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Berechnung der Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld

KRISZTINAJUHASZ
Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004

Art 68 Abs 2 VO 883/2004 ist eine Anordnung dahin, dass bei der Berechnung der Ausgleichszahlung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats nur Leistungen zu berücksichtigen sind, die im selben Zeitraum bezogen werden, nicht zu entnehmen. Art 68 Abs 2 VO 883/2004 schließt es somit nicht aus, auch dann einen Unterschiedsbetrag auf Basis der jeweiligen Gesamtbeträge zu ermitteln, wenn gleichartige Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten, die im selben Anspruchszeitraum beansprucht werden könnten, in sich gar nicht oder sich nur zum Teil überschneidenden Zeiträumen bezogen werden.322

SACHVERHALT

Die Kl lebt mit ihrem Ehegatten und den gemeinsamen Söhnen M, geboren 2018, und D, geboren 2020, in der Tschechischen Republik. Vor der Geburt von M war die Kl in Österreich unselbständig beschäftigt. Sie befand sich bis 2.4.2020 in Karenz. Am 13.3.2020 vereinbarte die Kl mit ihrem DG Elternteilzeit, die sie nie antrat, da sie sich zu diesem Zeitpunkt wegen der Schwangerschaft mit D bereits in Mutterschutz befand. Der Ehegatte der Kl ist in Tschechien erwerbstätig.

Die Kl beantragte für M das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 730 Tage ab Geburt des Kindes für die höchstmögliche Bezugsdauer (2.4.2018 bis 31.3.2020). Sie erhielt das Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung – nach Ende des Wochengeldbezugs – vom 18.6.2018 bis 29.2.2020 von insgesamt € 2.456,90 (622 Tage zu je € 3,95). Bei der Berechnung der Ausgleichszahlung ging die bekl Österreichische Gesundheitskasse von einem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld von insgesamt € 11.061,82 (653 Tage zu je € 16,94) sowie davon aus, dass die Kl in Tschechien Anspruch auf Elterngeld („rodičovský příspěvek“) von € 8.484,05 hat. Durch eine Mitteilung der tschechischen Behörden erfuhr die Bekl, dass die Kl in der Zeit von 1.7.2018 bis 30.4.2020 tatsächlich € 9.486,71 an (tschechischem) Elterngeld bezogen hatte. Aufgrund der darauf aufbauenden Neuberechnung der Ausgleichszahlung behielt die Bekl den für März 2020 ermittelten Betrag von € 74,71 ein.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid sprach die Bekl aus, dass der Anspruch der Kl auf Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum von 18.6.2018 bis 31.3.2020 gem § 6 Abs 3 KBGG in Höhe von € 9.486,71 ruht und verpflichtete die Kl zum Rückersatz eines zu Unrecht bezogenen Betrags von € 957,88. Da von diesem bereits € 74,71 einbehalten worden seien, hafte ein Betrag von € 883,17 aus.

Mit ihrer Klage begehrte die Kl die Feststellung, dass sie nicht zum Rückersatz verpflichtet, die Bekl dagegen schuldig sei, ihr die zu Unrecht einbehaltenen € 74,71 zurückzuerstatten. Die Bekl hielt dem entgegen, dass das tschechische Elterngeld eine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung iSd § 6 Abs 3 KBGG sei, daher führe dieses im bezogenen Ausmaß zum Ruhen des Anspruchs. Bei Berechnung der zu leistenden Ausgleichszahlung sei eine Gesamtbetrachtung anzustellen.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision zu, weil der OGH zur Frage der zeitlichen Kongruenz von Familienleistungen noch nicht Stellung genommen hatte.

Die Revision der Kl ist zulässig, aber nicht berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„2. […] Sie [Anm: die Klägerin] verweist […] darauf, dass sie zwischen 18. und 30. Juni 2018 nur Kinderbetreuungsgeld, aber kein Elterngeld und im April 2020 nur Elterngeld und kein Kinderbetreuungsgeld bezogen habe. Sie vertritt den Standpunkt, für diese Zeiträume habe mangels zeitlicher Kongruenz keine Anrechnung iSd Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 bzw § 6 Abs 3 KBGG zu erfolgen. […]

Dem ist nicht zu folgen.

3.1. Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, legt Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 Prioritätsregeln in Form einer Kaskade fest: Die Rangfolge bestimmt sich nach dem Grund, aus dem die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Anwendung kommen (10 ObS 148/14h SSV-NF 29/59 [ErwGr 3.3.]; 10 ObS 120/19y SSV-NF 33/70 [ErwGr 3.2.] ua). Darauf aufbauend enthält Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 sodann Antikumulierungsvorschriften für den Fall, dass (gleichartige) Ansprüche zusammentreffen: Der nach Abs 1 prioritär zuständige Mitgliedstaat hat die Leistung zu erbringen, wohingegen jene des nachrangig zuständigen Staats bis zur Höhe der prioritären Leistung auszusetzen ist. Ist die Leistung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats höher als die prioritäre Leistung, hat er – wenn sich die prioritäre Zuständigkeit aus einer Beschäftigung ergibt – ergänzend die Differenz (den Unterschiedsbetrag) zu leisten. Damit wird der Familie im Ergebnis die der Höhe nach günstigste Leistung garantiert […].

3.2. […]Spiegel (in Mazal, Die Familie im Sozialrecht, 129 ff) verweist darauf, dass der Umstand, dass nach § 6 Abs 3 KBGG – ungeachtet einer vorläufigen Leistung nach Art 68 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 iVm Art 7 DVO (EG) 987/2009 – der Unterschiedsbetrag grundsätzlich erst am Ende des ausländischen Leistungsbezugs festzustellen ist, auf die Anrechnung des Gesamtbetrags der ausländischen Leistung hinauslaufe. Das hält er zumindest dann für unionsrechtskonform, wenn – wie beim Kinderbetreuungsgeld – ein echtes Wahlrecht dahin besteht, die Leistung während eines kurzen Zeitraums mit höheren oder eines längeren Zeitraums mit niedrigeren periodischen Zahlungen zu beziehen, weil andernfalls die Gefahr einer Optimierung der insgesamt erhaltenen Leistungen drohe. Für den Fall, dass kein Wahlrecht besteht und sich die Anspruchszeiträume nicht decken, verneint er die Möglichkeit der Aufrechnung des Gesamtbezugszeitraums (Spiegel, Familienleistungen, 131). Dem schließt sichFelten (in Spiegel, Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 7) an und verweist darauf, dass Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 nur die Höhe der günstigsten Familienleistung garantiere. […]

3.3. Der Oberste Gerichtshof hatte sich mit unterschiedlich langen Bezugszeiträumen vergleichba323rer Familienleistungen nur einmal zu befassen. Zu 10 ObS 6/10w (SSV-NF 24/9) schloss er sich für den Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 und VO (EWG) 574/72 der dargestellten Ansicht von Spiegel an und führte aus, § 6 Abs 3 KBGG ordne die Anrechnung des Gesamtbetrags der ausländischen Familienleistung an. Da die Antikumulierungsregel des Art 10 Abs 1 lit b Z i VO (EWG) 574/72 gerade unangemessene Vorteile bzw einen Überbezug von Leistungen verhindern solle, widerspreche das zumindest dann nicht dem Unionsrecht, wenn bei beiden Leistungen ein Wahlrecht hinsichtlich der Bezugsdauer bestehe. […]

3.4. Von diesen Grundsätzen abzugehen, besteht im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 kein Anlass […].

So wie zu 10 ObS 6/10w (SSV-NF 24/9) kann auch hier die Bezugsdauer sowohl des Kinderbetreuungsgeldes als auch des Elterngeldes vom Bezieher gewählt werden. […] Wenn § 6 Abs 3 KBGG dem durch Anrechnung des Gesamtbetrags der ausländischen Leistung vorbeugt, verstößt das jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht gegen Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004, weil damit bewirkt wird, dass die höchste Leistung erhalten bleibt, aber kein (teilweiser) Verlust von Ansprüchen, die die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gewähren, eintritt. Eine Benachteiligung aufgrund der Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit […] liegt darin nicht.

3.5. Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 „denselben Zeitraum“ anspricht. Denn Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 regelt in erster Linie die Rangfolge der vor- und nachrangig zuständigen Staaten, was evidentermaßen nur bei aktuellen (vgl Art 59 DVO [EG] 987/2009) Anspruchskonflikten, das heißt dann notwendig ist, wenn zur selben Zeit Leistungen in verschiedenen Staaten zu gewähren sind. Die hier relevanten Antikumulierungsregeln finden sich hingegen ausschließlich in Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Diesem ist eine Anordnung dahin, dass bei der Berechnung des Unterschiedsbetrags (der Ausgleichszahlung) nur Leistungen zu berücksichtigen sind, die im selben Zeitraum bezogen werden, nicht zu entnehmen. Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 schließt es somit nicht aus, auch dann einen Unterschiedsbetrag auf Basis der jeweiligen Gesamtbeträge zu ermitteln, wenn – wie hier – gleichartige Familienleistungen verschiedener Mitgliedstaaten, die im selben Anspruchszeitraum beansprucht werden könnten, in sich gar nicht oder sich nur zum Teil überschneidenden Zeiträumen bezogen werden. […]

4. Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage sind die Vorinstanzen daher zu Recht davon ausgegangen, dass bei Berechnung der Ausgleichszahlung (des Unterschiedsbetrags) das von der Klägerin insgesamt und nicht nur das im zeitlich kongruenten Zeitraum bezogene Elterngeld zu berücksichtigen ist. […]“

ERLÄUTERUNG

Gegenstand des Revisionsverfahrens war die Frage der Berechnung der Ausgleichszahlung nach § 6 Abs 3 KBGG bzw des Unterschiedsbetrags iSd Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004, wenn der Bezugszeitraum der vergleichbaren in- und ausländischen Leistungen unterschiedlich lang ist.

Die Parteien bezweifelten nicht, dass die Kl Grenzgängerin ist und daher der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung für sie unmittelbar eröffnet ist. Unstrittig war auch, dass Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung, sowie, dass Österreich subsidiär leistungszuständig ist. Die Frage der Vergleichbarkeit des tschechischen Elterngeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld war kein Inhalt dieser Entscheidung.

Art 68 VO (EG) 883/2004 enthält die Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von gleichartigen (vergleichbaren) Familienleistungen, wobei § 6 Abs 3 KBGG als Antikumulierungsregel konzipiert wurde. Demnach ruht der Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld bei einer subsidiären Zuständigkeit von Österreich, sofern vorrangig Anspruch auf ausländische Familienleistungen besteht.

Da aber – im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 – gem Art 7 der DVO (EG) 987/2009 einem Leistungsempfänger zeitgerecht ein Gesamtbetrag an Leistungen zu garantieren ist, der gleich dem Betrag der günstigsten, also höchsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (EuGH 18.9.2019, C-32/18, Moser, Rn 42 und 46; OGH 28.5.2019, 10 ObS 42/19b; OGH 13.10.2020, 10 ObS 111/20a), kann es auch dann zu einer Leistungszuständigkeit des nachranging zuständigen Staates in Form eines Differenzbetrages (Ausgleichszahlung) kommen, wenn die Höhe der nachrangigen Leistung (hier: Kinderbetreuungsgeld) die Leistungshöhe des primär zuständigen Staates (hier: Tschechisches Elterngeld) übersteigt.

Der OGH führte aus, dass für die Berechnung der Ausgleichszahlung im subsidiär zuständigen Mitgliedstaat der Gesamtbetrag der ausländischen Leistungen zu berücksichtigen ist, und zwar nicht nur betreffend zeitlich kongruente Zeiträume. Diese Gesamtbetrachtung ist dann als unionsrechtskonform anzusehen, wenn ein echtes Wahlrecht dahingehend besteht, die Leistung während eines kurzen Zeitraums mit höheren oder eines längeren Zeitraums mit niedrigeren periodischen Zahlungen zu beziehen. Für den Fall, dass kein Wahlrecht besteht und sich die Anspruchszeiträume nicht decken, ist die Möglichkeit der Aufrechnung des Gesamtbezugszeitraums zu verneinen. Somit war die Gesamtsumme des bezogenen tschechischen Elterngeldes für die Berechnung des Differenzbetrages zum Kinderbetreuungsgeld zu berücksichtigen. Dass die Wahl der Bezugsdauer zu Lasten des nachrangigen Staates 324ausgeübt werden könnte, um von diesem möglichst lange hohe (Teil-)Leistungen zu beziehen, ist auf nationaler Ebene – etwa durch Berechnung des Unterschiedsbetrags im Nachhinein – zu begegnen.

Im vorliegenden Verfahren blieb allerdings die Frage der Vergleichbarkeit des tschechischen Elterngeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld unbeantwortet, da diese von den Parteien nicht bestritten war. Diese Vorfrage wäre aber für den Ausgang des konkreten Falles entscheidend gewesen. Denn: Existiert im primär zuständigen Staat keine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung, gebührt die Ausgleichszahlung in voller Höhe des Kinderbetreuungsgeldes (Holzmann-Windhofer, Kinderbetreuungsgeld für EG-Wanderarbeitnehmer, SozSi 2008, 16 [27] zur Vorgängerverordnung [EWG] 1408/71). Der OGH hat zur Frage, dass es in bestimmten Fällen somit zu einer Überwälzung der (vollen) Leistungsverpflichtung auf Österreich kommen könnte, bereits ausgeführt, dass der Erfolg der Koordinierung ausschließlich vom Zusammenspiel der zuständigen Behörden abhängt (Wunder in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] 883/2004 Art 76 Rz 26 mwN, vgl OGH 13.10.2020, 10 ObS 111/20a).