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Materielle Beschwer des Versicherungsträgers bei ungenügender Anzahl an Schwerarbeitsmonaten

ALEXANDERPASZ (WIEN)
  1. Die Feststellung von Schwerarbeitszeiten führt zur Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf etwaige zukünftige Leistungsansprüche. Damit ist eine materielle Beschwer gegeben, auch wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage zu keiner Leistungspflicht des Versicherungsträgers führen.

  2. Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine Voraussetzung der Rechtsmittelzulässigkeit. Eine Beschwer liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat.

Mit Bescheid vom 17.6.2020 stellte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) fest, dass der am 10.8.1962 geborene Kl zum Feststellungszeitpunkt 1.6.2020 insgesamt 509 Versicherungsmonate erworben habe, lehnte aber die Feststellung von bestimmten Monaten als Schwerarbeitszeiten ab.

Mit seiner dagegen gerichteten Klage begehrt der Kl die Feststellung, dass die von ihm im Zeitraum von 1.1.2003 bis 31.5.2020 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien.

Das Erstgericht stellte daraufhin fest, dass die vom Kl im Jänner und Februar 2016, im Jänner 2017 sowie im Jänner, April und Dezember 2018 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate sind und wies das darüber hinausgehende Feststellungsbegehren ab.

Das Berufungsgericht wies die gegen den klagsstattgebenden Teil des Urteils gerichtete Berufung der Bekl zurück, weil die Feststellung von sechs Schwerarbeitsmonaten auch in Zukunft keinen Anspruch des Kl auf Schwerarbeiterpension begründen könne und die Bekl deshalb nicht beschwert sei.

Mit ihrem dagegen erhobenen und vom Kl beantworteten Rekurs richtet sich die Bekl gegen die Zurückweisung ihrer Berufung und beantragt die E in der Sache iS einer gänzlichen Abweisung der Klage.

Der Rekurs der Bekl ist nach § 19 Abs 1 ZPO zulässig. Er ist auch berechtigt.

1. Nach § 247 Abs 2 ASVG hat der leistungszuständige Pensionsversicherungsträger die Schwerarbeitszeiten iSd § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 4 APG festzustellen, wenn der Versicherte dies frühes tens zehn Jahre vor Vollendung des (frühestmöglichen) Anfallsalters nach § 607 Abs 12 ASVG oder § 4 Abs 3 APG beantragt und aufgrund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen einer abschlagsfreien Pension nach § 607 Abs 14 ASVG oder § 4 Abs 3 APG vor Erreichen des Regelpensionsalters (§ 253 ASVG: Vollendung des 65. Lebensjahres) erfüllt werden.

2. Um im Fall von Schwerarbeit die Vergünstigung einer abschlagsfreien Pension vor Erreichen des Regelpensionsalters in Anspruch nehmen zu können, müssen nach § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG mindestens 120 Schwerarbeitsmonate innerhalb der letzten 240 Kalendermonate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) erworben werden. Diese Voraussetzung kann der Kl bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres am 10.8.2027 nicht mehr erfüllen, auch wenn das Erstgericht sechs Schwerarbeitsmonate in den Jahren 2016 bis 2018 festgestellt hat.

3. Das Rechtsschutzbedürfnis (Beschwer) ist eine Voraussetzung der Rechtsmittelzulässigkeit (RS0043815). Eine Beschwer liegt nur vor, wenn der Rechtsmittelwerber ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen E hat (RS0041746). Dies erfordert grundsätzlich sowohl eine formelle Beschwer, dh, dass die E von dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers abweicht, als auch eine materielle Beschwer, die dann vorliegt, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die E beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt (RS0041868 [T3]; RS0118925). Hingegen fehlt das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, wenn der E nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme, zumal es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, über bloß theoretisch bedeutsame Fragen abzusprechen (RS0002495).

4. Die Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten nach § 247 ASVG hat zur Folge, dass die erworbenen Zeiten bindend festgestellt werden und daher einem künftigen Leistungsverfahren ohne weitere Prüfung zugrunde zu legen sind, wodurch es sich bei diesem Feststellungsverfahren um einen vorgezogenen Teil des Leistungsverfahrens handelt (RS0084976). Die Feststellung des Erstgerichts, dass der Kl sechs Schwerarbeitsmonate erworben habe, hat deshalb zur Folge, dass die Bekl in einem künftigen Leistungsverfahren diese Schwerarbeitszeiten nicht mehr bestreiten kann, wodurch in ihre prozessuale Rechtsstellung eingegriffen wurde. Richtig ist zwar, dass die vom Erstgericht festgestellten Schwerarbeitsmonate nach derzeitiger Rechtslage keine Pensionsansprüche des Kl begründen können, doch ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtslage ändert.

5. Das Berufungsgericht hat sich auf die E des OGH zu 10 ObS 97/21v gestützt, in der einem Versicherten, der mit seiner Berufung die Feststellung von zwölf Schwerarbeitsmonaten begehrte, die Beschwer abgesprochen wurde, weil er die Mindestzahl von 120 Schwerarbeitsmonaten bis zum Regelpensionsalter nicht mehr erreichen konnte. Diese E betraf aber einen Fall, in dem das Erstgericht dem Versicherten diese zwölf Schwerarbeitsmonate ohnehin zugebilligt, das Feststellungsbegehren aber mangels Feststellungsinteresse abgewiesen hatte, wodurch – anders als im vorliegenden Fall – gerade keine bindende Feststellung über das Vorliegen von Schwerarbeitszeiten getroffen wurde. 41

6. Da die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu einer Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf künftige Leistungsansprüche führt, ist eine Beschwer auch dann anzunehmen, wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage keine Leistungsansprüche des Versicherten begründen können, weshalb das Berufungsgericht die Berufung der Bekl nicht mangels Beschwer zurückweisen hätte dürfen.

[...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Mit der gegenständlichen E befasste sich der OGH mit dem Rechtsschutzinteresse des Versicherungsträgers in einem Verfahren, in dem das Erstgericht nur einige wenige, für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen einer Schwerarbeitspension ungenügende Anzahl an Schwerarbeitsmonaten festgestellt hat. Hintergrund ist, dass sich Versicherte Schwerarbeitsmonate durch den Pensionsversicherungsträger feststellen lassen können. Die Feststellung der Versicherungszeiten bzw Schwerarbeitszeiten ist als „vorgezogener Teil“ eines Leistungsverfahrens (grundlegend für die Feststellung von Schwerarbeitszeiten: OGH 10.10.2017, 10 ObS 103/17w) anzusehen und umfasst die in Monate zusammengefassten Versicherungszeiten sowie deren zeitliche Lage. Der Zweck einer bereits vor dem Antrag auf die Schwerarbeitspension beantragten Feststellung der erworbenen Versicherungsmonate als Schwerarbeitsmonate ist im Hinblick auf etwaige Beweisschwierigkeiten länger zurückliegender Sachverhalte für die Versicherten von Vorteil.

Schwerarbeitsmonate sind Versicherungsmonate, in denen Versicherte unter psychisch oder physisch besonders belastenden Arbeitsbedingungen Schwerarbeit iSd Verordnung der Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz über besonders belastende Berufstätigkeiten (SchwerarbeitsVO) idF BGBl II 2019/413 geleistet wurde. Die SchwerarbeitsVO führt taxativ sechs Tatbestände an, die Schwerarbeit darstellen. Beispielhaft kann hierbei der Tatbestand der schweren körperlichen Arbeit nach § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO angeführt werden. Diese stellt Schwerarbeit dar, wenn ein geschlechtsspezifischer Arbeitsenergieverbrauch bei einem achtstündigen Arbeitstag in Kilojoule bzw Kilokalorien verbraucht wurde. Die Feststellung von Schwerarbeitszeiten kann frühestens zehn Jahre vor Vollendung des (frühestmöglichen) Anfallsalters für eine Schwerarbeitspension nach § 4 Abs 3 APG beantragt werden, soweit aufgrund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzung der notwendigen Versicherungsmonate für eine Schwerarbeitspension vor Erreichen des Regelpensionsalters erfüllt werden kann.

Die Schwerarbeitspension nach § Abs 3 APG ist ab der Vollendung des 60. Lebensjahres möglich. Dazu müssen 540 Versicherungsmonate (45 Jahre)

sowie innerhalb der letzten 240 Kalendermonate (20 Jahre) vor dem Stichtag mindestens 120 Schwerarbeitsmonate (10 Jahre) vorliegen. Die Qualifikation der notwendigen 540 Versicherungsmonate ist unerheblich, auch Zeiten der Arbeitslosigkeit bei Bezug einer Geldleistung vom Arbeitsmarktservice werden daher zur Erfüllung dieser Anspruchsvoraussetzung angerechnet. Für Frauen ist die Schwerarbeitspension nach dem APG erst ab dem Jahr 2024 interessant, da sie derzeit noch regulär mit Vollendung des 60. Lebensjahres die Alterspension in Anspruch nehmen können. Erst beginnend mit 1.1.2024 (bis zum Jahr 2033: Anhebung um sechs Monate pro Jahr) wird gem § 3 des Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl 1992/832, das Regelpensionsalter von Frauen auf das der Männer angehoben. Die Feststellung von Schwerarbeitsmonaten kann für Frauen jedoch zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen einer Langzeitversicherungspension mit Schwerarbeit gem § 607 Abs 14 ASVG sinnvoll sein. Frauen mit Geburtsdatum nach dem 31.12.1958 und vor dem 1.1.1964 können die Langzeitversicherungspension mit Schwerarbeit mit Vollendung des 55. Lebensjahres in Anspruch nehmen, soweit sie 480 Beitragsmonate erworben haben. Als Beitragsmonate gelten insb Zeiten der Pflichtversicherung aufgrund Erwerbstätigkeit oder höchstens 60 Monate der Kinderziehung. Ersatzzeiten, wie bspw Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe, zählen nicht als Beitragsmonate. Die Langzeitversicherungspension mit Schwerarbeit hat für Männer aufgrund der im Vergleich zur Schwerarbeitspension nach dem APG höheren Anspruchsvoraussetzungen bzw Begrenzung auf bestimmte Jahrgänge keine Relevanz. Aufgrund der hohen Anspruchsvoraussetzungen ist die Langzeitversicherungspension mit Schwerarbeit für Frauen tendenziell eine Randerscheinung. Darüber hinaus ist sie durch die Begrenzung auf bestimmte Jahrgänge auch ein Auslaufmodell. Gemäß dem PVAJahresbericht 2021 (online abrufbar unter https://www.pv.at/cdscontent/?contentid=10007.707570&portal=pvaportalhttps://www.pv.at/cdscontent/?contentid=10007.707570&portal=pvaportal; abgerufen am 20.11.2022) gab es im Jahr 2021 581 Pensionsneuzugänge von Frauen, denen die Langzeitversicherungspension mit Schwerarbeit zugesprochen wurde, wohingegen im gleichen Jahr 5.040 Männer die Schwerarbeitspension angetreten haben.

Der Vorteil einer Schwerarbeitspension besteht in einem privilegierten, dh verminderten Abschlag. Ein Abschlag bezeichnet im sozialversicherungsrechtlichen Sinne die Verminderung einer Leistung bei vorzeitigem Pensionsantritt. Hintergrund ist der längere Pensionsbezug der Versicherten, der unter Zugrundlegung versicherungsmathematischer Grundsätze damit ausgeglichen wird (vgl Rainer/Pöltner in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 5 APG Rz 30). Bei der Schwerarbeitspension beträgt der Abschlag gem § 5 Abs 2 APG 0,15 % für jeden Monat des früheren Pensionsantrittes. Nachdem die Schwerarbeitspension frühestens fünf Jahre vor dem Regelpensionsalter beansprucht werden kann, beläuft sich der höchst 42 mögliche Abschlag bei der Schwerarbeitspension auf 9 % (0,15 % x 60 Monate). Unrichtigerweise führte der OGH in der E an, dass es bei einer Schwerarbeitspension zu einer abschlagsfreien vorzeitigen Pension kommt.

2.
Keine Feststellung von Schwerarbeitsmonaten, auch wenn Schwerarbeit geleistet wurde?

Das Feststellungsinteresse gründet in § 228 ZPO und führt dazu, dass das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, Rechtes oder der Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde mit Klage festgestellt werden kann, wenn der Kl einen aktuellen Anlass zur „alsbaldigen“ Klarstellung hat (vgl Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny [Hrsg], Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen III3/1, § 228 ZPO Rz 90). Ein typischer Anwendungsfall ergibt sich in Schadenersatzprozessen, bei denen die stRsp die Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden aus einem schädigenden Ereignis für zulässig erachtet.

Feststellungsklagen können sich neben der Bestimmung des § 228 ZPO auch aus dem materiellen Recht ableiten. Man spricht in diesem Zusammenhang von materiell-rechtlichen Feststellungsklagen (vgl Kodek/Mayer, Zivilprozessrecht5 [2021] Rz 514). Hierbei ist strittig, ob diese Klagen auf der Bestimmung des § 228 ZPO gründen und daher die dort angeführte Voraussetzung des „alsbaldigen Feststellungsinteresses“ nicht zu beweisen wäre. Richtig ist wohl, dass die entsprechenden Tatbestände im materiellen Recht die Alsbaldigkeit darlegen (vgl Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny [Hrsg], Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen III3/1, § 228 ZPO Rz 33). Im Falle der Feststellung von Schwerarbeitszeiten manifestiert sich diese darin, dass die Feststellung gem § 247 Abs 2 ASVG frühestens zehn Jahre vor Vollendung des (frühestmöglichen) Anfallsalters für eine Schwerarbeitspension beantragt werden kann sowie der Voraussetzung, dass „auf Grund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen nach § 607 Abs 14 dieses Bundesgesetzes oder nach § 4 Abs 3 APG vor Erreichung des Regelpensionsalters erfüllt werden“.

Sofern die Voraussetzungen des § 247 Abs 2 ASVG nicht erfüllt werden, können auch keine Schwerarbeitsmonate festgestellt werden. Dies führte dazu, dass nicht in allen Fällen, in denen Versicherte Schwerarbeit im Rahmenzeitraum gem § 247 Abs 2 leg cit tatsächlich leisten, dementsprechend auch als Schwerarbeitsmonate festgestellt werden können. Mit der Leitentscheidung in 10 ObS 97/21v vom 22.6.2021 stellte der OGH klar, dass ein Begehren auf Feststellung von Schwerarbeitszeiten abzuweisen ist, soweit bis zur Vollendung des Regelpensionsalters die Anspruchsvoraussetzungen einer Schwerarbeitspension nicht erreicht werden können. Nach den Feststellungen der E leistete der Kl zwar insgesamt zwölf Schwerarbeitsmonate, diese zwölf Monate konnten jedoch mangels Feststellungsinteresse nicht zugesprochen werden. Eine Abweisung aufgrund fehlendem Feststellungsinteresse führt jedoch nicht dazu, dass über das Vorliegen von Schwerarbeit abgesprochen wird. Die materielle Rechtskraftwirkung des wegen Fehlens des Feststellungsinteresses abweisenden Urteils betrifft nur den entsprechenden Abweisungsgrund, nämlich das fehlende Feststellungsinteresse (vgl Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny [Hrsg], Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen III3/1, § 228 ZPO Rz 134). Somit wird in diesen Fällen nicht über das Vorliegen von Schwerarbeit in den betroffenen Versicherungsmonaten abgesprochen und Versicherte könnten daher – bspw bei geänderter Rechtslage – in einem erneuten Feststellungsverfahren Schwerarbeitsmonate feststellen lassen, sofern die Voraussetzungen des § 247 Abs 2 ASVG dann erfüllbar wären.

3.
Die Beschwer als Voraussetzung zur Überprüfung einer Entscheidung

Das Vorliegen der Beschwer ist notwendige Voraussetzung zur Anrufung einer höheren Instanz (zuletzt: OGH 23.1.2019, 3 Ob 18/18w). Es ist zwischen formeller und materieller Beschwer zu unterscheiden.

Formelle Beschwer liegt dann vor, wenn die gerichtliche Entscheidung zum Nachteil vom Sachantrag der Partei abweicht. Materielle Beschwer liegt vor, wenn eine Entscheidung die materielle oder prozessuale Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers beeinträchtigt. Die formelle Beschwer reicht nach stRsp nicht immer aus, um eine Entscheidung in der Sache über eine Berufung herbeizuführen (grundlegend: OGH 19.12.1994, 4 Ob 576/94). Hintergrund der Voraussetzung einer Beschwer zur Einbringung eines Rechtsmittels ist auch, dass es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, über bloß theoretische Fragen abzusprechen. Ein Rechtsschutzbedürfnis ist daher nicht gegeben, wenn der E nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukommt.

4.
Zur Beschwer in der OGH-Entscheidung 10 ObS 12/22w

Die gegenständliche E 10 ObS 12/22w betrifft die Fallkonstellation, dass ein Erstgericht dem Versicherten sechs Schwerarbeitsmonate mit Urteil zusprach. Die sechs zugesprochenen Schwerarbeitsmonate fanden sich daher im Urteilsspruch wieder. Vor dem Hintergrund des fraglichen Feststellungsinteresses des Versicherten stellt sich die Frage, inwiefern eine solche E bekämpft werden kann.

Es ist davon auszugehen, dass die formelle Beschwer in der E 10 ObS 12/22w gegeben war. Der Versicherungsträger dürfte im erstinstanzlichen Verfahren die Abweisung des gesamten Klagebegehrens beantragt haben, womit das Urteil des LG St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht nicht dem Sachantrag des Versicherungsträgers entsprach. Schwieriger gestaltet sich die Beurteilung der materiellen Beschwer. Hierzu hielt der OGH anhand seiner bisherigen Rsp fest, dass „bei der Feststellung von Versicherungs43und Schwerarbeitszeiten nach § 247 ASVG die Folge eintritt, dass die erworbenen Zeiten bindend festgestellt werden und daher einem künftigen Leistungsverfahren ohne weitere Prüfung zugrunde zu legen sind“. Dies bedeutet, dass in die prozessuale Stellung des Versicherungsträgers eingegriffen wird, da dieser diese Feststellung in einem künftigen Leistungsverfahren nicht mehr bestreiten könnte. Die E fällt somit für den Versicherungsträger (materiell) ungünstig aus. Darüber hinaus ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtslage zukünftig ändert und die vom Erstgericht festgestellten sechs Schwerarbeitsmonate zu einem Leistungsanspruch der PVA führen würden. Diesen Argumenten ist zuzustimmen, doch erscheint Letzteres prima facie eigenartig, da es auch auf das Feststellungsinteresse des Versicherten umgelegt werden könnte.

Eine Änderung der Rechtslage, die dazu führt, dass sechs Schwerarbeitsmonate zu einer Leistungspflicht des Pensionsversicherungsträgers führen, müsste schließlich auch ergeben, dass ein Versicherter ein Feststellungsinteresse für sechs Schwerarbeitsmonate hat. Dagegen spricht jedoch der Wortlaut der Regelung des § 247 Abs 2 ASVG, nach dem die Feststellung von Schwerarbeitszeiten nur möglich ist, wenn auf Grund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen der Schwerarbeitspension vor der Erreichung des Regelpensionsalters erfüllt werden können. Die Nichtbejahung der Beschwer in Fällen, wie in jenem der OGH-E 10 ObS 12/22w würde zudem zur kuriosen Situation führen, dass zukünftig in diesen Fallkonstellationen willkürlich Schwerarbeitsmonate festgestellt werden könnten, ohne dass die Voraussetzungen des § 247 Abs 2 ASVG von den Rechtsmittelinstanzen überprüfbar wären. Im Hinblick auf das Ziel einer einheitlichen Rsp erscheint der Ausgang dieser E daher nachvollziehbar. Der OGH bejahte – entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts – die Beschwer und verwies die Sozialrechtssache zur Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurück.

5.
Resümee

Der Pensionsversicherungsträger hat bei der Feststellung von Schwerarbeitszeiten, die – im Hinblick auf ihre Anzahl – einem Versicherten nicht die Vergünstigung der Schwerarbeitspension verhelfen können, ein Rechtsschutzinteresse. Nachdem die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zur Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf etwaige zukünftige Leistungsansprüche führt, ist eine materielle Beschwer zu bejahen, auch wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage zu keinen Leistungsansprüchen des Versicherten und damit auch zu keiner Leistungspflicht des Versicherungsträgers führen können. In zwei weiteren Entscheidungen (OGH 24.5.2022, 10 ObS 52/22b; OGH 28.7.2022, 10 ObS 38/22v) bekräftigte der OGH diese Rechtsansicht. Für Versicherte ergibt sich damit jedoch kein Grund zur Sorge. Soweit der Gesetzgeber die Zugangsvoraussetzungen der Schwerarbeitspension dahingehend ändern würde, dass eine geringere Anzahl an Schwerarbeitsmonaten notwendig ist, wären diese Schwerarbeitsmonate weiterhin feststellbar, da die materielle Rechtskraftwirkung nur den Abweisungsgrund des fehlenden Feststellungsinteresses betrifft.