42

Pflegekarenzgeld trotz fehlender koordinierungsrechtlicher Zuständigkeit Österreichs

FELICIACONCIN-KAIN (WIEN)
  1. Die Anspruchsvoraussetzung des § 3a BPGG, dass Österreich iSd VO 883/2004 koordinierungsrechtlich zuständig sein muss, gilt nur hinsichtlich des Pflegegeldes, nicht hingegen für das Pflegekarenzgeld.

  2. Die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit iSd VO 883/2004 als Anspruchsvoraussetzung für den österreichischen Anspruch auf Pflegekarenzgeld kann nicht aus dem Unionsrecht abgeleitet werden.

  3. Es stünde dem österreichischen Gesetzgeber frei, den Anspruch auf Pflegekarenzgeld an die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit iSd VO 883/2004 zu knüpfen.

1 Die Revisionswerberin beantragte am 15.11.2018 die Gewährung von Pflegekarenzgeld gem § 21c Abs 3 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) zum Zweck der Sterbebegleitung eines nahen Angehörigen (ihres in Polen lebenden Vaters).

2 Dieser Antrag wurde vom Sozialministeriumservice mit Bescheid vom 3.12.2018 abgewiesen. Das Pflegekarenzgeld sei europarechtlich als „Leistung bei Krankheit“ iSd VO (EG) 883/2004 anzusehen. Für einen Export der Leistung sei eine Zuständigkeit Österreichs für Leistungen bei Krankheit erforderlich. Das bedeute, dass die gepflegte bzw im Fall der Familienhospizkarenz zu begleitende Person der österreichischen KV unterliegen müsse. Diese Voraussetzung liege im Fall des Vaters der Revisionswerberin nicht vor.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab.

4 Nach Darstellung des Verfahrensgangs und des unstrittigen Sachverhalts sowie einer Wiedergabe des § 21c Abs 1 und 2 (aber nicht des im vorliegenden Fall anzuwendenden Abs 3) BPGG führte das Bundesverwaltungsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass ein Sachverhalt mit EU-Auslandsbezug vorliege und daher die VO (EG) 883/2004 anzuwenden sei. Beim Pflegekarenzgeld handle es sich um eine „Leistung bei Krankheit“ iSd Art 17 ff der genannten Verordnung. In der Folge zitierte das Bundesverwaltungsgericht Urteile des EuGH, wonach es sich bei Leistungen wie Pflegegeld oder Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge des eine pflegebedürftige Person pflegenden Dritten durch die Pflegeversicherung um Leistungen bei Krankheit handle. Im vorliegenden Fall sei zu berücksichtigen, dass der Vater der Revisionswerberin weder der österreichischen KV unterlegen sei noch ein österreichisches Pflegegeld bezogen habe, wobei der Wohnsitz in Polen „grundsätzlich von untergeordneter Bedeutung“ sei. Das Pflegekarenzgeld könne „für die Leistung einer Familienhospizkarenz als ‚Leistung aus Krankheit‘ nur dann in einen anderen EU-Staat exportiert werden“, wenn sich eine Zuständigkeit Österreichs für Leistungen bei Krankheit iSd VO (EG) 883/2004 in Bezug auf die zu pflegende oder zu begleitende Person ergebe. Genau diese Voraussetzung sei jedoch fallbezogen nicht erfüllt. Für den Vater der Revisionswerberin ergebe sich die Zuständigkeit Polens für „Leistungen aus Krankheit“.

5 Gem § 25a Abs 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gem Art 133 Abs 4 B-VG unzulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der VwGH nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das Sozialministeriumservice eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen hat:

7 Die Revision ist entgegen dem nur formelhaft begründeten Ausspruch des Bundesverwaltungsgerichts zulässig, weil – wie in der Revision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorgebracht wird – keine Rsp des VwGH zu der Frage vorliegt, ob der Anspruch auf Pflegekarenzgeld bei Sterbebegleitung von einem österreichischen Krankenversicherungsschutz der zu begleitenden Person abhängt.

8 Das BPGG, BGBl 110/1993, regelte ursprünglich nur den Anspruch auf Pflegegeld. Das ist gem § 1 BPGG ein (finanzieller, im Allgemeinen direkt der pflegebedürftigen Person zu bezahlender) Beitrag mit dem Zweck, pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen. Der Anspruch knüpft gem § 3 BPGG an den Bezug bestimmter Leistungen – insb von Renten und Pensionen nach den österreichischen Sozialversicherungsgesetzen – der pflegebedürftigen Person in Verbindung mit einem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland an. § 3a Abs 1 BPGG bestimmt jedoch, dass Anspruch auf Pflegegeld ohne Grundleistung gem § 3 Abs 1 und 2 BPGG für österreichische Staatsbürger besteht, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der VO (EG) 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist. Gem § 3a Abs 2 BPGG sind ua Fremde, für die sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt, den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.

9 Mit der Novelle BGBl I 138/2013wurde in das BPGG ein neuer Abschnitt „Pflegekarenzgeld“ (§§ 21c bis 21f) eingefügt. Beim Pflegekarenzgeld handelt es sich um eine Leistung, die 378 der finanziellen Absicherung von Personen dient, die sich arbeitsrechtlich bzw nach vergleichbaren dienstrechtlichen Vorschriften in einer Karenz zum Zweck der Pflege oder Betreuung eines nahen Angehörigen (Pflegekarenz, geregelt insb in § 14c ArbeitsvertragsrechtsanpassungsgesetzAVRAG) oder zum Zweck der Sterbebegleitung eines nahen Angehörigen bzw der Begleitung von im gemeinsamen Haushalt lebenden, schwersterkrankten Kindern (Familienhospizkarenz, geregelt insb in §§ 14a und 14b AVRAG) befinden, oder die sich zum gleichen Zweck vom Bezug von Leistungen der AlV abgemeldet haben.

10 Die materiellen Voraussetzungen für den Anspruch auf Pflegekarenzgeld sind in § 21c BPGG geregelt, der in der im vorliegenden Fall maßgeblichen Fassung BGBl I 12/2015 auszugsweise wie folgt lautet:

„§ 21c. (1) Personen, die eine Pflegekarenz gemäß § 14c AVRAG vereinbart haben, sowie Personen, die sich zum Zwecke der Pflegekarenz gemäß § 32 Abs 1 Z 3 AlVG vom Bezug von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe oder von der Vormerkung zur Sozialversicherung nach § 34 AlVG abgemeldet haben, gebührt für die Dauer der Pflegekarenz ein Pflegekarenzgeld nach den Bestimmungen dieses Abschnittes. Personen, die eine Pflegeteilzeit gemäß § 14d AVRAG vereinbart haben, gebührt für die vereinbarte Dauer der Pflegeteilzeit ein aliquotes Pflegekarenzgeld. Pro zu betreuender pflegebedürftiger Person gebührt das Pflegekarenzgeld für höchstens sechs Monate. Bei einer neuerlichen Vereinbarung einer Pflegekarenz oder Pflegeteilzeit wegen einer wesentlichen Erhöhung des Pflegebedarfs um zumindest eine Pflegegeldstufe (§ 9 Abs 4) gebührt das Pflegekarenzgeld für höchstens weitere sechs Monate pro zu betreuender pflegebedürftiger Person. Eine Pflegekarenz oder eine Pflegeteilzeit nach landesgesetzlichen Regelungen in Ausführung des Landarbeitsgesetzes 1984, BGBl. Nr 287/1984, sowie nach gleichartigen bundes- oder landesgesetzlichen Regelungen sind wie eine Pflegekarenz oder eine Pflegeteilzeit gemäß §§ 14c und 14d AVRAG zu behandeln. Auf das Pflegekarenzgeld besteht ein Rechtsanspruch.(2) Vor Inanspruchnahme des Pflegekarenzgeldes muss die karenzierte Person aus dem nunmehr karenzierten Arbeitsverhältnis ununterbrochen drei Monate nach dem ASVG vollversichert oder ununterbrochen drei Monate nach dem B-KUVG krankenversichert oder nach einer vergleichbaren landesgesetzlichen Regelung gegenüber einer Krankenfürsorgeanstalt anspruchsberechtigt gewesen sein. Das Pflegekarenzgeld gebührt, soweit in diesem Bundesgesetz oder in einer gemäß Abs 5 erlassenen Verordnung keine abweichende Regelung erfolgt, in der Höhe des nach den Bestimmungen des § 21 AlVG zu ermittelnden Grundbetrages des Arbeitslosengeldes zuzüglich allfälliger Kinderzuschläge. Der Grundbetrag gebührt bei der Pflegekarenz jedoch mindestens in Höhe der monatlichen Geringfügigkeitsgrenze gemäß § 5 Abs 2 ASVG und bei der Pflegeteilzeit mindestens in Höhe des aliquoten Teiles der monatlichen Geringfügigkeitsgrenze im Ausmaß der Herabsetzung der Arbeitszeit. Im Falle der Pflegeteilzeit ist für die Ermittlung des Grundbetrages die Differenz der monatlichen Bruttoeinkommen als Bemessungsgrundlage heranzuziehen. Das für den ersten Monat der Pflegeteilzeit ermittelte tägliche Pflegekarenzgeld gebührt für die gesamte Dauer der Pflegeteilzeit.(3) Personen, die zum Zwecke der Sterbebegleitung eines nahen Angehörigen oder der Begleitung von schwerst erkrankten Kindern eine Familienhospizkarenz
  1. gemäß §§ 14a oder 14b AVRAG oder
  2. gemäß § 32 Abs 1 Z 1 oder 2 AlVG oder
  3. nach gleichartigen landesgesetzlichen Regelungen in Ausführung des Landarbeitsgesetzes 1984 oder
  4. nach gleichartigen bundes- oder landesgesetzlichen Regelungen
in Anspruch nehmen, gebührt für die Dauer der Familienhospizkarenz ein Pflegekarenzgeld nach den Bestimmungen dieses Abschnittes. Aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 sind dem Bund, bis jeweils 31. März eines jeden Jahres, 800.000 € zu den Aufwendungen für das Pflegekarenzgeld zu überweisen. Die Höhe der Mittelzuwendung ist im Jahr 2016 zu evaluieren. Dabei ist insbesondere zu prüfen, inwieweit dieser Überweisungsbetrag angepasst werden muss oder ob die für den Familienhospizkarenz-Härteausgleich budgetierten Mittel eine weitere Überweisung rechtfertigen.(3a) bis (6) ...“

11 Für den Anspruch auf Pflegekarenzgeld – sei es zur Pflege und Betreuung eines erkrankten, sei es zur Begleitung eines sterbenden Angehörigen – ist somit nach § 21c Abs 2 BPGG ein mindestens dreimonatiger durchgehender (österreichischer) Krankenversicherungsschutz der pflegenden bzw begleitenden Person erforderlich. In Bezug auf den zu pflegenden bzw zu begleitenden Angehörigen enthält das BPGG hingegen keine weiteren Voraussetzungen. Es wird lediglich an die Karenzierung nach dem AVRAG (oder vergleichbaren Regelungen) angeknüpft, die ihrerseits einen bestimmten Pflegebedarf des Angehörigen (§ 14c Abs 1 AVRAG: Anspruch auf Pflegegeld ab der Stufe 3 nach § 5 BPGG) bzw die – nicht näher definierte – Notwendigkeit der Sterbebegleitung (§ 14a Abs 1 AVRAG) oder die „schwerste“ Erkrankung eines Kindes (§ 14b AVRAG) voraussetzt.

12 Das Bundesverwaltungsgericht und das Sozialministeriumservice nehmen zusätzlich an, dass Österreich unionsrechtlich für die Gewährung der Leistung zuständig sein muss, damit ein Anspruch auf Pflegekarenzgeld nach dem BPGG begründet werden kann. § 3a Abs 1 BPGG idF BGBl I 12/2015, wonach ein Anspruch ausgeschlossen wird, wenn nach der VO (EG) 883/2004 ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist, gilt nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung aber nur für das Pflegegeld und nicht auch für das Pflegekarenzgeld. Dass der Anspruch auf Pflegekarenzgeld nach dem BPGG nicht besteht, wenn sich aus der VO (EG) 883/2004 die Zuständigkeit 379 eines anderen Mitgliedstaats ergibt, könnte also nur unmittelbar aus dem Unionsrecht folgen. 13 Insoweit bestimmt Art 11 Abs 1 der VO (EG) 883/2004, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen, wobei sich nach Art 11 bis 16 der Verordnung bestimmt, welche Rechtsvorschriften dies sind. Der EuGH hat von diesem Grundsatz der Einheitlichkeit in seiner (noch zur Vorgängerregelung in der VO 1408/71 ergangenen, für den Zweck der Auslegung der insoweit gleichartigen Regelung der VO [EG] 883/2004 aber fraglos übertragbaren) Rsp allerdings bereits Ausnahmen anerkannt (vgl dazu auch Fuchs/Janda EurSozR8/Steinmayer [2022] Art 11 Rn 5). Demnach kann der genannte Grundsatz einem Mitgliedstaat, der nach den Bestimmungen der Verordnung nicht zuständig ist, nicht die Möglichkeit nehmen, einem Wander-AN unter bestimmten Bedingungen Familienbeihilfen oder eine Altersrente nach seinem nationalen Recht zu gewähren (vgl EuGH 19.4.2019, C-95/18 und C-96/18Van den Berg ua, Rn 53). Die Gewährung der Leistungen darf jedoch nicht zu einem Zusammentreffen von Leistungen desselben Typs für denselben Zeitraum führen (vgl EuGH 23.4.2015, C-382/13Franzen ua, Rn 63 ff). Es ist nicht zweifelhaft, dass die zunächst zu Familienleistungen ergangene und dann (zunächst in der Rs Franzen ua) ohne weiteres auch auf Altersrenten angewandte Rsp ebenso für andere Leistungen der sozialen Sicherheit maßgeblich ist.

14 In diesem Sinn hat der OGH unter Berufung auf die Rsp des EuGH (namentlich auf das den beiden soeben zitierten Urteilen vorangegangene Urteil EuGH 12.6.2012, C-611/10 und C-612/10Hudzinski und Wawrzyniak) ausgesprochen, es stehe einem Anspruch auf Pflegegeld nicht entgegen, dass nach Unionsrecht ein anderer Mitgliedstaat der für Geldleistungen bei Krankheit zuständige Staat sei (vgl RIS-Justiz RS0129521). Als Reaktion auf diese Rsp wurde mit der Novelle BGBl I 12/2015 § 3a Abs 1 BPGG um die schon genannte negative Anspruchsvoraussetzung ergänzt, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO (EG) 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig sein darf (vgl zur neuen Rechtslage OGH 20.12.2016, 10 ObS 83/16b). Diese Voraussetzung gilt aber, wie bereits ausgeführt, ausdrücklich nur für das Pflegegeld und nicht auch für das Pflegekarenzgeld.

15 Für das Pflegekarenzgeld nach § 21c Abs 3 BPGG dürfte die Revisionswerberin nach der Aktenlage alle Anspruchsvoraussetzungen, insb eine ununterbrochene dreimonatige Vollversicherung nach dem ASVG aus dem gem § 14a AVRAG karenzierten Arbeitsverhältnis, erfüllt haben. Es wurde ihr nur deswegen nicht gewährt, weil ihr Vater, für dessen Sterbebegleitung sie die Leistung beantragt hatte, über keinen österreichischen Krankenversicherungsschutz verfüge und Österreich daher für diese – von der belangten Behörde und vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf Art 3 der VO (EG) 883/2004 als Geldleistung bei Krankheit eingestufte – Leistung nicht zuständig sei. Für diesen Ausschlussgrund findet sich aber, wie dargestellt, weder im nationalen Recht noch im Unionsrecht eine Grundlage, wurde doch auch nicht festgestellt, dass der Vater der Revisionswerberin bzw sie selbst auf Grund der nach dem Kollisionsrecht anzuwendenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats im selben Zeitraum Anspruch auf eine dem Pflegekarenzgeld vergleichbare Leistung gehabt hätte.

16 Unabhängig davon, ob das Pflegekarenzgeld bei Familienhospizkarenz – wie von der belangten Behörde und vom Bundesverwaltungsgericht angenommen und von Österreich gem Art 9 der VO (EG) 883/2004 notifiziert – tatsächlich als (Geld-) Leistung bei Krankheit iSd Verordnung einzustufen ist (zweifelnd Spiegel in Spiegel Art I Rz 65/2, 3), wäre es der Revisionswerberin daher bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen nach § 21c Abs 2 und 3 BPGG zu gewähren gewesen.

17 Da das Bundesverwaltungsgericht das verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gem § 42 Abs 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

[...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Ausgangspunkt ist der Anspruch der Kl auf Pflegekarenzgeld für die Sterbebegleitung ihres Vaters. Die Voraussetzungen des § 21c BPGG werden unstrittig erfüllt. Ihr Vater lebt jedoch in Polen, bezog kein Pflegegeld und unterlag generell nie der österreichischen KV. Das BVwG sowie das Sozialministeriumservice verlangen zusätzlich zu den Voraussetzungen des § 21c BPGG die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit Österreichs iSd VO 883/2004, welche wiederum unstrittig nicht vorliegt. Verfahrensgegenständlich ist nun die Frage, ob der Anspruch trotz des Vorliegens aller nationalen Anspruchsvoraussetzungen mangels der Zuständigkeit Österreichs iSd VO 883/2004 ausgeschlossen werden kann. Ein solcher Ausschluss könnte sich entweder aus dem nationalen Recht oder aus dem Unionsrecht ergeben (VwGHRa 2021/08/0061).

2.
Kein Ausschluss trotz fehlender koordinierungsrechtlicher Zuständigkeit
2.1.
Kein Ausschluss durch nationales Recht

Die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Pflegekarenzgeld werden in § 21c BPGG festgelegt. Werden diese erfüllt, besteht grundsätzlich ein Anspruch auf die Leistung. Im Gegensatz zu vielen anderen Leistungen gibt es hinsichtlich des Pflegekarenzgeldes keine ausdrückliche Anordnung, dass der Anspruch nur besteht, insofern Österreich auch koordinierungsrechtlich iSd VO 883/2004 zuständig ist (vgl § 21c BPGG ff). Eine solche Regelung beinhaltet § 3a Abs 1 BPGG betreffend das Pflegegeld. Im gegenständlichen Verfahren stand ua zur Diskussion, ob diese Anordnung nur für 380 das Pflegegeld oder auch für das Pflegekarenzgeld gelten soll (VwGHRa 2021/08/0061). Der Wortlaut des § 3a Abs 1 BPGG bezieht sich ausdrücklich nur auf das Pflegegeld. Etwaige Verweise auf das Pflegekarenzgeld finden sich weder in § 3a BPGG, in § 21c BPGG noch sonst im BPGG. Infrage käme also bloß eine analoge Anwendung, welche hier jedoch auszuschließen ist. Die Annahme des BVwG und des Sozialministeriumservice, dass für den Anspruch auf Pflegekarenzgeld eine Zuständigkeit nach der VO 883/2004 gegeben sein muss, kann aus dem nationalen Recht folglich nicht abgeleitet werden (so auch Lass-Könczöl, Pflegekarenzgeld bei Sterbebegleitung eines im Ausland lebenden Angehörigen, ARD 2023, 10 [10]; Rachbauer, Anspruch auf Pflegekarenzgeld bei Auslandswohnsitz und fehlendem österreichischen Krankenversicherungsschutz der gepflegten Person, DRdA-infas 2023, 193 [195]; Wachter, Eine pflegebedürftige Person muss nicht in Österreich krankenversichert sein, damit ein Anspruch auf Pflegekarenzgeld besteht, ZfG 2023, 25 [25]). Wie der VwGH zutreffend ausführt, besteht der Anspruch auf Pflegekarenzgeld auf Basis des nationalen, österreichischen Rechts im gegenständlichen Fall zu Recht (VwGHRa 2021/08/0061).

2.2.
Kein Ausschluss durch Unionsrecht

Fraglich ist in weiterer Folge, ob das Kriterium der koordinierungsrechtlichen Zuständigkeit aus dem Unionsrecht abgeleitet werden kann. Im Kern geht es darum, ob die Leistungszuständigkeit direkt aus der Koordinierungs-VO oder dem Primärrecht abgeleitet werden kann, wenn sie sich nicht aus der VO 883/2004 ergibt. Der EuGH sowie der OGH haben sich bereits mit dem Thema der Leistung koordinierungsrechtlich unzuständiger Staaten auseinandergesetzt.

Die älteren Urteile des EuGH, namentlich die Rs Bosmann, Hudzinski und Wawrzyniak sowie Franzen, Giesen und van den Berg I hätten durchaus so gedeutet werden können, als bestünde eine Leistungspflicht auch für Staaten, die iSd VO 883/2004 unzuständig sind (EuGH 20.5.2008, C-352/06, Bosmann, ECLI:EU:C:2008:290; EuGH 12.6.2012, C-611/10, Hudzinski und Wawrzyniak, ECLI:EU:C:2012:339; EuGH 23.4.2015, C-382/13, Franzen, Giesen und van den Berg I, ECLI:EU:C:2015:261; ausführlich dazu mwN Kain, Die Koordinierung von Familienleistungen [2023] 78 ff). Mit Leistungspflicht ist gemeint, dass es dem nationalen Gesetzgeber nicht gestattet wäre, die Leistung aufgrund der Unzuständigkeit zu verweigern. In der Rs van den Berg, Giesen, Franzen II erfolgte dann die wichtige und auch richtige Klarstellung, dass dem nicht so ist (EuGH 19.9.2019, verb Rs C-95/18 und C-96/18, van den Berg, Giesen, Franzen II, ECLI:EU:C:2019:767). Ist ein Staat nicht iSd VO 883/2004 zuständig, ist es gestattet, die Leistung deshalb auszuschließen. Es ist den Staaten jedoch erlaubt, „freiwillig“ zu leisten. In anderen Worten ist die Leistung im Falle der koordinierungsrechtlichen Unzuständigkeit ein „Kann“ aber kein „Muss“ (Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht7 [2021] Art 68 VO 883/2004 Rn 8/1; Kain, Die Koordinierung von Familienleistungen 81 f). Dieser Ansicht folgt auch der OGH (19.11.2019, 10 ObS 120/19y; 25.5.2020, 10 ObS 160/19f; 28.7.2020, 10 ObS 164/19v).

Aus dieser Rechtsprechungslinie kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sich die koordinierungsrechtliche Unzuständigkeit unmittelbar auf den nationalen Anspruch auswirkt. Vielmehr ist es den jeweiligen Mitgliedstaaten gestattet, Ansprüche in diesen Fällen durch gesetzgeberische Tätigkeit auszuschließen. Bezogen auf die gegenständliche Leistung, also das Pflegekarenzgeld, ist dies, wie in Pkt 2.1. ausgeführt, jedoch gerade nicht passiert. Der österreichische Anspruch auf Pflegekarenzgeld iSd § 21c BPGG verlangt keine unionsrechtliche Zuständigkeit Österreichs. Der VwGH kommt daher zutreffend zum Ergebnis, dass sich der Ausschluss des Anspruchs im gegenständlichen Fall auch nicht aus dem Unionsrecht ergibt (VwGHRa 2021/08/0061).

In diesem Zusammenhang kann auch die Rs Petroni ins Treffen geführt werden, auf deren Basis das sogenannte Petroni-Prinzip hervorging (EuGH 21.10.1975, 24-75, Petroni, ECLI:EU:C:1975:129). Dieses Prinzip besagt, dass ein Anspruch, der rein aufgrund des nationalen Rechts besteht, nicht durch Unionsrecht vernichtet werden darf. In anderen Worten kann die Koordinierungs-VO nur Ansprüche nehmen, die überhaupt erst durch die Anwendung des Unionsrechts entstanden sind. In Anbetracht der gesamten Systematik des koordinierenden Sozialrechts ist dies nur schlüssig. Welche Sozialleistungen überhaupt gewährt werden und unter welchen Anspruchsvoraussetzungen diese gebühren, ist Sache des nationalen Gesetzgebers (ausführlich dazu Bokeloh, Das Petroni-Prinzip des Europäischen Gerichtshofes – Inhalt, Entstehungsgeschichte, heutige Bedeutung, ZESAR 2012, 121 [121 ff]). Der Auffassung, dass die koordinierungsrechtliche Unzuständigkeit einen nationalen Anspruch ausschließt, obwohl ein solcher Ausschluss dem nationalen Recht nicht zu entnehmen ist, kann im Hinblick auf die eindeutige Rsp des EuGH nicht gefolgt werden.

2.3.
Koordinierungskompetenz

Zusammenfassend besteht der Anspruch auf Pflegekarenzgeld im gegenständlichen Fall unabhängig von der koordinierungsrechtlichen Zuständigkeit. Dieses Ergebnis scheint auf den ersten Blick unstimmig zu sein. Es ist jedoch Ausdruck der im europäischen Sozialrecht vorherrschenden Koordinierungskompetenz. Welche Ansprüche unter welchen Voraussetzungen gewährt werden, ist Sache der Mitgliedstaaten (stRsp des EuGH, siehe zB EuGH 28.4.1998, C-158/96, Kohll, ECLI:EU:C:1998:171 Rn 16 ff; EuGH 17.6.1997, C-70/95, Sodemare, ECLI:EU:C:1997:301 Rn 27 ff; EuGH 7.2.1984, 238/82, Duphar, ECLI:EU:C:1984:45 Rn 16 ff). Durch die Anwendung der Koordinierungs-VO werden auf Basis von nationalem Recht bestehende Ansprüche idR erweitert, um die Freizügigkeitsrechte zu gewährleisten. Die Anwendung des Koordinierungsrechts kann iSd Petroni-Prinzips jedoch 381 niemals zum Verlust von Ansprüchen führen, die auf Basis von nationalem Recht bestehen (EuGH Rs Petroni).

4.
Überlegungen de lege ferenda

Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich also, dass der Bezug des Pflegekarenzgeldes de lege lata unabhängig von der koordinierungsrechtlichen Zuständigkeit gebührt. Interessant ist, ob es dem österreichischen Gesetzgeber de lege ferenda gestattet wäre, den Anspruch auf Pflegekarenzgeld an die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit Österreichs iSd VO 883/2004 zu knüpfen und den Empfänger:innenkreis somit einzuschränken. Es ergeben sich mE weder aus dem nationalen noch aus dem Unionsrecht Bedenken gegen diese Vorgehensweise. Den Ausführungen des EuGH in der Rs van den Berg, Giesen, Franzen II ist zu entnehmen, dass unzuständige Staaten durch das Unionsrecht nicht verpflichtet werden, Leistungen zu gewähren (EuGH Rs van den Berg, Giesen, Franzen II, ECLI:EU:C:2019:767). Es sind keine Gründe ersichtlich, warum dies beim Pflegekarenzgeld nicht der Fall sein sollte.

Wie bereits erwähnt wurde, kennt das österreichische Recht mit § 3a BPGG bereits eine vergleichbare Regelung, welche als Vorbild dienen könnte. Das Einfügen eines Absatzes in § 21c BPGG, wonach der Anspruch auf Pflegekarenzgeld nicht besteht, insoweit nach der VO 883/2004 ein anderer Mitgliedstaat zur Gewährung von Pflegeleistungen zuständig ist, wäre daher mit dem geltenden Unionsrecht vereinbar.

5.
Fazit

Der VwGH kommt mit knapper, jedoch treffender Begründung zum richtigen Ergebnis, dass der Anspruch der Kl auf Pflegekarenzgeld besteht, obwohl ihr Vater, als die zu pflegende Person, nie in Österreich krankenversichert war. Weil die Kl alle nationalen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, schadet es nicht, dass Österreich iSd VO 883/2004 gar nicht zuständig ist. Dies ergibt sich eindeutig aus der Rsp des EuGH, wonach ein unzuständiger Staat einerseits berechtigt ist, Leistungen der sozialen Sicherheit zu erbringen und andererseits Ansprüche, die rein basierend auf dem nationalen Recht gebühren, nicht durch die Anwendung des Unionsrechts vernichtet werden dürfen. Es stünde dem österreichischen Gesetzgeber jedoch frei, den Anspruch auf Pflegekarenzgeld an die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit zu knüpfen. So könnte verhindert werden, dass Österreich trotz der Zuständigkeit eines anderen Staates Pflegekarenzgeld erbringen muss.