Kaiser/Schober (Hrsg)Digitale Wohlfahrtsgesellschaft – Der Weg in eine digitalisierte Zukunft

Verlag des ÖGB, Wien 2022, 192 Seiten, Paperback, € 24,–

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Gegenstand dieses bemerkenswerten Sammelbandes, erschienen in der vom ÖGB-Verlag betreuten Reihe „Wiener Perspektiven“, sind Analysen, Befunde und Maßnahmen, die dazu verhelfen sollen, Wien zu einer Digitalisierungshauptstadt zu entwickeln. Das Leitbild eines „digitalen Humanismus“ ist die dabei angestrebte Zukunftsvision. Die Steigerung der Lebensqualität für möglichst alle durch Nutzung der Chancen und Vermeidung der Risiken der Digitalisierung sind der rote Faden der vielfältigen Beiträge. Erfreulich ist das nicht ganz selbstverständliche Bemühen, den Megatrend Digitalisierung auch für den urbanen städtischen Bereich zu erschließen.

In seinem Vorwort verweist der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig auf die sozialistisch-sozialdemokratische Tradition der österreichischen Hauptstadt, Modernisierung und Humanisierung miteinander zu verbinden. Digitalisierung sei der zentrale Baustein einer „Smart City“. Der Präsident des ÖGB, Wolfgang Katzian, betont, dass es nicht um die technologische Dimension von Digitalisierung gehe, sondern um die Rahmenbedingungen im Umgang damit. Digitalisierung dürfe nicht als Ausrede herhalten, um Gewinnmaximierung, Personalabbau und prekäre Arbeits- und Konzernstrukturen zu fördern und die Mitbestimmung der AN-Seite zu unterbinden.

Die Themen des Bandes reichen von Bildung, Europapolitik, Verbesserung der Lebensbedingungen, Verteilungsfragen, der Rolle des Arbeitsrechts, Gendergerechtigkeit, Vertrauen in die neue Informations- und Kommunikationslandschaft bis hin zu Zielen wie Effektivierung des Datenschutzes und Digitalisierung im Gesundheitssystem.

Von Nadja Bergmann und Nicolaus Pretterhofer werden die Unterschiede zwischen analogen und digitalen Verteilungsmustern aufgearbeitet. ISd von Jan von Dijk entwickelten Konzepts der „digitalen Klüfte“ werden einschlägige empirische Studien vorgestellt. Im Ergebnis zeigt sich, wie wichtig die Forcierung digitaler Kompetenzen ist. So ist das digitale Qualifikationsniveau etwa im Handel (mit einem deutlichen Überwiegen der Frauenbeschäftigung) geringer als etwa in männerdominierten technischen Bereichen. Digitale Kompetenzen verhelfen auch deutlich mehr dazu, an demokratischen Beteiligungsprozessen mitzuwirken. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung. Gefordert wird zur Behebung der neuen Ungleichheiten durch Digitalisierung eine Bildungsexpansion 4.0.

In dieser Zeitschrift darf ein Hinweis auf den Beitrag von Martin Gruber-Risak und Sascha Obrecht („Arbeiten im Jahr 2030 – Highway to Hell oder Stairway to Heaven? Die Rolle des Arbeitsrechts im Zeitalter der Digitalisierung“) nicht fehlen. Die historische Entwicklung habe gezeigt, dass der technologische Fortschritt während der ersten und zweiten industriellen Revolution und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen negative Auswirkungen zeitigen, wenn die Entwicklungen nicht gelenkt und kanalisiert werden. Wie sich die Digitalisierung auf das Arbeitsverhältnis auswirke, folge keiner naturgegebenen Gesetzmäßigkeit, sondern sei das Ergebnis mehr oder weniger offen ausgetragener Konflikte zwischen AN und AG, zwischen ihren kollektiven Vertretungen und den ihnen nahestehenden Parteien. Ganz zu Recht wird vertreten, dass Freiheit und rechtlicher Schutz einander nicht ausschließen. Erst Sicherheit führe dazu, dass Freiheit auch tatsächlich gelebt werden könne, ansonsten biete sie nur die Freiheit, sich selbst auszubeuten, da individuell keine Alternative besteht. Die Autoren umreißen folgende Konfliktzonen und Risiken: Die „Flucht aus dem Arbeitsrecht“, die darin besteht, dass die Wahl eines anderen Vertragstyps als dem Arbeitsvertrag zur Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzgarantien führe. Die neuen Formen der Arbeitsorganisation operierten in hohem Maße in diesem Graubereich, zB in der sogenannten Plattformwirtschaft. Als weitere Konfliktzone wird die Digitalisierung als solche angesprochen. Die damit verbundene örtliche Entkoppelung werfe neue und komplexe Probleme auf. So sei der Betriebsbegriff des ArbVG teilweise obsolet geworden. Besondere Risiken entstünden auch dadurch, dass Personalentscheidungen an Computersysteme ausgelagert werden. Es sei dafür zu sorgen, dass die Datengrundlage solcher Systeme rechtskonform und insb diskriminierungsfrei bleibe, dass sich für AN relevante Entscheidungen immer auch durch Menschen nachprüfen lassen können und deren AG für diese letztlich verantwortlich bleiben. Der Beitrag wird durch einige kluge Forderungen abgerundet: Etwa ein Recht auf Nichterreichbarkeit, Flexibilisierungen der Arbeitszeit nicht nur zum Nutzen der AG, eine Verbesserung der Regelungen zum Home-Office, insb ein Recht auf Home-Office für die AN, in Grenzfällen eine gesetzliche Vermutung für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses und nicht zuletzt einer Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich.

Als weiterer Beitrag sei hier die Arbeit von Petra Schmidt („Datenschutz im Zeichen von Big Tech“) hervorgehoben. Die Autorin fordert in diesem Bereich, der „toxisch, ungleich und unfair“ geworden ist, einen funktionierenden Rechtsstaat und gute Gesetze. Es dürfe nicht sein, dass AGBs von Unternehmen unsere Kultur, unsere Sichtweisen und unsere Wahrnehmung bestimmen. Es wird der naheliegenden Frage nachgegangen, warum wir den Krieg um unsere Daten einfach hinnehmen. Die User*innen treffe diesbezüglich kein Vorwurf, sie hätten keine Wahl. Die Datenschutz- Grundverordnung wird bei der Nutzung von Webseiten oft nicht eingehalten. Beschwerden seien aufwendig und erforderten eine gute Kenntnis der Rechtsgrundlagen. Nach wie vor gibt es eine anlasslose Massenüberwachung (Vorratsdatenspeicherung). 433 Aus dem Beitrag geht klar hervor, dass das Modell der Zustimmung brüchig ist. Datenschutz und Privatsphäre könnten gänzlich ausgehebelt werden, wenn es unumgänglich ist, diese Räume zu nutzen. Letztlich wird der Befund mit der Aussage zugespitzt, es arbeite eine „Armee der Überwacher*innen“ gegen das Individuum und „the winner takes it all“. Das kann man als eine drastische Aufforderung zur politischen Regulierung verstehen.

Mehrfach wird in diesem Band der Begriff des „digitalen Humanismus“ verwendet. Dieser findet sich auch im Regierungsprogramm der zur Zeit regierenden Koalition in Wien. Dazu gibt es ein bemerkenswertes Dokument, das „Vienna Manifesto on Digital Humanism“ vom Mai 2019, in dem auch die Risiken der derzeitigen Digitalisierungsentwicklung aufgezeigt werden. Was ist unter einem „digitalen Humanismus“ zu verstehen? Eva Cernohorszky und Georg Sedlbauer sowie Klemens Himpele tragen zur Klärung bei. Die Kernaussage ist: „The system is failing“. Davon ausgehend werden durchwegs gut argumentierte Forderungen zur Frage, wem die Daten gehören, ob wir der künstlichen Intelligenz vertrauen können sowie zu Themen wie der erforderlichen Offenheit der Systeme, dem Beitrag der Digitalisierung zur Verbesserung der Gesundheit, einer transparenten Medienlandschaft und der Geschlechtergerechtigkeit usw angerissen.

Mit besonderer Spannung blickt man auf Aussagen zum hochkontroversen Thema „Jobgarantie oder Grundeinkommen“. Tendenziell wird in Anschluss an Lisa Herzog für arbeitszentrierte Lösungen plädiert. Verwiesen wird dabei auf das „AMS Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal“ mit seiner Förderung der Lohnkosten bis zu 100 % für ehemals arbeitslose Personen. Die Frage nach einer langfristig „großen Lösung“ sehen die Autor*innen als offen an, aber eine der beiden Optionen wird es wohl sein (müssen).

Die Lektüre dieses gehaltvollen Sammelbandes, der die intellektuelle Vorreiterrolle der Stadt Wien zu Fragen, die Arbeit und Lebensqualität betreffen, wieder einmal bestätigt, kann uneingeschränkt empfohlen werden, insb Kommunalpolitiker*innen in ganz Österreich.