StolzenbergILO und EU. Zum Gebot der Berücksichtigung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation bei der Auslegung des Unionsrechts

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2021, 419 Seiten, € 113,–

ANDREASMAIR (INNSBRUCK)

Der Arbeit von Stolzenberg liegt eine interessante Ausgangskonstellation zugrunde, in der ein üblicherweise mit dem Attribut „soft-law“ versehenes völkerrechtliches Normenwerk in Beziehung zu einer supranationalen Rechtsordnung mit Verbindlichkeitsanspruch gesetzt wird. Dass die im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) geschaffenen Regelungen aus der Sicht des Unionsrechts aber nicht nur als unverbindliche Vorgaben oder bloße Empfehlungen begriffen werden können, haben nicht zuletzt mehrere Entscheidungen des EuGH zum Urlaubsrecht deutlich gemacht, in denen der EuGH auf das ILO-Übereinkommen Nr 132 über den bezahlten Jahresurlaub Bezug nahm, um unionsrechtliche Bestimmungen auszulegen bzw festere Konturen zu verleihen. Dementsprechend ist das mit der vorliegenden Arbeit verbundene Erkenntnisziel bestens gewählt, geht es Stolzenberg doch im Kern darum, der Normsetzungsarbeit der ILO zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen und deren normative Relevanz für das Unionsrecht herauszuarbeiten. Immerhin identifiziert Stolzenberg im Anschluss an Alan Bogg gleich sechs unterschiedliche Fallkonstellationen, in denen die EU und ihre Rechtsordnung mit der ILOWelt in Kontakt treten können. Aus dogmatischer Sicht ist dabei naturgemäß das Verhältnis des EuGH zu den Rechtsnormen der ILO bzw zu den Berichten der Überwachungsausschüsse von besonderem Interesse.

Im ersten Teil der Arbeit nimmt Stolzenberg eine gut lesbare Charakterisierung der Normen der ILO vor. Behandelt werden dabei die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO, das Prozedere von deren normsetzender Tätigkeit, die Einteilung der ILO-Dokumente539 in Übereinkommen, Empfehlungen und Erklärungen sowie Fragen des Kontrollverfahrens und der Normeninterpretation. In diesem Zusammenhang diskutiert Stolzenberg auch die Frage nach einer stärkeren Einbindung der EU in die normsetzende Tätigkeit der ILO, wobei Stolzenberg – mE zu Recht – auf die damit verbundene Gefahr einer Schwächung der nationalen und europäischen Sozialpartner hinweist. Eingehend widmet sich Stolzenberg auch dem wichtigen Komplex der Normeninterpretation. Starke Beachtung verdient dabei die Beleuchtung der Rolle des EGMR bei der Rezeption von ILO-Übereinkommen und der dazu ergangenen Spruchpraxis, werden doch über die vom EGMR mit deren Hilfe vorgenommenen Interpretationen einzelner Gewährleistungen der MRK ausgewählte Rechtsakte der ILO für Österreich auch unmittelbar verfassungsrelevant.

Der zweite Teil der Arbeit benennt Konfliktpunkte zwischen ILO-Recht einerseits und Unionsrecht andererseits. Besonders hervorgehoben werden dabei die Entscheidungen des EuGH in den Rs Laval und Viking behandelt, bei denen das vom EuGH statuierte Erfordernis, das Recht, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen, gegenüber dem Postulat der effektiven Ausübung der Binnenmarktfreiheiten abwägen zu müssen, aus Sicht der ILO Probleme der Übereinstimmung des solcherart vom EuGH interpretierten Unionsrechts mit den ILO-Übereinkommen Nr 87 und 98 aufwerfen. Die von Stolzenberg dabei erwähnte Beschwerde in der Rs Norwegian Confederation of Trade Unions (LO)/Norwegen, die vor dem normativen Hintergrund der von Art 11 Abs 1 MRK geschützten Koalitionsfreiheit den EGMR um eine Klärung der Frage nach der Zulässigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung von Arbeitskampfmaßnahmen am Maßstab der Binnenmarktfreiheiten ersucht hat, hat der EGMR mittlerweile mit Urteil vom 10.9.2021 zulasten der beschwerdeführenden Organisation entschieden.

Im dritten Teil der Arbeit diskutiert Stolzenberg die Möglichkeit, die EU an die Normen der ILO völkerrechtlich zu binden. Der Autor weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die vier Kernarbeitsnormen der ILO (Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen, Beseitigung der Zwangsarbeit, Abschaffung der Kinderarbeit und das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf), welche sich als Völkergewohnheitsrecht präsentieren und als solche alle Völkerrechtssubjekte und damit auch die EU verpflichten, deshalb dazu dienen können, unionsrechtliche Regelungen im Lichte dieser vier grundlegenden Prinzipien zu interpretieren.

Den Kern der Arbeit bilden die Ausführungen über die unionsrechtlichen Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen. Im Lichte aktueller Judikaturentwicklungen sind naturgemäß die Ausführungen über die Beachtlichkeit von ILO-Normen bei der Interpretation von Gewährleistungen der GRC von besonderem Interesse. Stolzenberg untersucht dabei zunächst Regelungen der GRC, die als Einfallstüre für die Wirkkraft von ILO-Normen dienen können. Dabei kommt der Autor zwar einerseits zum Ergebnis, dass Art 53 GRC nicht als eine umfassende Transferklausel für ILO-Normen dienen kann, andererseits sieht Stolzenberg in der Bestimmung von Art 52 Abs 3 Satz 1 GRC, derzufolge die Gewährleistungen der GRC, soweit sie die den durch die MRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Gewährleistungen der MRK haben. Da der EGMR in seiner Judikatur auf Gewährleistungsinhalte von ILO-Normen Bezug nimmt, können diese über Art 52 Abs 3 Satz 1 GRC auch Relevanz für themenparallele Charta- Gewährleistungen erhalten. Ergänzend dazu widmet sich Stolzenberg der Einwirkung des ILO-Übereinkommens Nr 132 über den bezahlten Jahresurlaub auf das unionale Urlaubsrecht. Das Potential des genannten Übereinkommens, eine Rechtserkenntnisquelle für die Regelung von Art 7 RL 2003/88/EG sein zu können, wird vom Autor anhand der einschlägigen Urteile des EuGH eingehend dargestellt. Allerdings beurteilt Stolzenberg den Willen zur zukünftigen Beachtung von Vorgaben aus dem ILO-Bereich durch die EU und deren Gerichtshof aber eher zurückhaltend, sodass der Autor im abschließenden Kapitel seiner Arbeit mögliche Ansatzpunkte zur stärkeren tatsächlichen Berücksichtigung von ILO-Normen entwickelt. Sehr bedenkenswert ist dabei mE der Vorschlag, eine zweite Erläuterung zur GRC zu schaffen, mit der die völkerrechtlichen Bezugspunkte der einzelnen Charta-Gewährleistungen stärkere Sichtbarkeit bekommen könnten.

Insgesamt überzeugt die Arbeit von Stolzenberg durch eine inhaltlich dichte und sprachlich angenehm formulierte Darstellung und Aufarbeitung des Beziehungsverhältnisses zwischen ILO und EU. Dabei verschafft die Arbeit wertvolle Einblicke in den zu Unrecht unterbelichteten Normenkosmos der ILO und entwickelt zudem überzeugende Ansätze zu dessen stärkerer Effektuierung im Bereich der EU. Es versteht sich somit gleichsam von selbst, der Arbeit und deren Erkenntnissen starke Beachtung zu wünschen! 540