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§ 1155 ABGB und Dienstverhinderung im COVID-19-Lockdown

GERT-PETERREISSNER (GRAZ)
  1. Nach wirksamer Beendigung des Arbeitsvertrags ist § 1155 (und auch dessen Abs 3) ABGB nicht mehr anwendbar, weil diese Regelung ein aufrechtes Arbeitsverhältnis voraussetzt.

  2. Hat die AN nach Beendigung ihres Gast-Bühnendienstvertrags die auf dem „Schadenersatzprinzip“ beruhende Kündigungsentschädigung geltend gemacht, soll sie als Kündigungsentschädigung das bekommen, was ihr ohne die Auflösung bis zum fiktiven Ende des Gast-Bühnendienstvertrags zugekommen wäre. Maßgeblich sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt der von der AN behaupteten vorzeitigen Auflösung des Dienstverhältnisses (hier somit zum 11.3.2020). Die Frage, ob der erst danach – mit 15.3.2020 – in Kraft getretene § 1155 Abs 3 ABGB einseitig zwingend oder dispositiv ist, stellt sich im vorliegenden Zusammenhang daher nicht.

  3. Werden „generell“ nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert, kann der im Arbeitsvertrag verwendete Begriff der „höheren Gewalt“ aus Sicht eines redlichen Erklärungsempfängers nicht anders verstanden werden, als dass auch ein Vorstellungsentfall infolge von Elementarereignissen, die die Allgemeinheit betreffen, zum Verlust des Honoraranspruchs führen soll, wie etwa ein Vorstellungsentfall infolge einer Naturkatastrophe oder einer Seuche.

  4. Die Sittenwidrigkeit einer in Abänderung des (gem § 1164 ABGB dispositiven) § 1155 Abs 1 ABGB getroffenen Vereinbarung zu Lasten des AN wurde etwa in Fällen eines schuldhaften Annahmeverzugs des AG, einer grundlosen Freistellung des AN vom Dienst oder der Vereinbarung einer Arbeit auf Abruf bejaht. Ein diesen Situationen vergleichbarer Fall liegt hier nicht vor.

[1] Die Kl bringt vor, bei der beklagten Partei (Bekl) als Schauspielerin (als Musicaldarstellerin in der Produktion*) in einem Gast-Bühnendienstverhältnis nach § 41 Theaterarbeitsgesetz (TAG) beschäftigt gewesen zu sein. Das vom 22.8.2019 bis 19.5.2020 befristete Gast-Bühnendienstverhältnis sei von der Bekl termin- und fristwidrig am 11.3.2020 beendet worden.

[2] Außer Streit steht, dass auf das Arbeitsverhältnis überdies der KollV für den Theatererhalterverband zur Anwendung gelangt und ein Probenhonorar in Höhe von 3.000 € brutto sowie ein Vorstellungshonorar in Höhe von 1.000 € brutto pro Vorstellung vereinbart war.

Der zwischen den Streitteilen abgeschlossene Gastbühnenvertrag lautet auszugsweise:

Der zwischen den Streitteilen abgeschlossene Gastbühnenvertrag lautet auszugsweise:4.3 Bei Absage der Vorstellung durch die [Bekl] wegen Krankheit im Ensemble der Produktion * oder auch bei Vorliegen von höherer Gewalt nach Anreise des Gastes in * besteht nur ein Anspruch auf tatsächlich aufgewendete Kosten durch den Gast (zB Reisekosten).“

[3] Zwischen 26.3.2020 und 19.5.2020 entfielen sechs bereits konkret vereinbarte Vorstellungstermine (und zwar die Vorstellungen vom 26.3.2020, 6.5.2020, 7.5.2020, 8.5.2020, 15.5.2020 und vom 19.5.2020). Diese Vorstellungstermine wurden aufgrund eines im COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl I 2020/12 (COVID-19-MG) begründeten Betretungsverbots wegen der COVID-19-Pandemie abgesagt.

[4] Die Kl begehrt die Zahlung des Vorstellungsentgelts von 6.000 € brutto sA (je 1.000 € für die sechs abgesagten Vorstellungen) (ausdrücklich) als Kündigungsentschädigung. [...]

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren in der Hauptsache [...] statt. [...]

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. [...]

[8] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Kl beantwortete Revision der Bekl, mit der sie die Abweisung der Klage anstrebt.

[9] Die Revision ist zulässig und iSd Abänderungsantrags auch berechtigt.

[10] 1.1 Für den von der Kl abgeschlossenen „Gastvertrag“ iSd § 41 TAG ist charakteristisch, dass im Vergleich zur Gruppe der ständig beschäftigten Ensemblemitglieder, die dem gesamten Sonderarbeitsrecht des TAG unterliegen, jemand, der nicht ständig bei diesem Theaterunternehmen beschäftigt ist, nicht unter den vollen Geltungsbereich des TAG fallen soll. Gem § 41 Abs 2 TAG finden auf Gastverträge die dort genannten Bestimmungen des TAG nicht Anwendung, ua etwa die Entgeltfortzahlung bei Dienstverhinderung (§ 9 TAG). Im Hinblick auf die gem § 40 TAG subsidiäre Geltung des ABGB sind daher subsidiär die §§ 1154b und 1155 ABGB anwendbar (Ercher/Rath, Nochmals zu den Neuerungen im Bühnenarbeitsrecht, Urlaubsrecht – Nichtverlängerungserklärung – Gastverträge, ASoK 2011, 180 [185]).

[11] 1.2 Ein „Gast“ iSd § 41 TAG ist auch von sämtlichen Sonderregelungen der Beendigung des Bühnendienstverhältnisses nach dem TAG ausgenommen, sodass – wenn dennoch eine Beendigungserklärung erfolgt – die allgemeinen dienstrechtlichen Beendigungsbestimmungen des ABGB (§ 1162b ABGB) zur Anwendung kommen (Kozak/Balla/Zankel, Theaterarbeitsgesetz § 41 TAG Rz 1099).

[12] 2.1 Nach dem auf den Gast-Bühnenvertrag der Kl subsidiär zur Anwendung gelangenden § 1155 Abs 1 ABGB gebührt dem DN das Entgelt auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seiten des DG liegen, daran verhindert worden ist; er muss sich jedoch anrechnen, was er infolge Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat.

[13] 2.2 § 1155 ABGB gewährt als Sondernorm des Leistungsstörungsrechts dem DN weiterhin einen Entgeltanspruch. Neben dem aufrechten Bestehen eines Arbeitsvertrags ist entscheidend, ob der DN 390 zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seiten des AG lagen, daran verhindert worden ist (RS0021428). Es handelt sich somit um einen Erfüllungs- und keinen Schadenersatzanspruch. Nach wirksamer Beendigung des Arbeitsvertrags ist § 1155 ABGB nicht mehr anwendbar (Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 [2018] § 1155 ABGB Rz 11).

2.3 Mit dem 2. COVID-19-Gesetz BGBl I 16/2020 wurde § 1155 ABGB ein dritter Absatz angefügt:

„(3) Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl. Nr. 12/2020, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, gelten als Umstände im Sinne des Abs 1. Arbeitnehmer, deren Dienstleistungen aufgrund solcher Maßnahmen nicht zustande kommen, sind verpflichtet, auf Verlangen des Arbeitgebers in dieser Zeit Urlaubs- und Zeitguthaben zu verbrauchen. ...“

[14] § 1155 Abs 3 ABGB stand – vom 15.3.2020 bis 31.12.2020 – zeitlich befristet in Geltung (§ 1503 Abs 14 [idgF: Abs 15] ABGB).

[15] 2.4 Der OGH nahm zu § 1155 Abs 3 ABGB bisher nur insofern Stellung, als Maßnahmen nach dem COVID-19-MG, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, als auf Seiten des AG liegende Umstände anzusehen sind, die dessen Verpflichtung zur Fortzahlung des Entgelts zur Folge haben (8 ObA 26/22i, RS0021428 [T10]). Weiters wurde eine Verfassungswidrigkeit der in § 1155 Abs 3 ABGB dem AG eingeräumten Ermächtigung verneint, den Urlaubsverbrauch (Verbrauch von Zeitguthaben) eines AN, dessen Entgeltanspruch weiterbesteht, einseitig anzuordnen (9 ObA 149/21h).

[16] 3.1 Aus Anlass der gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge ist im Rahmen der allseitigen rechtlichen Überprüfungspflicht (RS0043352) aber vorerst auf die Frage einzugehen, ob die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 1155 Abs 1 und 3 ABGB auch für den vorliegend geltend gemachten Klageanspruch gegeben sind:

[17] 3.2 Die Kl geht von einer wenngleich termin- und fristwidrigen, dennoch aber wirksamen Beendigung ihres Gast-Bühnenvertrags zum 11.3.2020 aus und macht den Klagebetrag für die nach diesem Datum entfallenen Vorstellungen ausdrücklich als Schadenersatz zu qualifizierenden Anspruch auf Kündigungsentschädigung geltend (RS0028724) und nicht als fortbestehenden Entgeltanspruch.

[18] Gleichzeitig vertritt die Kl den Standpunkt, § 1155 Abs 3 ABGB komme infolge seiner Entstehung und konkreten Gestaltung nicht dispositiver, sondern zwingender Charakter zu, weshalb er – ungeachtet seines Inkrafttretens erst am 15.3.2020 – für ihren Gastbühnenvertrag und die Klageansprüche maßgeblich sei.

[19] 3.3 Dabei übersieht sie aber, dass nach Beendigung des Vertragsverhältnisses § 1155 ABGB (und auch dessen Abs 3) keine Anwendung mehr finden kann, weil diese Regelung ein aufrechtes Arbeitsverhältnis voraussetzt. Hat die Kl nach Beendigung ihres Gast-Bühnendienstvertrags die auf dem „Schadenersatzprinzip“ beruhende Kündigungsentschädigung geltend gemacht, soll sie als Kündigungsentschädigung das bekommen, was ihr ohne die Auflösung bis zum fiktiven Ende des Gast-Bühnendienstvertrags (am 19.5.2020) zugekommen wäre. Sie soll wirtschaftlich so gestellt werden, als wäre das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß beendet worden (RS0028397; RS0119684; 8 ObA 26/13a ua; zu befristeten Arbeitsverhältnissen 4 Ob 68/76, ZAS 1978/1, 15). Daran ändert auch die Formulierung in § 1162b ABGB „vertragsmäßige Ansprüche auf das Entgelt“ nichts, da mit dieser Formulierung lediglich die Höhe der Entgeltansprüche umschrieben wird, nicht aber ein Anspruch auf Vertragserfüllung anerkannt wird (Pfeil in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 [2018] § 29 AngG Rz 11).

[20] Maßgeblich sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt der von der Kl behaupteten vorzeitigen Auflösung des Dienstverhältnisses (hier somit zum 11.3.2020). Die Frage, ob der erst danach – mit 15.3.2020 – in Kraft getretene § 1155 Abs 3 ABGB einseitig zwingend oder dispositiv ist, stellt sich im vorliegenden Zusammenhang daher nicht.

[21] 4.1 Zu beurteilen bleibt, ob die in Pkt 4.2 und Pkt 4.3 des – bereits 2019 abgeschlossenen – Gast- Bühnenvertrags enthaltenen Regelungen dahin auszulegen sind, dass nach dem Willen der Parteien auch die COVID-19-Pandemie, die zu dem über das Theater verhängten Betretungsverbot und zum Entfall der Vorstellungen geführt hat, den Verlust des Honoraranspruchs bewirkt.

[22] 4.2 Nach § 914 ABGB ist bei der Auslegung von Verträgen zunächst vom Wortsinn des schriftlichen Vertragstextes oder vom Wortsinn der mündlichen Vertragserklärung auszugehen. Es ist aber nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks der Worte zu haften, sondern der Wille der Parteien zu erforschen. Wird kein vom Vertragstext abweichender oder diesen präzisierender ergänzender übereinstimmender Parteiwille behauptet oder festgestellt, so ist für die Auslegung der objektive Erklärungswert des Vertragstextes maßgeblich. Der Vertrag ist so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (RS0017915 [T18], RS0017797 ua).

[23] 4.3 Dass laut Pkt 4.2 des Gast-Bühnenvertrags „generell“ nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert werden, ist als Festlegung einer Grundregel bzw eines allgemeinen Grundsatzes zu verstehen, nach dem ausschließlich gespielte Vorstellungen entgolten werden sollen. Mit der unmittelbar anschließenden Formulierung [in] Pkt 4.3, nach der ein Anspruch auf Ersatz von tatsächlich aufgewendeten Kosten nur bei Absage der Vorstellung durch die [Bekl] wegen Krankheit im Ensemble oder bei Vorliegen von höherer Gewalt nach Anreise des Gastes besteht, werden zwei möglicherweise auftretende Hinderungsgründe angesprochen, für die kein Entgeltanspruch bestehen soll, jedoch – allenfalls – Anspruch auf Aufwandersatz bzw Fahrtkostenersatz.

[24] 4.4 Werden „generell“ nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert, kann der in Vertragspunkt Pkt 4.3 verwendete Begriff der „höheren Gewalt“ aus Sicht eines redlichen Erklärungsempfängers nicht anders verstanden werden, 391 als dass auch ein Vorstellungsentfall infolge von Elementarereignissen, die die Allgemeinheit betreffen, zum Verlust des Honoraranspruchs führen soll, wie etwa ein Vorstellungsentfall infolge einer Naturkatastrophe oder einer Seuche.

[25] 5.1 Dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um eine schicksalhafte Entwicklung iS eines Elementarereignisses und um eine Seuche handelt, wurde in der mietrechtlichen Rsp zu § 1104 ABGB bereits bejaht (vgl 3 Ob 78/21y Rz 21; 5 Ob 192/21b Rz 18; 9 Ob 31/22g Rz 11 ua; RS0133812).

[26] 5.2 Die COVID-19-Pandemie war – jedenfalls in Zeiträumen eines „harten Lockdowns“ (vgl 4 Ob 147/21b Rz 4) wie im vorliegenden Fall bis 30.4.2020 – ein Ereignis, das auch die Kl als AN in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkte. Das Betreten öffentlicher Orte war verboten (§ 1 der V BGBl II 2020/98) und für berufliche Zwecke nur erlaubt, wenn dies erforderlich war und Mindestabstände eingehalten werden konnten (§ 2 Z 4 der V BGBl II 2020/98). Ein solches Erfordernis bestand im Hinblick darauf, dass die Theater geschlossen waren, bestenfalls in einem sehr eingeschränkten Ausmaß. Das Betreten des Kundenbereichs war – auch über den 30.4.2020 hinaus – verboten, zunächst gem § 1 V BGBl II 2020/96 [Freizeiteinrichtungen] sowie ab 1.5.2020 gem § 9 Abs 1 Z 3 iVm Abs 2 Z 8 der COVID-19-LV [-Lockerungsverordnung] BGBl II 2020/197 (zum Außerkrafttreten der V BGBl II 2020/96 und BGBl II 2020/197 s § 13 Abs 2 COVID-19-LV). Die Pandemie ging daher im hier zu beurteilenden Zeitraum in ihrer Auswirkung weit über die Sphäre des einzelnen AG hinaus und traf in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit. Von den Betretungsverboten – und zwar sowohl von jenen, die unmittelbar die Betriebe als auch von jenen, die für den öffentlichen Raum galten – waren bundesweit eine Vielzahl unterschiedlichster Unternehmen und Arbeitsverhältnisse betroffen (vgl Friedrich, Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB und COVID-19, ZAS 2020, 156 [159]). Jedenfalls im hier zu beurteilenden Zeitraum ist die Pandemie als ein Elementarereignis größten Ausmaßes anzusehen. COVID-19 hat sich weltweit ausgebreitet und weite Teile des öffentlichen Raums und des Wirtschaftslebens lahmgelegt (Kietaibl/Wolf in Resch, Corona-HB1.04 Kap 3 Rz 2).

[27] 6. Die Pkte 4.2 und 4.3 des Gast-Bühnendienstvertrags sind ihrem objektiven Wortsinn nach somit dahin auszulegen, dass der Entgeltanspruch der Kl mangels Wahrnehmung der Vorstellung entfällt. Daran ändert – jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang – der Umstand nichts, dass nicht die Pandemie (Krankheit) selbst, sondern erst das gesetzlich verordnete Betretungsverbot dazu geführt hat, dass die versprochenen Dienste nicht zustande gekommen sind (vgl Felten/Pfeil, Arbeitsrechtliche Auswirkungen der COVID-19-Gesetze – ausgewählte Probleme, DRdA 2020, 295 [301]).

[28] 7. Dem von der Kl erhobenen Einwand der Sittenwidrigkeit kommt keine Berechtigung zu.

[29] Die Sittenwidrigkeit einer in Abänderung des (gem § 1164 ABGB dispositiven) § 1155 Abs 1 ABGB getroffenen Vereinbarung zu Lasten des AN wurde etwa in Fällen eines schuldhaften Annahmeverzugs des AG, einer grundlosen Freistellung des AN vom Dienst oder der Vereinbarung einer Arbeit auf Abruf bejaht (vgl dazu näher Rebhahn in Zell-Komm3 § 1155 ABGB Rz 6 mwH). Ein diesen Situationen vergleichbarer Fall liegt hier aber nicht vor. Insb wurde die Vereinbarung auch nicht konkret im Zusammenhang mit den durch die Pandemie ausgelösten Betretungsverboten getroffen (so der beispielhaft von Auer-Mayer, Ausgewählte Fragen zur Kurzarbeit, ZAS 2020, 220 [226] zitierte Fall).

[30] 8. Verwirklichte die COVID-19-Pandemie den im Gastbühnenvertrag genannten Fall „höherer Gewalt“ und besteht der von der Kl geltend gemachte Anspruch bereits aus diesen rechtlichen Gründen nicht, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der in der Revision behaupteten Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens. [...]

ANMERKUNG

Der vorliegenden E ist im Ergebnis zuzustimmen. Der Begründung allerdings fehlt es in einigen Bereichen an Struktur und Klarheit. Insb die Aneinanderreihungen isolierter Leitsätze der Vorjudikatur bzw Conclusiones aus der Literatur führen bisweilen zu (sprachlichen, aber auch juristischen) Ungereimtheiten, welche es schwer machen, der Argumentation zur Gänze zu folgen.

ME ist die Problembehandlung folgendermaßen zu strukturieren: Zunächst ist zu fragen, ob eine Kündigungsentschädigung aufbauend auf einem Anspruch gem § 1155 ABGB in Frage kommt (dazu 1.). Da dies zu bejahen sein wird, ist zu prüfen, ob § 1155 ABGB im gegenständlichen Fall greift (siehe 2.). Und weil sich auch dies als zutreffend erweisen wird, ist die Frage zu stellen, ob § 1155 ABGB für die eingetretene Konstellation gültig abgedungen wurde (siehe 3.).

1.
Kündigungsentschädigung und Dienstverhinderung nach § 1155 ABGB

Die Kündigungsentschädigung ist in § 1162b ABGB, § 29 AngG ua geregelt, im vorliegenden Fall würde sie sich – wie vom Höchstgericht ausgeführt – iSd § 40 TAG nach § 1162b ABGB richten. Die Kündigungsentschädigung setzt als pauschalierten Schadenersatz aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine rechtwidrige und schuldhafte, aber dennoch gültige Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Seiten des AG (bzw einen von diesem verschuldeten Austritt des AN) voraus. Offenbar hat die Bekl am 11.3.2020 angesichts des sich abzeichnenden Lockdowns eine Erklärung gegenüber der Kl abgegeben, mit der sie das befristete Arbeitsverhältnis fristlos beenden wollte. Diese Vorgangsweise ist nach den §§ 914 f ABGB auszulegen. Eine einseitige fristlose Lösungserklärung unter Berufung auf einen Grund ist als Entlassung zu qualifizieren. Da der Grund arbeitsrechtlich nicht als wichtig einzustufen ist, ist die Entlassung ungerechtfertigt. Eine ungerechtfertigte Entlassung hat Lösungswirkung – was der OGH in Rz 17 des 392 Urteils zweifelsfrei festhalten hätte sollen –, zieht aber diverse beendigungsabhängige Ansprüche, insb eine Kündigungsentschädigung, nach sich.

Die Kündigungsentschädigung bemisst sich gem § 1162b ABGB mit den „vertragsgemäßen Ansprüchen auf das Entgelt für den Zeitraum, der bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses durch Ablauf der Vertragszeit ... hätte verstreichen müssen ...“. Für die Ermittlung des Beendigungsschadenersatzes ist also zu schauen, welche Entgeltansprüche der AN während der restlichen Vertragsdauer bis zum 19.5.2020 gebührt hätten. Es ist dies eine Fiktion: Was wäre an Entgelt zugestanden, wenn das Arbeitsverhältnis nicht vorzeitig geendet hätte, sondern planmäßig abgelaufen wäre? Es ist klar, dass hier jedenfalls die eingeklagten sechs Vorstellungshonorare in Betracht kommen.

Eine Besonderheit des Sachverhalts besteht darin, dass nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 11.3.2020 die Vorstellungen wegen des in der Folge verhängten COVID-19-Lockdowns entfallen sind. Wäre das Arbeitsverhältnis aufrecht gewesen, hätte dies – wie zu zeigen sein wird (dazu 2., 3.) – grundsätzlich zur Anwendung des § 1155 ABGB geführt. In solchen Fällen ist die Kündigungsentschädigung an jener Entgeltfortzahlung zu orientieren, auf die bei aufrechtem Arbeitsverhältnis Anspruch bestanden hätte (zum Abstellen auf die Entgeltfortzahlung zB – zumindest implizit – OGH4 Ob 107/81 ZAS 1982, 186 [Robert Müller] = Arb 10.041; Haider in Reissner [Hrsg], Angestelltengesetz – Kommentar4 [2022] § 29 Rz 57 mwN). Diese Orientierung an der fiktiven Entgeltfortzahlung hat die Kl mit ihrem Verweis auf § 1155 ABGB gemeint, sie hat also keineswegs „übersehen“ – wie das Höchstgericht in den Rz 17 ff des Urteils, insb in Rz 19 unterstellt –, dass § 1155 ABGB als solcher nach Beendigung nicht mehr anwendbar ist.

Interessant ist nun die Frage, aus welcher Perspektive der fiktive Entgeltfortzahlungsanspruch zu bestimmen ist. Allgemein gesprochen kommt hier einerseits eine abstrakte Schadensberechnung, bei der (nur) die im Zeitpunkt der Auflösungserklärung bekannten Umstände zu Grunde zu legen sind, in Betracht, andererseits denkbar ist eine konkrete Schadensberechnung, die auch später eintretende Ereignisse berücksichtigt. Grundsätzlich wird die Kündigungsentschädigung in diesem Sinne abstrakt berechnet (abgesehen von der Anrechnung von Ersparnis und erlangten bzw absichtlich vereitelten Verdienst ab dem vierten Monat des Bezugs). Namentlich im Falle von („langen“) Kündigungsentschädigungen nach Beendigungen in der Insolvenz des AG sind aber auch später eintretende Aspekte für die Festlegung der Kündigungsentschädigung berücksichtigt worden (vgl zB OGH8 ObS 4/12iDRdA 2013/27, 303 [Aschauer] = Arb 13.064; Haider in Reissner, AngG4 § 29 Rz 78 ff mwN). Die Entstehung des Anspruchs im Auflösungszeitpunkt spricht eher für eine abstrakte als für eine konkrete Schadensberechnung, es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Kündigungsentschädigung unmittelbar am vertragsgemäßen Entgeltanspruch anknüpft, sodass die Bemessung sehr „entgeltnah“ erfolgen muss, nicht zuletzt um eine Besserstellung des Geschädigten im Verhältnis zur Situation bei normalem Verlauf des insofern als aufrecht fingierten Arbeitsverhältnisses zu vermeiden (Reissner/Sundl, Bemessung der Kündigungsentschädigung bei Austritt besonders geschützter Arbeitnehmer nach § 25 IO, ZIK 2012, 202 [203 f]; stärker für die abstrakte Ermittlung der Kündigungsentschädigung noch Reissner,

; ausdrücklich abl OGH8 ObS 4/12i DRdA 2013/27, 303 [Aschauer] = Arb 13.064). Die Einbeziehung nachträglich eintretender Umstände muss jedenfalls gleichförmig erfolgen: Eine Berücksichtigung nur von Umständen, die die (insolvenzrechtliche) Kündigungsentschädigung verkürzen, nicht aber von Ereignissen, die diese verlängern, erscheint nicht gerechtfertigt (insoweit krit zu OGH8 ObS 4/12iReissner/Sundl, ZIK 2012, 204).

In der zu besprechenden E legt das Höchstgericht einmal den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses (11.3.2020) zugrunde, und zwar für die Frage, welche Fassung des § 1155 ABGB für die Ermittlung der Kündigungsentschädigung heranzuziehen ist. Im Weiteren werden dann später eintretende Umstände, nämlich der einschlägige Dienstverhinderungen auslösende erste COVID-19-Lockdown ab 16.3.2020, releviert. Es ist mE im konkreten Fall durchaus sachgerecht, auf während des Zeitraums des Kündigungsentschädigungsbezugs aufgetretene Geschehnisse abzustellen, dies muss jedoch – wie oben gesagt – „gleichförmig“, also konsequent erfolgen. Es ist daher der fiktive Entgeltfortzahlungsanspruch unter Zugrundelegung des § 1155 ABGB idF ab 15.3.2020 zu ermitteln (was, wie unter 2. zu zeigen sein wird, in concreto keinen Unterschied gemacht hätte).

2.
§ 1155 ABGB und Corona-Lockdown

Unter 1. wurde ausgeführt, dass die Bemessung der Kündigungsentschädigung nach dem fiktiven Anspruch auf Entgelt bzw – weil die Arbeitsleistung unterblieben wäre – Entgeltfortzahlung zu erfolgen hat. Laut Sachverhalt war das Theater während der zwischen Ende März und Mitte Mai 2020 geplanten Arbeit behördlich geschlossen, die AN hingegen war zur Arbeit bereit bzw wäre dazu bereit gewesen. Dieses Szenario tendiert in Richtung § 1155 ABGB, sodass eine Subsumtion unter diese Bestimmung zu prüfen ist.

Zunächst ist die Frage zu klären, ob es im gegebenen Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist, dass am 15.3.2020 eine Novelle zu § 1155 ABGB in Kraft trat (und bis 31.12.2020 in Geltung stand), in welcher – hier interessierend – in einem Abs 3 Satz 1 leg cit festgehalten wurde, dass „Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-MG ..., die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, ... als Umstände iSd Abs 1“ gelten. Ist, wie unter 1. begründet, eine konkrete Schadensberechnung vorzunehmen, so ist für die Ermittlung der Kündigungsentschädigung ab 15.3.2020 der novellierte § 1155 ABGB (inklusive dem damaligen Abs 3 Satz 1) maßgeblich. 393 Betrachtet man allerdings den Wortlaut, die historischen Hintergründe und den Zweck der Bestimmung, so kommt man zum Ergebnis, dass der § 1155 Abs 3 Satz 1 ABGB des Jahres 2020 eine Klarstellung in einer unsicheren (rechtlichen) Situation vorgenommen hat und daher nur deklarativ war (so zB auch Haider, § 1155 ABGB in der COVID-19-Krise, DRdA-infas 2020, 199 [200 f]; Felten/Pfeil, COVID-19-Gesetze und Entgeltfortzahlung, CuRe 2020/19; aA Friedrich, Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB und COVID-19, ZAS 2020/26, 156 [160 ff], der meint, § 1155 Abs 3 ABGB verlange eine Neubewertung der Grundregel, was mE nicht der Fall ist). Daraus folgt aber auch, dass es keinen Grund gibt, diese vorübergehende Sonderbestimmung entgegen § 1164 ABGB – wo sie nicht genannt war – nach ihrer Natur und ihrem Zweck als zwingend zu qualifizieren. Dies gilt mE nur für den hier interessierenden Abs 3 Satz 1 leg cit; der Rest der hinzugefügten Regelungen betreffend Möglichkeiten des AG, einseitig auf Urlaub oder Zeitausgleich zu schicken, müssen als Abweichungen von § 4 Abs 1 UrlG bzw § 10 Abs 2 AZG wie diese einseitig zwingend sein. § 1155 Abs 3 Satz 1 ABGB ist – wie auch der „klassische“ § 1155 Abs 1 ABGB – (beschränkt) dispositiv (dazu genauer 3.). Alles in allem liegt somit auch ein Umstand „auf Seiten des DG“ iSd § 1155 Abs 1 (iVm dem damaligen Abs 3) ABGB vor, womit alle Voraussetzungen für eine Entgeltfortzahlung nach dieser Bestimmung erfüllt wären. Die Bestimmung wurde aber wie gesagt im Arbeitsvertrag abgedungen.

3.
Zur Abdingbarkeit des § 1155 ABGB

§ 1155 ABGB ist nach wohl hA entgegen dem Wortlaut des § 1164 ABGB nicht beliebig, sondern nur beschränkt abdingbar. ME können angesichts des vorliegenden Falles folgende Eckpunkte hervorgehoben werden (ausführlicher Reissner in Kozak [Hrsg], ABGB und Arbeitsrecht [2019] § 1155 Rz 97 ff mwN): Eine Pauschalabdingung des § 1155 (Abs 1 iVm Abs 3 Satz 1) ABGB führt zur völligen Überwälzung maßgeblicher Bereiche des Unternehmerrisikos und ist daher sittenwidrig (OGH14 Ob 224/86

infas 1987 A 51
; Rebhahn in Neumayr/Reissner [Hrsg], Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht3 [2018] § 1155 ABGB Rz 6), was mE zur völligen Nichtigkeit der Abdingungspassage im Arbeitsvertrag führt. In Bezug auf Unregelmäßigkeiten des betrieblichen Ablaufs erscheint eine Abdingung alltäglicher, relativ kleiner Umstände problematisch, insb dann, wenn die Dienstverhinderung durch zumutbare organisatorische Vorkehrungen vermieden werden hätte können. Zulässig wird die Abdingung demgegenüber vor allem dann sein, wenn außergewöhnliche Unregelmäßigkeiten eintreten. Es geht hier um vom AG nicht beeinflussbare Ereignisse, auf die er sich auch nicht ausreichend vorbereiten kann. In derartigen Fällen sind uU noch Abstufungen in Richtung teilweiser Abdingung des Fortzahlungsanspruchs zu treffen.

ME enthalten die im Fall relevanten Pkte 4.2 und 4.3 des Gastspielvertrags keine (sittenwidrige) Pauschalabdingung des § 1155 ABGB. Der programmatische Einleitungssatz („Generell werden nur tatsächlich wahrgenommene Vorstellungen honoriert“) geht wohl nicht so weit und tastet die Entgeltfortzahlung etwa für den Fall einer vom AG verfügten Dienstfreistellung nicht an. Damit kann in Bezug auf Pkt 4.3 („Absage der Vorstellung ... wegen Krankheit im Ensemble ... oder auch bei Vorliegen von höherer Gewalt“) eine geltungserhaltende Reduktion vorgenommen werden: Die Krankheit im Ensemble wird typisches Unternehmerrisiko sein, sodass die diesbezügliche Abdingung als problematisch einzustufen ist, während die Bezugnahme auf die höhere Gewalt in Ordnung ist, sofern dies (interpretativ) auf „äußere Zufälle“, dh vom AG nicht beeinflussbare höhere Gewalt, bezogen wird. Der COVID-19-Lockdown des Jahres 2020 ist ein Musterbeispiel für derartige höhere Gewalt, sodass die Abdingung insoweit als gültig zu qualifizieren ist.

Das Höchstgericht hat sich bei der mE recht einfachen Subsumtion dieses Lockdowns unter die im Vertrag angesprochene höhere Gewalt recht schwergetan. Dies wäre jedoch kaum der Rede wert, hätte der OGH nicht in Rz 26 des Urteils unnötigerweise die Formel zur Umschreibung der so genannten neutralen Sphäre („in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit betroffen“) ins Spiel gebracht: Bei einem – hier nicht vorliegenden – Fall der neutralen Sphäre hätte man nicht die Gültigkeit der Abdingung des § 1155 ABGB prüfen müssen, wäre doch diese Vorschrift gegebenenfalls ohnehin nicht anwendbar. 394