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Zum Unfallversicherungsschutz bei Wahl einer anderen als der dem Arbeitsort nächstgelegenen Haltestelle

ELISABETHBISCHOFREITER

In der UV geschützt ist nicht nur die streckenmäßig, sondern auch die zeitlich kürzeste Verbindung. Wählt der*die AN einen streckenmäßig längeren Heimweg, der aber in zeitlicher Hinsicht (gleichermaßen) die kürzeste Verbindung zur Wohnung darstellt, und ist damit auch keine wesentliche Gefahrenerhöhung verbunden, die allenfalls für ein Verlassen des direkten Arbeitsweges sprechen könnte, so liegt ein geschützter Wegunfall vor.

Dient der Weg zur oder von der Arbeitsstätte sowohl der versicherten Tätigkeit als auch eigenwirtschaftlichen Interessen, dann hängt der Versicherungsschutz während des Weges davon ab, ob sich der Weg eindeutig in den verschiedenen Zwecken dienende Abschnitte teilen lässt. Ist eine eindeutige Aufteilung des Weges in betrieblichen Zweck und eigenwirtschaftliche Interessen nicht möglich, besteht der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit auf dem gesamten Weg, der zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auch der versicherten Tätigkeit zu dienen bestimmt war.

Sachverhalt

Die Kl war als Kassiererin bei der Fleckalmbahn Talstation beschäftigt. Sie bewohnte eine Dienstwohnung, die sich in Kitzbühel oberhalb der Hahnenkamm-Talstation befindet. Zur Bewältigung des Arbeitsweges benützte sie die Postbuslinie 4004. Für den Hinweg fuhr sie von der Haltestelle Hahnenkamm in Fahrtrichtung Aschau, wo sich direkt an ihrem Arbeitsort die Haltestelle Fleckalmbahn Talstation befindet. An Tagen, an denen sie ganztags arbeitete, benützte sie die gleiche Strecke.

In Fahrtrichtung Kitzbühel (Heimweg) befindet sich vor der Haltestelle Fleckalmbahn Talstation die Haltestelle Kirchberg in Tirol Ost. Die beiden Haltestellen liegen knapp 1 km (Geh- und Fahrstrecke) voneinander entfernt; die Gehzeit beträgt ca zehn Minuten, die Fahrzeit des Postbusses ca zwei Minuten. An den Tagen, an denen die Kl ihre Arbeitszeit um 13:30 Uhr beendete, ging sie gewöhnlich – in die entgegengesetzte Richtung – zur Haltestelle Kirchberg in Tirol Ost. Der Gehweg zu der davor liegenden Bushaltestelle bot ihr die Gelegenheit, sich die Wartezeit zu verkürzen und sich nach ihrer sitzenden Arbeitstätigkeit die Beine zu vertreten. Gleichzeitig hatte sie damit den Vorteil, eine Haltestelle vor den Schifahrern in den Postbus einzusteigen und so leichter einen Sitzplatz zu erlangen. Die Möglichkeit des Beinevertretens besteht auch im Bereich der Talstation Fleckalmbahn; es existiert auch ein Aufenthaltsraum für Mitarbeiter, in dem die Kl die Wartezeit verbringen konnte.

Am Unfallstag ging die Kl zur Haltestelle Kirchberg in Tirol Ost, um dort in den Postbus einzusteigen und die Fahrt nach Hause anzutreten. Da noch ausreichend Zeit blieb, nutzte die Kl die Gelegenheit, um in einem in unmittelbarer Nähe zur Haltestelle Kirchberg befindlichen Lebensmittelgeschäft einzukaufen; danach begab sie sich zur Bushaltestelle. Nach etwa zehn Minuten Wartezeit wurde die Kl plötzlich von einem Klein-Lkw erfasst und zwischen Motorhaube/Stoßstange und Sitzbank der Bushaltestelle im Bein-Hüft-Bauchbereich eingeklemmt, wobei sie schwerste Verletzungen erlitt.

Verfahren und Entscheidung

Mit Bescheid vom 6.7.2022 erkannte die bekl Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau den Unfall nicht als Arbeitsunfall an.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Grundsätzlich sei nur der direkte und kürzeste Weg geschützt. Die Verlängerung der Wegstrecke habe eigen378wirtschaftlichen Interessen gedient, sodass kein geschützter Wegunfall vorliege. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge und führte im Wesentlichen aus, dass ein zusätzlicher Fußmarsch von rund einem Kilometer das von der UV noch gedeckte Maß an Bewegungsfreiheit überschreite und nicht mehr von einem unbedeutenden Abweichen vom kürzesten Weg gesprochen werden könne.

Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Kl wurde vom OGH als zulässig und auch berechtigt angesehen.

Originalzitate aus der Entscheidung

[…]

2.1. Grundsätzlich ist nur der direkte Weg zur oder von der Arbeitsstätte nach § 175 Abs 2 Z 1 ASVG ­versichert. Das wird in der Regel die streckenmäßig oder zeitlich kürzeste Verbindung zwischen dem Ausgangspunkt und dem Zielpunkt des Arbeitswegs sein, wobei der Versicherte zwischen diesbezüglich im Wesentlichen gleichen Verbindungen frei wählen kann […]. In der Unfallversicherung geschützt ist damit nicht nur die streckenmäßig, sondern auch die zeitlich kürzeste Verbindung (vgl 10 ObS 162/13s […]).

2.2. Die Klägerin wählte zwar einen streckenmäßig längeren Heimweg, der aber in zeitlicher Hinsicht (gleichermaßen) die kürzeste Verbindung zur Dienstwohnung darstellte. Der Unfall ereignete sich somit immer noch auf einem zur Verfügung stehenden direkten Weg. Die Klägerin konnte zwischen (hier zeitlich) gleichwertigen Verbindungen vielmehr wählen, solange der Zusammenhang mit der geschützten ­Tätigkeit (dem Weg als Arbeitsweg) nicht aufgehoben wird. Da die getroffene Wahl mit der versicherten Intention des Wegs (hier: die Rückfahrt von der Dienstverrichtung zur Dienstwohnung) weiterhin in Einklang stand und ein Umweg somit nicht vorlag, ist unerheblich, ob der konkret gewählte Weg allein oder überwiegend im eigenwirtschaftlichen Interesse gewählt wurde. Mit der Wahl der streckenmäßig längeren, aber zeitlich (gleichermaßen) kürzesten Verbindung war auch keine wesentliche Gefahrenerhöhung verbunden, die allenfalls für ein Verlassen des direkten Arbeitswegs sprechen könnte (vgl 10 ObS 253/97x […]).

[…]

3.1. Die Wartezeit auf ein öffentliches Verkehrsmittel ist grundsätzlich vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfasst, sofern der Versicherte den Wartebereich nicht verlässt und sich in einen Bereich begibt, der mit dem Arbeitsweg nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden kann […]. […]

3.2. Selbst wenn sich die Klägerin von diesem Wartebereich entfernt hätte, um einen Teil des Wegs zu Fuß zurückzulegen, wäre der Zusammenhang mit dem Arbeitsweg weiter gegeben gewesen. Die Wahl des Verkehrsmittels bzw die Art der Fortbewegung steht dem Versicherten auf Arbeitswegen grundsätzlich frei ([…]; 10 ObS 155/89 […]). […] Selbst wenn der gesamte Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zurückgelegt werden kann, besteht daher Versicherungsschutz auch bei Unfällen, die darauf zurückzuführen sind, dass der Versicherte einen Teil des Wegs zu Fuß zurücklegte (10 ObS 5/05s). Gleiches gilt auch für die Entscheidung, einen Teil des Arbeitswegs zu Fuß zurückzulegen, anstatt im Wartebereich der am Arbeitsort befindlichen Haltestelle auf den(-selben) Bus zu warten, sofern die streckenmäßig oder zeitlich kürzeste Verbindung zwischen Ausgangs- und Endpunkt des Wegs beibehalten wird.

[…]

4.1. Ein innerer Zusammenhang besteht nicht nur dann, wenn die versicherte Beschäftigung der einzige Grund des Wegs ist. […] Dient der Weg zur oder von der Arbeitsstätte sowohl der versicherten Tätigkeit als auch eigenwirtschaftlichen Interessen, dann hängt der Versicherungsschutz während des Wegs davon ab, ob sich der Weg eindeutig in den verschiedenen Zwecken dienende Abschnitte teilen lässt. […] Ist eine eindeutige Aufteilung des Wegs nicht möglich, dann besteht der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit auf dem gesamten Weg, der zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auch der versicherten Tätigkeit zu dienen bestimmt war […].

4.2. Die Motive der Klägerin für die Wahl des Fußwegs zur weiter entfernten Haltestelle beziehen sich auf die (für sie angenehmere) Zurücklegung des Arbeitswegs und dienten damit sowohl der versicherten Tätigkeit (Rückweg vom Arbeitsort) als auch eigenwirtschaftlichen Interessen (Verkürzung der Wartezeit, Beine vertreten, Erlangung eines Sitzplatzes). Der Abschnitt, auf dem sich der Unfall schließlich ereignete, lässt sich damit nicht eindeutig einer nicht versicherten Tätigkeit zuordnen und war weiterhin wesentlich auch der versicherten Tätigkeit (dem Rückweg vom Arbeitsort) zu dienen bestimmt. Auf diesem Abschnitt ist der innere Zusammenhang mit dem Arbeitsweg also zur Gänze zu bejahen.

Erläuterung

Bereits mehrfach hat der OGH ausgeführt, dass grundsätzlich nur der direkte Weg zu oder von der Arbeitsstätte nach § 175 Abs 2 Z 1 ASVG versichert ist und klargestellt, dass dies in der Regel die streckenmäßig oder zeitlich kürzeste Verbindung sein wird (RS0084838).

Gegenständlich hat die Kl zwar einen um rund 1 km längeren Weg eingeschlagen, befand sich allerdings – da sie denselben Bus bestieg, wie bei Wahl des streckenmäßig kürzeren Weges – zeitlich auf einem gleichwertigen Weg. Die Frage, ob der streckenmäßig kürzere Weg überhaupt nicht (zB wegen einer Verkehrssperre) oder nur unter vor allem für die Verkehrssicherheit wesentlich ungünstigeren Bedingungen (zB Witterungsverhältnisse, Straßenverhältnisse und Verkehrsverhältnisse) benützt werden konnte, stellte sich somit nicht. Der OGH hat in 379dem Umweg auch keine wesentliche Gefahrenerhöhung erblickt und verwies in diesem Zusammenhang – ohne nähere Ausführung – auf ein Urteil vom 9.9.1997, bei dem das unerlaubte Überschreiten der Bahngleise als eine wesentliche Gefahrenerhöhung eingestuft wurde (10 ObS 253/97x).

Da die Kl den Weg nicht zur Durchführung einer rein eigenwirtschaftlichen Tätigkeit unterbrochen hat (zB Abweichung vom Weg zwecks Einkaufes im Supermarkt), sondern der Weg untrennbar sowohl eigenwirtschaftlichen Interessen (Wartezeit verkürzen, Beine vertreten und Sitzplatz im Bus erlangen) als auch der versicherten Tätigkeit (Rückweg von der Arbeit) diente, handelt es sich um einen „gemischten Weg“. Zur Herstellung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit ist diesfalls ausreichend, dass der Weg auch wesentlich der versicherten Tätigkeit zu dienen bestimmt war. Das hat der OGH im vorliegenden Fall bejaht.