LettmeierFunktionselemente der Koalitionsfreiheit nach Art 11 EMRK – Vorgaben von Art 11 Abs 1 Hs. 2 EMRK für die Gestaltung kollektiver Beziehungen

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2021, 210 Seiten, gebunden, € 74,90 (E-Book € 67,90)

THOMASPFALZ (KLAGENFURT)

Zu besprechendes Werk ist die Dissertation von Florian Lettmeier aus München (Ludwig-Maximilians-Universität München [LMU]/Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht [ZAAR]). Die Arbeit beginnt mit der Feststellung, dass eine systematische Aufarbeitung der Koalitionsfreiheit nach Art 11 EMRK bislang nicht stattgefunden hat. Die Diskussion dazu beschränke sich häufig auf einzelne Aussagen des EGMR zu individuellen Konstellationen und deren potentielle Bedeutung für die jeweilige nationale Rechtsordnung der DiskutantInnen. Der Autor hat sich daher als Ziel gesetzt, allgemeingültige Vorgaben der in Art 11 EMRK verbürgten Koalitionsfreiheit zu finden. Das deutsche Verfassungsrecht, das in Art 9 GG (insb in dessen Abs 3) die Betätigung in Koalitionen von AN und AG auch grundrechtlich absichert, wird nicht behandelt.

Nach terminologischen Klarstellungen für den Verlauf der Arbeit (21-24) stellt der Autor instruktiv die Vielfalt der Systeme dar, nach denen kollektive Beziehungen zwischen AN und AG in den Konventionsstaaten organisiert sind (25-33). Erläutert werden auch einige Versuche, diese Systeme nach verschiedenen Parametern zu klassifizieren (zB Rebhahn, EuZA 2010, 62). Homogene und deutlich abgrenzbare Cluster ließen sich so allerdings nicht bilden. Da die nationalen Gestaltungen der Koalitionsfreiheit keine Einheitlichkeit erkennen lassen, zweifelt der Autor daran, dass Art 11 EMRK überhaupt allgemeingültige Vorgaben enthält.

Das Kernstück der Arbeit bildet die Untersuchung der Judikatur des EGMR zur Koalitionsfreiheit. In einem ersten Abschnitt (34-66) wird ein Überblick über die 48 ausgewerteten Urteile des EGMR gegeben. Schon die übersichtliche Zusammenstellung der Rsp (38-43) ist für jeden Leser ein Gewinn. Auch die Transparenz der Auswahlkriterien und die teilweise statistische Auswertung der Judikatur sind positiv hervorzuheben.

Der Autor geht auf die begrenzte Aussagekraft von Urteilen des EGMR und strukturelle Auslegungsfragen der Konvention überhaupt ein. Er verortet die EGMR-Judikatur dabei in der Nähe des case-law nach angelsächsischer Prägung. Der Autor mahnt zu Zurückhaltung bei Verallgemeinerung von Aussagen 538 des EGMR und streicht die Notwendigkeit der Kontextualisierung (Bedachtnahme auf Sachverhalt und jeweilige Rechtsordnung) hervor. Diese Vorbehalte sind zweifellos berechtigt, können aber, hängt man sie bewusst allzu hoch, auch willkommene Möglichkeit bieten, sich bestehenden Vorgaben zu entziehen. (Ein Schelm, wer dabei an die jüngere österreichische Rsp zum Urlaubsrecht denkt.) Auch wird diese zurückhaltende Vorgangsweise nicht konsequent durchgehalten (zB 106, 146, 153).

Im nächsten Abschnitt (67-116) untersucht der Autor, ob sich aus der Judikatur des EGMR bestimmte Strukturmerkmale der Koalitionsfreiheit ableiten lassen. Mit Strukturmerkmalen sind dabei Merkmale gemeint, die ein Art 11 EMRK genügendes System kollektiver Beziehungen jedenfalls enthalten muss. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass der EGMR keine solche notwendigen Bedingungen aufstellt. Im Bereich der Koalitionsfreiheit sei der Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten besonders weit; und zwar ua aufgrund der wirtschafts- und sozialpolitischen Sensibilität der Materie, des Fehlens eines gemeinsamen europäischen Standards und der Art der Verpflichtung (positive Schutzpflicht des Staates).

In der Folge legt der Autor – wieder unter Berücksichtigung der EGMR-Judikatur – den Fokus auf den Zweck von AN- bzw AG-Koalitionen und unterteilt diesen in Funktionselemente. Der Autor macht fünf Funktionselemente der Koalitionsfreiheit aus: Gewerkschaftsgründung und -beitritt (1.), Verbot von Absperrklauseln (2.), Recht einer Gewerkschaft, gehört zu werden (3.), Führen von Kollektivvertragsverhandlungen (4.) und Streikrecht (5.) Diese Elemente müssten die der EMRK unterworfenen Rechtsordnungen gewährleisten, wobei für bestimmte Fälle auch weitreichende Einschränkungen bis zum Ausschluss einzelner Elemente (zB Streikverbot für Beamte) möglich seien. Der Befund erinnert an ein (begrenzt) bewegliches System iS Wilburgs, auch wenn der Autor diesen Begriff nicht verwendet.

Insgesamt ist festzuhalten, dass das vorliegende Werk gut und flüssig geschrieben ist und vom Rezensenten mit Gewinn gelesen wurde. Erfreulich und nicht selbstverständlich ist, dass der Autor – mit Krejcis Monographie zum Streikrecht (2015) als einziger bemerkenswerter Ausnahme – auch österreichisches Schrifttum berücksichtigt. Die nachhaltige Leistung der Arbeit liegt wohl in der umfangreichen Kompilation der Judikatur des EGMR. Die Grundthese eines funktionalen Verständnisses der Koalitionsfreiheit, das im Wesentlichen eine Orientierung am Normzweck verlangt, ist auch sicher richtig.

Allerdings bleibt der Autor – so ehrlich muss man sein – bei der Auswertung und Würdigung der Rsp häufig in Ansätzen stecken. Entscheidende Fragen und Probleme werden nur sehr knapp erörtert und mitunter ohne oder nur mit kryptischer Begründung zu einem vermeintlichen Abschluss geführt (75, 109, 114-116, 128, 142, 153, 168). Das gilt etwa für die Vorgangsweise des EGMR in der bedeutenden Rechtssache Demir, wo der Gerichtshof seine Judikatur unter Heranziehung anderer internationaler Regelungsinstrumente (gleich welcher Rechtsqualität und Bindungswirkung) weiterentwickelt hat. Dazu heißt es lapidar: Was relevant sei, dh, welche Rechtsquellen er verwende, obliege dem EGMR (95).

Die gezogenen Schlüsse, die stets darauf hinauslaufen, dass der Judikatur des EGMR keine allgemeingültigen Vorgaben entnommen werden können, scheinen daher manchmal vorschnell. Das gefundene Ergebnis kann somit eine gewisse Plausibilität, aber keine durchschlagende Überzeugungskraft für sich beanspruchen. Wenn die Ableitungen des Autors stimmen, könnte der Koalitionsfreiheit nach Art 11 EMRK nicht mehr entnommen werden, als dass die Mitgliedstaaten im Großen und Ganzen eine effektive (was immer das heißen mag) Interessenvertretung in AN- und AG-Verbänden ermöglichen müssen. Gesetzliche Einschränkungen der Koalitionsfreiheit könnten die Mitgliedstaaten nach ihrem Ermessen festlegen, solange sie dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Eine solche grundrechtliche Absicherung der Koalitionsfreiheit müsste man als konturlos bezeichnen.

Insgesamt hat der Autor zweifellos einen anregenden Beitrag zur Diskussion der Koalitionsfreiheit nach Art 11 EMRK geliefert, ist dabei aber vielleicht auf halbem Wege stehen geblieben.