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Keine Wiedereinsetzung, wenn Fristversäumnis auf ein fehlendes Kontrollsystem zurückzuführen ist

JÖRGTRETTLER

Dem Kl wurde am 5.8.2022 das Berufungsurteil des OLG Linz als Arbeits- und Sozialgericht zugestellt. Dagegen brachte er am 13.9.2022 eine außerordentliche Revision ein. Diese wurde vom LG Wels als Arbeits- und Sozialgericht mit Beschluss vom 21.9.2022 als verspätet zurückgewiesen. Am 6.10.2022 beantragte der Kl die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist. Das Erstgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag ab.

In der Kanzlei des Klagevertreters werden Revisionsfristen von den Kanzleimitarbeiter:innen üblicherweise mit vier Wochen eingetragen und der Klagevertreter prüft, ob die Frist im Einzelfall länger ist. Im betreffenden Zeitraum waren der Klagevertreter und der Rechtsanwaltsanwärter (idF. RAA), der sämtliche Arbeits- und Sozialrechtssachen in der Kanzlei bearbeitet, auf Urlaub. Es wurde daher ein ansonsten nicht mit Arbeits- und Sozialrechtssachen betrauter RAA mit der Fristberechnung und Ausarbeitung der außerordentlichen Revision beauftragt. Obwohl ihm der Klagevertreter mitgeteilt hatte, auch im Urlaub erreichbar zu sein, ließ „der von Arbeit überlastete Rechtsanwaltsanwärter“ unter Außerachtlassung des § 39 Abs 4 ASGG selbständig und ohne Rücksprache mit dem Klagevertreter eine iSd § 222 ZPO verlängerte Frist eintragen.

Das Rekursgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag mit der Begründung ab, dass dem Rechtsvertreter des Kl grobes Verschulden vorzuwerfen sei, da er seinen Urlaub im Wissen angetreten hätte, dass die Revisionsfrist auch bei richtiger Berechnung während seiner Abwesenheit ablaufen werde, und er sich dennoch auf den allein in der Kanzlei verbleibenden, nicht substitutionsberechtigten RAA verlassen habe. Er hat damit nach Ansicht des Rekursgerichts nicht nur einen Verstoß gegen § 15 Abs 1 RAO bewusst in Kauf genommen, sondern überdies noch keinerlei Vorkehrungen in Hinblick auf seinen Urlaub getroffen oder Kontrollmechanismen durch ihn selbst vorgesehen.

Der gegen die Entscheidung des Rekursgerichts eingebrachte außerordentliche Revisionsrekurs wurde mit dem gegenständlichen Beschluss des OGH man403gels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Zur Begründung verweis der OGH auf die in diesem Zusammenhang stehende stRsp. Ein grobes Verschulden liegt in der Regel aber vor, wenn der unterlaufene Fehler auf einer mangelhaften Organisation beruht, wobei an berufsmäßige Parteienvertreter der Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB anzulegen ist. Demgemäß hindert das einmalige Versehen eines ansonsten bewährten und verlässlichen Mitarbeiters die Wiedereinsetzung dann, wenn der Rechtsanwalt die von ihm zu erwartenden Sorgfalts-, Organisations- und Kontrollpflichten verletzt hat.

Nach Ansicht des OGH entspricht die Beurteilung des Rekursgerichts, dass dem Rechtsvertreter des Kl grobes Verschulden vorzuwerfen sei, der dargestellten Rsp.

Darüber hinaus ist nach Ansicht des OGH eine aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts auch deshalb nicht zu erkennen, weil der Klagevertreter iSd ihn nach § 9 Abs 1, § 14 RAO, § 40 Abs 1 und Abs 2 RL-BA 2015 treffenden Pflichten dafür Sorge zu tragen hatte, dass auch während seiner urlaubsbedingten Abwesenheit alle Fristen beachtet und fristgebundene Angelegenheiten (gegebenenfalls durch Substitution nach § 14 Satz 1 RAO) einer rechtzeitigen Erledigung zugeführt werden können.

Der Kl hat nach Ansicht des OGH weder behauptet, dass es ihm – rechtlich oder faktisch – nicht möglich gewesen sei, für eine Stellvertretung zu sorgen oder anderweitige Vorkehrungen für seine urlaubsbedingte Abwesenheit zu treffen noch sei sein Standpunkt richtig, dass es ausreichend sei, dass der Klagevertreter für etwaige (Rück-)Fragen erreichbar gewesen wäre. Dies widerspricht nach dem OGH dem Inhalt und Wesen von Kontroll- und Aufsichtspflichten, die sich nicht auf passives Verhalten beschränken dürften, sondern eine am Grad der Ausbildung, Einschulung und Verlässlichkeit der Mitarbeiter orientierte aktive Beaufsichtigung bzw Überprüfung ihrer Tätigkeit erfordern. Für einen Irrtum sei es nämlich charakteristisch, von der Richtigkeit des eigenen Handelns auszugehen, sodass für Nachfragen bei Vorgesetzten kein Anlass besteht. Den Mitarbeitern bloß diese Möglichkeit einzuräumen, ist kein wirksames Kontrollsystem.

Der Einwand, der Kl habe nicht damit rechnen müssen, dass der RAA die richtig vorgemerkte Rechtsmittelfrist eigenmächtig verlängern werde, begründet nach Ansicht des OGH die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht. Der Kl übersehe bei seiner Argumentation, dass der Klagevertreter durch die Übertragung der (bzw aller) dringenden Angelegenheiten an einen damit schon quantitativ überlasteten und in Arbeits- und Sozialrechtssachen zudem unerfahrenen RAA gerade jenes Umfeld geschaffen hat, das den hier unterlaufenen Fehler zumindest begünstigte. Unter diesen Voraussetzungen hätte es daher umso mehr eines Kontrollsystems bedurft, das geeignet gewesen wäre, Fristversäumnisse im Fall von Fehlern eines Mitarbeiters so weit als möglich auszuschließen. Angesichts dessen sei aufgrund des Fehlens jeglicher Kontrollmechanismen nicht mehr von einem bloß minderen Grad des Versehens auszugehen.404