TreichelZur Notwendigkeit einer Umsetzung der Vereinbarkeitsrichtlinie 2019/1158 vom 20. Juni 2019 in das geltende Arbeits- und Sozialrecht

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2021, 143 Seiten, broschiert, € 41,10

FLORIAN G.BURGER (INNSBRUCK)

Das hier zu besprechende Buch ist der erste Band der neu begründeten Schriftenreihe „Abhandlungen zum deutschen und internationalen Arbeits- und Sozialrecht“ im Verlag Duncker & Humblot, die der etablierten Reihe „Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht“ desselben Verlags beigestellt wurde. Der Schwerpunkt der neuen Schriftenreihe liegt wohl in einer mehr grenzüberschreitenden Themensetzung oder im geringeren Umfang der darin veröffentlichten Werke. So wird im ersten Band ein Rechtsgutachten zur Umsetzung der RL 2019/1158/EU zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige („Vereinbarkeits-RL“) veröffentlicht, das Stefan Treichel, Professor für Recht in Sozial- und Gesundheitsberufen an der Hochschule Emden/Leer, im Auftrag des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes erstellt hat.

Die Vereinbarkeits-RL löst die Elternurlaubs-RL 2010/18/EU ab, die noch im Rahmen des Europäischen Sozialen Dialogs entstanden ist. Dem Rechtsrahmen zur Umsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes von Frauen und Männern hinsichtlich der Chancen auf dem Arbeitsmarkt und der Behandlung am Arbeitsplatz setzt die Vereinbarkeits-RL einen weiteren Baustein hinzu. Sie möchte durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben der Unterrepräsentation von Frauen im Berufsleben begegnen und ihre Laufbahnentwicklung unterstützen. Dabei verfolgt sie einen breiter angelegten Ansatz als ihre Vorgängerregelung, indem sie auch Betreuungs- und Pflegeaufgaben berücksichtigt, die größtenteils nach wie vor von Frauen übernommen werden, „da der Rechtsrahmen derzeit unzureichend ist, um eine gerechtere Aufteilung der beruflichen und familiären Pflichten zwischen Frauen und Männern zu fördern und zu erleichtern“ (KOM[2017] 253 endg). Die neue Vereinbarkeits-RL ist von den Mitgliedstaaten bis zum 2.8.2022 (in der Einleitung auf S 13 irrtümlich 537 mit „22.8.2022“ angegeben) umzusetzen. Damit ist das Thema des hier veröffentlichten Rechtsgutachtens auch für Österreich von Interesse.

Freilich untersucht Treichel den Anpassungsbedarf und die Reformmöglichkeiten des deutschen Arbeitsrechts. Zunächst wirft er als Anflugbefeuerung einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Vereinbarkeits-RL (S 15-20) sowie die maßgebenden Art 23, 33 und 51 Grundrechte-Charta (S 21-37) und ordnet die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in das deutsche Grundgesetz ein (S 38-40). Hauptteil des Gutachtens sind sodann die S 41-113, in dem Treichel fachkundig den notwendigen Umsetzungsbedarf analysiert. Darin dekliniert er die einzelnen Ansprüche der Vereinbarkeits-RL – Vaterschaftsurlaub, Elternurlaub, Urlaub für pflegende Angehörige, Arbeitsfreistellung aufgrund höherer Gewalt, Recht auf Beantragung flexibler Arbeitsregelungen – durch, stellt jeweils ihren Inhalt dar und vergleicht die Anforderungen mit der geltenden deutschen Rechtslage. So empfiehlt Treichel beispielsweise zur Umsetzung des Vaterschaftsurlaubs nach Art 4 Vereinbarkeits-RL ein dem MSchG nachgebildetes Vaterschaftsurlaubsgesetz (S 49) und spricht sich bezüglich der Vergütung für eine Orientierung am Entgeltfortzahlungsanspruch gem § 4 EFZG und nicht am Krankengeldanspruch gem §§ 44 ff SGB V aus (S 54). Wegen des erforderlichen Fortbestehens des Erholungsurlaubs während des Vaterschaftsurlaubs befürwortet er die Einführung eine dem § 24 MSchG (Ausfallzeiten wegen eines Beschäftigungsverbots gelten als Beschäftigungszeiten), nicht jedoch eine dem § 17 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) (Aliquotierung des Urlaubsanspruchs während der Elternzeit) entsprechende Regelung (S 56). Mit Blick auf Art 13 Vereinbarkeits-RL empfiehlt er beispielsweise auch, den Vaterschaftsurlaub besser als Gestaltungsrecht einzuführen und nicht als Freistellungsanspruch (S 62). Beim Elternurlaub gem Art 5 Vereinbarkeits-RL erkennt der Gutachter treffsicher die Problematik, dass zwar § 18 BEEG einen gesetzlichen Kündigungsschutz vorsieht, dieser sich aber nicht auf alle „Vorbereitungen für eine Kündigung“ erstreckt, wie es Art 12 Vereinbarkeits-RL fordert (S 74 ff). Die sorgfältige Erarbeitung des Umsetzungsbedarfs, die sich durch das gesamte Gutachten zieht, erkennt man exemplarisch in der Frage, ob der Gesetzgeber am Schwellenwert des § 3 Abs 1 Satz 2 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) weiterhin festhalten kann (S 82 ff): Wiewohl in der Vereinbarkeits-RL keine ausdrückliche Ausnahme für KMU besteht, leitet der Autor eine solche aus Art 153 Abs 2 lit b Satz 2 AEUV ab und fordert dafür eine sachliche Rechtfertigung. Dabei lässt er durchblicken, dass diese nicht allein in der Vermeidung eines zunehmenden Verwaltungsaufwands bestehen kann (S 84). Mit einer Zusammenfassung aller Umsetzungsbedarfe (S 114-118) und der Vereinbarkeits-RL im vollen Wortlaut sowie einem Literatur- und Stichwortverzeichnis im Anhang schließt das Werk ab.

Wenngleich Stefan Treichel einige erforderliche Anpassungen des deutschen Rechts aufzeigt, so ist freilich die Rechtslage in Österreich eine andere. Die Darstellung der Richtlinienvorschriften selbst und grundsätzliche Überlegungen ihrer möglichen Umsetzung können jedoch übernommen werden, wobei man als Leserin oder Leser aus Österreich sich parallel stets fragt, inwiefern die österreichischen Regeln, mit anderen Inhalten und Vokabular, denn noch passen. So besteht beispielsweise – anders als in Deutschland – in § 1a VKG bereits ein Anspruch auf einen Vaterschaftsurlaub, wobei mit dem FamZeitbG ein dritter Weg zwischen Entgeltfortzahlung und Krankengeldanspruch beschritten wird. Die Praktikerin und der Praktiker einschließlich der Gerichtsbarkeit sind jedoch nicht die Zielgruppe des Buches. Nutzbringend ist es nur für jene, die sich mit Fragen der Umsetzung der Vereinbarkeits-RL in Wissenschaft, Legistik und Interessenvertretung auseinandersetzen möchten. Für sie kann das Buch guten Herzens empfohlen werden.