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Zeit zur Erlangung des Berufsschutzes nützen?

MONIKAWEISSENSTEINER (WIEN)
§§ 255 Abs 2, 2a und 3, 273 Abs 1 und 2 ASVG
  1. Mit der Neuregelung des § 255 Abs 2 ASVG im Budgetbegleitgesetz (BBG) 2011 bezweckte der Gesetzgeber die Verschärfung der Anforderungen zur Erlangung des Berufsschutzes.

  2. Bei wertender Betrachtung ist die Ausnahmeregelung des § 255 Abs 2 Satz ASVG einschränkend auszulegen.

  3. Es wäre mit dem Zweck einer Verschärfung der Bestimmungen über die Erlangung von Berufsschutz unvereinbar, in jenen Fällen die Hälfteregelung anzuwenden, in denen die Zeit zwar zur Verfügung stand, aber nicht zur Erlangung des Berufsschutzes genutzt wurde.

[1] Mit Bescheid vom 26.11.2018 wurde der Antrag der Kl [...] auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgelehnt. Da vorübergehende Berufsunfähigkeit vorlag, wurde der Kl ab 1.10.2018 für die weitere Dauer der Berufsunfähigkeit ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV zuerkannt.

[2] Die 1977 geborene Kl erwarb im Jahr 1996 im Kosovo ein Diplom als Krankenschwester, welches aber in Österreich zunächst ohne die erforderliche Ergänzungsausbildung nicht anerkannt wurde.

[3] Die Kl absolvierte in Österreich von 27.10.2014 bis 12.7.2015 eine Ergänzungsausbildung zur Diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester mit einer täglichen Ausbildungszeit von 8 Stunden.

[...]

[4] Es kann nicht festgestellt werden, ob eine Nostrifizierung der ausländischen Ausbildung der Kl stattfand.

[5] Die Kl war in Österreich seit 1.10.2003 42 Monate berufstätig. Seit Beendigung der Ergänzungsausbildung war sie in Österreich 29 Monate berufstätig. Die Kl war in folgenden Zeiträumen seit 1998 in Österreich berufstätig: 1.12.2003 bis 31.5.2004, 24.6. bis 2.7.2004, 15.10. bis 22.10.2009, 31.1. bis 30.7.2014 und 9.11.2015 bis 16.3.2018. Es kann nicht festgestellt werden, inwieweit die Kl außerhalb Österreichs berufstätig war.

[6] Die Kl war zum Stichtag der Gewährung von Rehabilitationsgeld am ersten Arbeitsmarkt nicht arbeitsfähig. Seitdem trat eine wesentliche Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit ein, eine generelle Erwerbsunfähigkeit besteht nicht mehr. [...]

[7] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 8.11.2020 sprach die bekl Pensionsversicherungsanstalt aus, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit bei der Kl nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 29.2.2020 entzogen werde. Medizinische Maßnahmen der Rehabilitation seien nicht zweckmäßig, ein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe nicht. [...]

[10] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und stellte den angefochtenen Bescheid wieder her. Die Kl sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag weniger als 90 Monate berufstätig gewesen. Das Ende der Ausbildung iSd § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG sei iSd § 255 Abs 2a ASVG spätestens mit der Aufnahme der ersten Arbeitstätigkeit der Kl in Österreich anzusetzen. Das Ende der Zusatzausbildung liege zu knapp vor dem Stichtag, um der Kl noch einen Berufsschutz zu vermitteln. Invalidität gem § 255 Abs 3 ASVG liege infolge einer wesentlichen Besserung zum Entziehungszeitpunkt nicht mehr vor.

[11] Das von der Kl angerufene Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. [...] Gehe man davon aus, dass der Eintritt der Kl ins Berufsleben in Österreich mit 1.12.2003 erfolgt sei, umfasse der Beobachtungszeitraum bis zum Stichtag nur 178 Monate, daher knapp weniger als 15 Jahre. Daher gelange die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG zur Anwendung. Die Kl habe im Zeitraum zwischen 12.7.2015 – dem Ende der abgeschlossenen Ausbildung zur Krankenschwester – 29 Versicherungsmonate, daher mehr als die Hälfte des bis zum Stichtag 38 Monate umfassenden Beobachtungszeitraums erworben. Da für die Frage des Berufsschutzes wesentliche Feststellungen über die konkret in diesen Monaten ausgeübten Tätigkeiten fehlten, sei das Verfahren ergänzungsbedürftig. Der Rekurs sei zulässig, weil die Frage zu beurteilen sei, ob der Beginn des Beobachtungszeitraums immer ab dem erstmaligen Eintritt ins Berufsleben anzusetzen sei, auch wenn dieser weniger als 15 Jahre vor dem Stichtag erfolgt sei. 48

[12] Gegen diesen Beschluss richtet sich der von der Kl beantwortete Rekurs der Bekl.

[13] Der Rekurs ist zulässig und berechtigt. [...]

[15] 1. Berufsschutz iSd § 273 Abs 1 ASVG liegt vor, wenn die Versicherte innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt hat. [...]

[16] 2.1 Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (§ 255 Abs 2a ASVG) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss nach der Ausnahmeregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG (hier iVm § 273 Abs 1 Satz 2 ASVG) zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellter vorliegen. § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG stellt nach der Rsp eine Ausnahmeregelung für jene Versicherten dar, bei denen zwischen dem Ende der – ersten (10 ObS 97/20t SSV-NF 34/61; RS0127798 [T2]) – Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war (10 ObS 86/16v SSV-NF 30/48). Nur in diesem Fall genügt das Vorliegen einer qualifizierten Erwerbstätigkeit zumindest in der Hälfte der Kalendermonate.

[17] 2.2 Mit der Neuregelung des Berufsschutzes in § 255 Abs 2 ASVG bezweckte der Gesetzgeber des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I 2010/111, eine Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes. Vor diesem Hintergrund ist bei wertender Betrachtung auch die Regelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG als Ausnahmeregelung zur Grundregelung des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG einschränkend auszulegen (10 ObS 50/12vDRdA 2013/11, 136 [Panhölzl] = SSV-NF 26/33).

[18] 3.1 Im vorliegenden Fall steht lediglich der Eintritt der aus dem Kosovo stammenden Kl in das Erwerbsleben in Österreich fest. Darauf, dass dieser Zeitpunkt nur 178 Monate, daher weniger als 15 Jahre, vor dem Stichtag am 1.10.2018 liegt, kommt es jedoch im konkreten Fall nicht an:

[19] 3.2 Die Kl erwarb ihr Diplom als Krankenschwester im Kosovo im Jahr 1996. Sie hat selbst in der Berufung geltend gemacht, dass diese Ausbildung im Jahr 2015 durch Ablegung der erforderlichen Ergänzungsprüfungen und -praktika in Österreich iSd § 32 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, BGBl I 1997/108 (GuKG), nostrifiziert worden sei.

[20] 3.3 Daraus ergibt sich im vorliegenden Zusammenhang, dass die von der Kl absolvierte Ausbildung zur Krankenschwester im Kosovo eine dort staatlich anerkannte Ausbildung im gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege war. Sie beendete diese Ausbildung – im Alter von 18 Jahren – im Jahr 1996. Dass es der Kl (spätestens) nach Abschluss dieser Ausbildung nicht möglich gewesen wäre, in das Berufsleben einzutreten, hat sie nicht behauptet. Aus dem Akteninhalt ergibt sich lediglich ein Hinweis darauf, dass die Kl vor dem Krieg im Kosovo im Jahr 1998 nach Österreich flüchten musste [...]. Daraus folgt aber nicht, dass der Kl der Eintritt in das Berufsleben nicht bereits vor diesem Zeitpunkt, aber auch bereits vor dem Jahr 2003 in Österreich möglich gewesen wäre. Nach ihrem Vorbringen und den Verfahrensergebnissen stand der Kl daher der grundsätzlich für den Erwerb des Berufsschutzes iSd § 255 Abs 2 ASVG erforderliche Zeitraum von 15 Jahren vor dem Stichtag zur Verfügung. Nach dem Erwerb ihres Diploms als Krankenschwester war es ihr nicht von vornherein unmöglich, bis zum Stichtag am 1.10.2018 in erlernten oder angelernten Tätigkeiten zu arbeiten.

[21] 3.4 Der Umstand, dass die Kl die erforderlichen Ergänzungsprüfungen in Österreich erst in den Jahren 2014, 2015 ablegte, sodass sie erst nach dem 12.7.2015 durch ihre Tätigkeit in Österreich als Krankenschwester qualifizierte Zeiten iSd § 255 Abs 1 ASVG ausüben konnte, kann nach der gebotenen einschränkenden Auslegung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG nicht anders beurteilt werden, als die Situation eines Versicherten, der nach Eintritt in das Berufsleben zunächst als ungelernter Arbeiter tätig war und erst zu einem späteren Zeitpunkt seiner Berufslaufbahn eine Lehrabschlussprüfung macht (vgl 10 ObS 50/12v SSV-NF 26/33; 10 ObS 86/16v SSV-NF 30/48; 10 ObS 81/19p). Bereits in der E 10 ObS 86/16v wurde ausgeführt, dass es mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck einer Verschärfung der Bestimmungen über die Erlangung von Berufsschutz unvereinbar ist, in jenen Fällen die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG anzuwenden, in denen dieser Zeitraum dem Versicherten [...] zwar zur Verfügung stand, aber nicht von ihm zur Erlangung des Berufsschutzes genützt wurde.

[22] 4. [...] Da die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG auf die Kl nicht anwendbar ist und die Kl nicht zumindest 90 Pflichtversicherungsmonate in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag erworben hat, hat das Erstgericht ihre zum Entziehungszeitpunkt wieder bestehende Verweisbarkeit im Ergebnis zutreffend nach § 273 Abs 2 ASVG (RS0084408) bejaht. Ausgehend davon war dem Rekurs der Bekl iSd Wiederherstellung des Ersturteils stattzugeben. [...]

ANMERKUNG

Mit der vorliegenden E betreffend die Entziehung eines Rehabilitationsgeldes setzt der OGH seine bisherige Rsp zur Neuregelung des Berufsschutzes durch das BBG 2011 (BGBl I 2010/111), konkret zur „Hälfteregelung“ gem § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG, fort. Diese mit OGH-E vom 3.5.2012, 10 ObS 50/12v, begonnene und in der Literatur kritisierte Judikaturlinie wird hier überdies ohne ausreichende Berücksichtigung der Besonderheiten des Sachverhalts angewendet.

1.
Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ versus Hälfteregelung
1.1.
Ständige Rechtsprechung

Bei Prüfung der Invalidität bzw Berufsunfähigkeit ist nach § 255 Abs 2 ASVG (§ 273 Abs 1 ASVG) 49 entscheidend, ob im Beobachtungszeitraum eine bestimmte Anzahl qualifizierter Versicherungsmonate vorliegt. Grundsätzlich sind das in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 90 Pflichtversicherungsmonate als gelernter (angelernter) Arbeiter oder als Angestellter. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate eine qualifizierte Berufstätigkeit vorliegen. Die Auslegung dieses dritten Satzes des § 255 Abs 2 ASVG ist die zentrale Frage, die zu beantworten war.

In der oben zitierten ersten E vom 3.5.2012, 10 ObS 50/12v, hatte der OGH ebenfalls einen Sachverhalt zu beurteilen, der einen zwischenstaatlichen Bezug aufwies. Die damalige Kl hatte ihre Berufstätigkeit in Österreich mit 29 Jahren als Geschirrabräumerin, Salatanrichterin und Küchenhilfe begonnen, bevor sie im Alter von 45 Jahren die Lehrabschlussprüfung als Köchin absolvierte und anschließend qualifiziert tätig war. Das Berufungsgericht hatte – in teilweiser Abänderung des erstgerichtlichen Urteils – die Hälfteregelung herangezogen und den Beobachtungszeitraums verkürzt. Die Kl habe ihre erste berufsschutzbegründende (inländische) Ausbildung als Köchin 2005 abgeschlossen. Aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts erfülle sie die Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 2 ASVG idF BBG 2011. Der OGH folgte im Wesentlichen den Argumenten der Bekl in der Revision, wonach nach den Gesetzesmaterialien künftig nur eine längere tatsächliche Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs geschützt werden solle. Die Beobachtungsjahre (15 Kalenderjahre oder „Hälfteregelung“) werden bei Arbeiter:innen vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit), nach der die versicherte Person ins Erwerbsleben eintritt, gerechnet. Der Gesetzgeber gehe für den Regelfall davon aus, dass erst bei Vorliegen einer Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit im Rahmenzeitraum von einer „überwiegenden“ Ausübung der qualifizierten Tätigkeit ausgegangen werden kann. Bei der Auslegung des maßgeblichen § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber vom Regelfall der Beendigung einer Lehre mit 18 Jahren ausgegangen sei. Nur für Versicherte, denen gar nicht ausreichend Zeit für den Erwerb von 90 qualifizierten Monaten zur Verfügung stand, habe der Gesetzgeber die Ausnahmebestimmung vorgesehen. Die vom Gesetzgeber mit dem BBG 2011 bezweckte Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes müsse berücksichtigt werden. Der erstmalige Eintritt ins Berufsleben (Anm: in Österreich) sei 1990 erfolgt, es liege daher ausreichend Zeit für den Erwerb der geforderten 90 Monate vor.

In einem weiteren Fall (OGH 19.7.2016, 10 ObS 86/16v) absolvierte die Kl mit 32 Jahren die Ausbildung zur Pflegehelferin und Altenfachbetreuerin und erwarb bis zum Stichtag 84 qualifizierte Monate. Neuerlich betont der OGH das Motiv des Gesetzgebers, nur mehr die längere tatsächliche Ausübung eines erlernten Berufes zu schützen. Es sei mit dem Zweck des Gesetzes der Verschärfung der Bestimmungen über die Erlangung des Berufsschutzes unvereinbar, die Hälfteregelung in jenen Fällen anzuwenden, in denen der Zeitraum (von 15 Jahren) dem Versicherten zwar zur Verfügung stand, aber nicht zur Erlangung des Berufsschutzes genutzt wurde.

In dem der OGH-E 10 ObS 97/20t vom 1.9.2020 zugrundeliegenden Sachverhalt hatte der 1990 geborene Kl von 2005 bis 2009 den Beruf Elektroanlagentechniker erlernt, diesen Beruf aber nur drei Monate ausgeübt. Von September 2010 bis August 2013 absolvierte er dann die Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger und arbeitete 44 Monate in diesem Beruf, fünf Monate als Stationsgehilfe. Zum Stichtag 1.8.2018 war er aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr in der Lage, seine – beiden – erlernten Berufe auszuüben. In den 114 Kalendermonaten vom Ende der ersten Ausbildung bis zum Stichtag lagen nur 47 qualifizierte Monate (und nicht die erforderlichen 57) vor, weshalb das Klagebegehren in allen Instanzen abgewiesen wurde.

1.2.
Literatur und Gesetzesmaterialien

Der OGH betont in allen Entscheidungen den Zweck, den der Gesetzgeber mit dem BBG 2011 mit der Neuregelung des Berufsschutzes verfolgt habe – eine Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes. Die Regelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG sei als Ausnahmeregelung zur Grundregel einschränkend auszulegen. Bereits die erste diesbezügliche oberstgerichtliche OGH-E (10 ObS 50/12v) wurde von Panhölzl (Eingeschränkte Geltung der Hälfteregelung beim Berufsschutz, DRdA 2013, 136) ausführlich und nachvollziehbar kritisiert. Den Erläuterungen, auf die der OGH verweist, sei kein umfassender Verschärfungswille zu entnehmen, den man als Argument für einen gewichtigen Wertungswiderspruch heranziehen könne. Die teleologische Reduktion des OGH führe zu einem Wertungswiderspruch und unsachlichen Ergebnissen. Es sei unsachlich, Betroffene beim Erwerb des Berufsschutzes deshalb zu benachteiligen, weil sie die Qualifikation später erworben haben. Auch Födermayr/Resch in Mosler/Müller/Pfeil (Hrsg), Der SV-Komm § 255 ASVG (Stand 1.3.2020) halten die Kritik Panhölzls für zutreffend. Sonntag (Zum Vorrangverhältnis von beruflicher Rehabilitation und Berufsschutz, ecolex 2017, 1003) geht wohl auch eher von dieser Auslegung aus (arg: Ist der Zeitraum kürzer [als 15 Jahre], weil der Abschluss der Ausbildung noch nicht lange zurückliegt, sieht das Gesetz eine Privilegierung vor). Sonntag ist vor allem auch dahingehend zu folgen, als er zutreffend den Rechtsanspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation in den Vordergrund rückt. Hier spricht er die wahre Zielsetzung des BBG 2011 an: Der Gesetzgeber führt in den Erläuterungen (981 dB 24. GP 203 ff) ganz klar aus, dass mit der Novelle der Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ verstärkt werden soll. Als neue Pflicht- 50 leistung wurde deshalb die pensionsvermeidende berufliche Rehabilitation eingeführt (aaO 203). Dass der zwischenzeitig mit dem SRÄG 2012 (BGBl I 2013/3BGBl I 2013/3) aufgehobene Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation gegenüber dem Pensionsversicherungsträger in § 253e ASVG mit dem SVÄG 2016 (BGBl I 2017/29BGBl I 2017/29) ab 1.1.2017 wieder eingeführt wurde, macht diesen zentralen Ansatz der Reform noch einmal deutlich (1330 dB 25. GP 3). Der Grundsatz Rehabilitation vor Pension sollte effektiver gestaltet werden, um die Wiedereingliederung vorübergehend arbeitsunfähiger Menschen in den Arbeitsmarkt bestmöglich zu gewährleisten. Diesen zentralen Ansatz der Reformen – auch des BBG 2011 – verliert der OGH völlig aus den Augen. Das Gesetz regelt klar, wann Berufsschutz vorliegt: Einerseits in Fällen, in denen in den letzten 15 Jahren 90 qualifizierte Pflichtversicherungsmonate nachgewiesen werden und andererseits in Fällen, in denen seit dem Ende der Ausbildung zumindest die Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber 12 Pflichtversicherungsmonate, einer qualifizierten Tätigkeit vorliegen. Auch dieser Zeitpunkt ist klar definiert – nämlich der Abschluss eines Lehrberufes, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul- oder Lehrabschuss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Tätigkeit als Angestellte/r (siehe § 255 Abs 2a ASVG). In diesen definierten Fällen besteht primär ein Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation und nicht auf Pension!

Der OGH schränkt die Hälfteregelung auf jene Fälle ein, in denen der Erwerb der Mindestversicherungszeit von vornherein (Hervorhebung durch den OGH) nicht möglich war. Zur Begründung zieht er die in den Gesetzesmaterialien genannten Beispiele heran und sieht darin die Sicht des Gesetzgebers manifestiert, der vom Regelfall des Abschlusses einer Lehrausbildung mit ca 18 Jahren und dem anschließenden Eintritt ins Berufsleben ausgegangen sei (siehe dazu Panhölzl, aaO 137). Das in den Erläuterungen (981 dB, 24. GP 205) angeführte erste Beispiel (Abschluss der Schlosserlehre mit 18 Jahren, dann bis 19 Präsenzdienst, vier Jahre Schlosser, zwei Jahre Arbeitslosigkeit, Invaliditätspensionsantrag mit 25) gibt jedenfalls diesbezüglich keinen eindeutigen Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers; die Aussage ist nur, dass Berufsschutz besteht, obwohl keine 90 qualifizierten Monate vorliegen, sondern nur vier Jahre von sieben Jahren des Beobachtungszeitraums (Anm: grundsätzliche Erklärung der Hälfteregelung). Auch im zweiten Beispiel (wieder Abschluss der Schlosserlehre mit 18, einschlägige Tätigkeit bis 25, dann Matura und Studium bis zum 32. Lebensjahr, Pensionsantrag mit 35) findet man mE keine Stütze für die Auslegung des OGH, die Aussage ist folgende: Alle berufsschutzbegründenden Tätigkeiten sind zusammenzuzählen: Facharbeiter, angestellter Maturant, Akademiker. Mit diesem Beispiel wird daher gezeigt, dass bei einem 15-jährigen Beobachtungszeitraum (von 20 bis zum Stichtag mit 35) deshalb Berufsschutz besteht, weil fünf Jahre als Facharbeiter und drei Jahre als Akademiker zusammengezählt werden. Wichtig sind auch die nächsten beiden Sätze der Erläuterungen: Angestelltentätigkeiten gelten grundsätzlich als berufsgeschützt. Bei Angestellten reicht der Berufsschutz daher bis zum Beginn der Angestelltentätigkeit zurück (Ausnahme: Lehre), darauf wird später zum konkreten Fall noch einzugehen sein. Auch das dritte „Schlosserbeispiel“ (Abschluss der Lehre mit 18, dann 13 Monate arbeitslos, dann 14 Monate als Schlosser) erklärt nur noch einmal die Hälfteregelung – Berufsschutz ist zu bejahen, weil 14 von 27 Monaten qualifizierte Tätigkeit vorliegen. In allen Fällen, in denen Berufsschutz gegeben ist, wird im ersten Schritt – bei Vorliegen von Invalidität bzw Berufsunfähigkeit – vorrangig geprüft, ob Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind.

2.
Der vorliegende Fall und ergänzungsbedürftige Feststellungen

Das Berufungsgericht verwies die Rechtssache zur Ergänzung wesentlicher Feststellungen über die konkret ausgeübten Tätigkeiten an das Erstgericht zurück. Der OGH hat unter Hinweis auf seine stRsp dem Rekurs der Bekl Folge gegeben und das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt. Meiner Auffassung nach können bei richtiger rechtlicher Würdigung und sorgfältiger Prüfung zahlreiche ergänzungsbedürftige Punkte gefunden werden. Erforderliche Tatsachenfeststellungen sind in der OGH-E nur schwer nachvollziehbar oder schlicht nicht vorhanden.

2.1.
Tätigkeit als Angestellte

Die Kl erwarb ein Diplom als Krankenschwester und absolvierte eine Ergänzungsausbildung zur Diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester (heute korrekt: Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin gem § 11 GuKG). Wenn sie in diesem Beruf tätig war, hat sie keine Arbeiter-, sondern eine Angestelltentätigkeit ausgeübt. Wie oben ausgeführt wurde, gelten Angestelltentätigkeiten grundsätzlich als berufsgeschützt. Nicht festgestellt wurde, welche Tätigkeiten in den 29 Versicherungsmonaten nach dem Ende der Ergänzungsausbildung konkret ausgeübt wurden (was das OLG als ergänzungsbedürftig ansah; vgl S 6). Ebenso wenig wurden die Tätigkeiten ab Beginn der Berufstätigkeit in Österreich konkret festgestellt. Inwieweit die Kl außerhalb Österreichs berufstätig war, konnte nicht festgestellt werden (S 4 des Urteils).

2.2.
Leistungskalkül

Auf S 4 des Urteils des OGH wird ausgeführt, dass die Kl zum Zeitpunkt der Gewährung des Rehabilitationsgeldes am ersten Arbeitsmarkt nicht arbeitsfähig gewesen sei. Seither sei eine wesentliche Verbesserung eingetreten, weshalb sie die im Ersturteil genannten Verweisungstätigkeiten ausüben könne. Nähere Feststellungen zum Leistungskalkül findet man nicht. 51

2.3.
Entziehungstatbestand

Für eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes sieht das Gesetz unterschiedliche Tatbestände vor. In der vorliegenden E wurde – ohne nur irgendwo darauf Bezug zu nehmen – offenbar die Leistung entzogen, weil vorübergehende Invalidität (Berufsunfähigkeit) nicht mehr vorliegt (§ 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG). In Frage gekommen wäre aber auch die sublit cc leg cit, weil berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind.

2.4.
Erlernung im Ausland

Nach stRsp enthält das innerstaatliche Recht zur Frage, ob durch die Ausübung eines qualifizierten Berufes im Ausland Berufsschutz gem § 255 Abs 1 und 2 ASVG erworben werden kann, keine Regelung; es stellt grundsätzlich auf einen innerstaatlichen Versicherungsverlauf ab. Die bisherige Berufstätigkeit und ihr qualitativer Wert können aber auch nach einer im Ausland verrichteten Tätigkeit zu beurteilen sein, wenn dies durch zwischenstaatliches oder überstaatliches Recht angeordnet wird (RS0114483 mit weiteren Verweisen). Für den Bereich der Lehrberufe wird nach der ständigen Judikatur bei Fehlen einer entsprechenden Gleichstellung in einem Staatsvertrag oder durch Verordnung die Möglichkeit eröffnet, einen rechtsgestaltenden Gleichstellungsbescheid gem § 27a Berufsausbildungsgesetz (BAG) vorzulegen (ua OGH 20.3.2001, 10 ObS 25/01a; RS0116489). An den im Verwaltungsweg vom Wirtschaftsministerium erlassenen Bescheid sind die Gerichte gebunden (RS0052663). Der Versicherte erwirbt die berufliche Qualifikation als Facharbeiter nicht erst mit dem Zeitpunkt der Bescheiderlassung. Der Erwerb einer Qualifikation als Angestellter – außerhalb eines Lehrberufs – hat, soweit ersichtlich, die Gerichte nicht beschäftigt. Im Bereich der Gesundheitsberufe normiert das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG), unter welchen Voraussetzungen mit einer im Ausland erworbenen Ausbildung die Ausübung dieser qualifizierten Tätigkeit in Österreich überhaupt zulässig ist. Gem § 32 GuKG (in der hier anzuwenden Fassung) konnte die Anerkennung der im Ausland erworbenen Ausbildung beantragt werden; bei nicht vollständiger Gleichwertigkeit waren Ergänzungsprüfungen und/oder die Absolvierung von Praktika vorgesehen. Auch nach geltender Rechtslage gibt es im Übrigen für eine außerhalb des EWR erworbenen Qualifikation weiterhin das Instrument der Nostrifikation. Die erforderliche Ergänzungsausbildung absolvierte die Kl vom Oktober 2014 bis Juli 2015. Ob die Nostrifikation dann stattfand, könne nicht festgestellt werden (S 3 unten), in der Berufung habe die Kl vorgebracht, dass eine Nostrifikation vorliege (S 8 oben). Diese wirkt jedenfalls ex nunc, weshalb eine Tätigkeit als Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger/in in Österreich erst ab diesem Zeitpunkt überhaupt zulässig war.

3.
Schlussfolgerungen

Der OGH gelangt mit seiner sehr einschränkenden und mE unrichtigen Auslegung der Hälfteregelung in § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG zu vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Ergebnissen. Mit seiner verkürzten und verallgemeinernden Argumentation zu den Zielen des BBG 2011, die Anforderungen betreffend den Berufsschutz sollten verschärft werden, wird das Ziel des Gesetzgebers einer verstärkten Rehabilitation jedenfalls zum Teil zunichte gemacht. Nach dieser Judikatur müssen Versicherte ihre Chance im ersten Bildungsweg nützen und genügend qualifizierte Versicherungsmonate erwerben, wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Eigeninitiative und Weiterbildungswille werden nicht anerkannt, sowohl im Fall eines ersten Qualifikationserwerbs in „fortgeschrittenem“ Alter (OGH 3.5.2012, 10 ObS 50/12v [Köchin], OGH, 19.7.2016, 10 ObS 86/16v [Pflegehelferin]) als auch bei einer zweiten Ausbildung (OGH 1.9.2020, 10 ObS 97/20t [Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger/in, Ausbildung des Elektroanlagentechnikers]) und im vorliegenden Fall einer späteren Anerkennung der Ausbildung im Inland. Gerade diese Versicherten hätten in vielen Fällen das Potenzial für eine berufliche Rehabilitation. 52