erfolg, weshalb ein sorgfältiges Unternehmen das LkSG nicht verletzt, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass innerhalb der Lieferkette Niedriglöhne gezahlt werden. Die unternehmerische Sorgfalt wird durch das LkSG individuell bestimmt, dh abhängig vom Geschäftsmodell des Unternehmens, seiner Branche und dem Ort der Tätigkeit. Was genau eine „angemessene Weise“ der Sorgfaltspflichtbeachtung ist, hängt nach § 3 Abs 2 LkSG von der Einflussmöglichkeit des Unternehmens auf die Zustände innerhalb der Lieferkette ab. Die Sorgfaltspflichten für den eigenen Geschäftsbereich und für die unmittelbaren Zulieferer sind detailliert geregelt (§§ 4-8 LkSG): Das Unternehmen muss ein wirksames Risikomanagement haben (vor allem eine zuständige Person), eine Beschwerdestelle samt Verfahren einrichten, eine Risikoanalyse durchführen (einmal im Jahr oder anlassbezogen), eine unternehmenseigene Menschenrechtsstrategie verabschieden, vertragliche Zusicherungen erwirken und bei Verletzungen im eigenen Geschäftsbereich den Verstoß beenden (§ 7 Abs 1 LkSG). Bei unmittelbaren Zulieferern reicht es hingegen, auf diese einzuwirken, ohne dass ein Verstoß gegen die Pflicht, angemessenen Lohn zu zahlen, notwendigerweise zum Ende der Geschäftsbeziehungen führen muss (§ 7 Abs 2 und 3 LkSG). Bei mittelbaren Zulieferern ist das LkSG noch großzügiger: Die Sorgfaltspflicht des Unternehmens hängt davon an, ob es über die dortigen Niedriglöhne durch das unternehmerische Beschwerdeverfahren Kenntnis erlangt (§ 9 LkSG).

Verletzt ein Unternehmen seine Sorgfaltspflicht, führt dies nicht zu seiner zivilrechtlichen Haftung nach dem LkSG gegenüber den Geschädigten (§ 3 Abs 3 LkSG); §§ 23 und 24 LkSG sehen lediglich ein Zwangsgeld bzw Bußgeld vor.

4.
Schlussfolgerung

Soziale Nachhaltigkeit in der Welt der Arbeit ist ein vielbeachtetes internationales Thema, das im Kontext eines breiteren Nachhaltigkeitsdiskurses steht. Die menschenrechtlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung sozialer Nachhaltigkeit in Österreich und weltweit gibt es schon seit langem. Der IPkswR ist hier der einschlägige völkerrechtliche Vertrag, aber auch die vielen IAO-Konventionen, die den Menschen und nicht Profit in das Zentrum der Welt der Arbeit stellen. Gerade im Bereich des angemessenen Lohns, dem Anschauungsbeispiel dieses Beitrags, ist der Verpflichtungsgrad für Industriestaaten global höher als regionaleuropäisch, vor allem mit Blick auf das à la carte-System der rev. ESC. Die größte Herausforderung für soziale Nachhaltigkeit in der Welt der Arbeit liegt allerdings weniger in Österreich selbst, als in der globalisierten unternehmerischen Tätigkeit, die schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne in Entwicklungsländern nutzen. Dass transnational operierende Unternehmen mit Sitz im globalen Norden nicht unmittelbar aus dem Völkerrecht auf die Beachtung sozialer Menschenrechte und IAO-Arbeitsstandards verpflichtet werden, haben die Industriestaaten erfolgreich in der VN verhindert. Das von ihnen präferierte Model der weltweiten Sicherstellung von Menschenrechten und Arbeitsstandards ist das der nationalen Lieferkettengesetze. Allerdings sind die Auswirkungen dieser Gesetze auf die Arbeitsplatzsicherheit, und damit deren soziale Nachhaltigkeit, noch unklar. Mit Blick auf das deutsche LkSG lässt sich jedenfalls feststellen, dass die Anforderungen, die das Gesetz an in Deutschland tätige Unternehmen stellt, hoch sind, und seine Komplexität leicht dazu führen kann, dass sich Unternehmen ihre Lieferkette wieder regional-europäisch gestalten werden. Das geht in erster Linie zu Lasten der Länder im globalen Süden, in denen die soziale Nachhaltigkeit der Welt der Arbeit besonders fragil ist.96