„Man nehme ... vielleicht Zucker oder Honig und eine Vergiftung kann nicht stattfinden.“ Bleiarbeiter:innen in Österreich. Ein vergessenes Kapitel aus der Geschichte des Arbeitnehmer:innenschutzes

SABINELICHTENBERGER (WIEN)

Am 11.12.1906 findet sich auf der Titelseite der „Allgemeinen medizinischen Zeitung“* folgende Notiz: „Über einen Fall gewerblicher Bleilähmung bei einer dreizehnjährigen.“ Der Bericht stammt von dem Spitalsassistenten Dr. B. Mautner. Es wird berichtet, dass im Kinderspital eine 13-jährige Fransenknüpferin mit den Symptomen einer weit fortgeschrittenen Bleilähmung aufgenommen worden ist. Die Zeitung zeigt das Bild eines jungen Mädchens, die mit ängstlichem Blick ihre Hände und Finger in der typischen Bleilähmung, also die Hand und in den Fingergelenken gebeugt mit eingeschlagenem Daumen zeigt. Der Name des Mädchens wurde nicht genannt. Bereits im Alter von 4 Jahren soll sie an Fieber mit schweren nervösen Störungen erkrankt sein, nun – im Alter von 13 Jahren – sei sie seit fünf Monaten arbeitsunfähig. Zu Mattigkeit, Fieber, Appetitlosigkeit, Durchfall und einer „Bleikolik“ mit starken Schmerzen kamen Lähmungserscheinungen an Fingern und Beinen.* Die Sprache ist hier von einer Bleivergiftung, einer der häufigsten Berufskrankheiten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, denen sich der folgende Beitrag widmen will. 525

1.
Das Bild der Krankheit

Bei den an Bleivergiftung erkrankten Personen nahmen allmählich die Kräfte ab, die Gesichtsfarbe wurde blassgelb, an den Rändern des Zahnfleisches entstand ein graubläulicher Saum, der typische „Bleisaum“. Mit Fortschreiten der Bleivergiftung wurden die Erkrankten von der Bleikolik befallen, die sich durch heftige, sehr schmerzhafte Krämpfe im Unterleib, besonders in der Nabelgegend, äußerten.* Bei den schwersten Formen einer Bleivergiftung kam es zu einer Lähmung der Hände – wie bei der dreizehnjährigen Fransenknüpferin. Im fortgeschrittenen Stadium folgten Verwirrungszustände, oft verbunden mit jahrzehntelangem „Siechtum als gelähmtes Bleikrüppel, von dem nur der Tod“ erlösen konnte.*

Der Fall der dreizehnjährigen Fransenknüpferin war kein Einzelfall. Wie so viele andere Mädchen half sie ihrer Mutter seit ihrem 10. Lebensjahr bei der Heimarbeit. Die Mutter bezog für die Heimarbeit schwarze Seidenfäden, um diese für Tücher, Schals, Teppiche, Lampenschirme und andere Gegenstände zu verarbeiten. Die Seidenfäden wurden in der Fabrik mit schwarzer Farbe gefärbt und dann, damit die fertige Ware sich besser in Falten werfen und schwerer wurde, in eine konzentrierte Lösung von basisch essigsaurem Blei (Bleiessig) eingetaucht und getrocknet. Durch die Kohlensäure der Luft wandelte sich dieses in kohlensaures (wasserlösliches) Blei um. Bei der Hantierung mit den Fransen „staubten“ die Bleiverbindungen ab, der von den Arbeiter:innen in den schlecht belüfteten Räumen, die oft gleichzeitig auch als Speise- und Schlafräume benutzt wurden, eingeatmet oder mit den Nahrungsmitteln mitaufgenommen wurde. Die Mutter des Mädchens gab an, dass ihre Tochter oft eine dicke Schicht Bleistaub von ihrem Butterbrot kratzen musste, um dieses essen zu können. Die Arbeitszeit des Mädchens hätte drei bis vier Stunden pro Tag betragen.*

Die Krankheit brachte für die Betroffenen nicht nur sehr schwerwiegende und oft auch lebensbedrohliche Krankheitssymptome mit sich, sondern verursachte eine hohe Anzahl von Krankheitstagen und damit verbunden Kosten für AG und die Krankenkassen.* Das polemische Zitat aus dem Titel des Beitrages „Man nehme ... vielleicht Zucker oder Honig und eine Vergiftung kann nicht stattfinden“ als (kostengünstige) Maßnahme gegen Bleierkrankungen erinnert so manchen an den angeblichen Spruch Marie Antoinettes, Königin von Frankreich, die in Versailles luxuriöse Feste feierte, während die Menschen in Paris hungerten: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Kuchen essen!“*

Ist hier doch in erster Linie von der weit verbreiteten Heimarbeit (von Frauen) und einer Form von Kinderarbeit die Rede, so ging aus den Berichten der Gewerbeinspektoren vielfach hervor, dass es sich, wie in der Folge dargestellt werden soll, um eine der verbreitetsten Berufskrankheiten auch im Gewerbe und in der Industrie handelte. In Österreich gab es in der Zeit von 1894 bis 1898 in den Berufen der Buchdrucker, Schriftgießer, Zimmermaler, Anstreicher und Töpfer durchschnittlich 1.563 Fälle mit 43.045 Krankheitstagen. Eine

Häufung gab es neben den eingangs erwähnten in Heimarbeit tätigen Fransenknüpferinnen auch bei Installateuren, Spenglern, Rohr- und Kabellegern, in Feilhauereien, Töpfereien oder in Fabriken, wie etwa bei Arbeiter:innen in Akkumulatorenfabriken und Flaschenkapselfabriken. Die größte betroffenen Berufsgruppe waren Maler, Anstreicher und Lackierer durch den dauernden Umgang mit Bleiweiß.*

2.
„Eine mörderische Arbeit“ für Frauen und Kinder

In vielen der oben angeführten Sparten waren oft auch verhältnismäßig viele Frauen beschäftigt, wie etwa im Bereich der Buchdruckereien. 1892 überwog in einigen Gießereien die Zahl der weiblichen Gießer jene der männlichen Gießer deutlich, vermutlich deshalb, weil die angelernten Arbeiter:innen den Vorteil hatten, nicht nur „billiger“ als männliche Arbeiter zu sein, sondern auch viel geschickter.* Dem Bericht der Wiener-Gremialkrankenkasse der Buchdrucker und Schriftgießer zufolge, waren mehr als die Hälfte der in den Schriftgießereien beschäftigten Arbeiterinnen nicht in der Lage, „normal zu entbinden“. 1890 hatten über 50 % der Schriftgießerinnen eine Fehlgeburt erlitten.* Zahlreichen Berichten zufolge waren auch besonders viele Säuglinge und Kleinkinder in Töpferfamilien in Böhmen und Ungarn von der Bleikrankheit betroffen. Wenn die Kinder das Säuglingsalter überlebten, waren sie anfällig für weitere Krankheiten, wie etwa Hauttuberkulose oder Rachitis. Auch blieben sie „immer nur schwächliche Menschen“, beschrieb der ehemalige Buchdrucker und spätere Obmann-Stellvertreter des Fachorgans der Buchdrucker, Emil Kralik (1864-1906), die Situation der Schriftgießerinnen in der „Arbeiterinnen-Zeitung“ und forderte die Ausweitung von gesetzlichen Schutzmaßnahmen.*

3.
Das Widerstreben gegen den sozialen Ausbau

Die gesetzliche Basis für erste Vorschriften auf dem Gebiet des „technisch-sanitären Arbeiterschutzes“ war der § 74 der GewO des Jahres 1859,* abgeändert durch die Gewerbenovelle vom 8.3.1885,*526 womit eine Reihe von Maßnahmen und Verordnungen zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter:innen – wie etwa die Begrenzung der Arbeitszeit „in fabriksmäßig betriebenen Gewerbeunternehmungen“ – auf elf Stunden erreicht werden konnte. Darin enthalten waren auch Schutzbestimmungen für Frauen, Kinder und Jugendliche. Auch wurden erste Vorschriften zur Verhütung von Betriebsgefahren erlassen und das Trucksystem verboten. In der Praxis erwiesen sich die Bestimmungen oft als lückenhaft und konnten auch leicht umgangen werden.* In den Jahren 1888 und 1889 wurde die allgemeine KV der Arbeiter und die Arbeiter-UV* eingeführt, um sozialer Unzufriedenheit in den Reihen der Arbeiter:innen entgegenzuwirken, die in den Betrieben und den Arbeitsstätten ausreichend Nährboden fand. Neben der politischen Unzufriedenheit – etwa durch das Fehlen eines demokratischen Wahlrechtes, dem Fehlen einer Invaliditäts- und Altersversicherung – forderten die sich zu jener Zeit formierenden Gewerkschaften vor allem gesetzliche Arbeitszeitverkürzung, die Reform der Arbeiterversicherung, insb die Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung, den Ausbau der Gewerbeinspektion, 36-stündige Sonntagsruhe, das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche und die Ausweitung der UV.* Forderungen, die bei den Unternehmern auf härtesten Widerstand stießen.

4.
Die Unfallverhütungskommission

Mit der 1899 ins Leben gerufenen und ab 1900 tätigen Unfallverhütungskommission* versuchte die Regierung, allen Forderungen, Protestaktionen, Interventionen und Petitionen seitens der AN mit von ihr ausgearbeiteten Vorschriften zur Arbeitssicherung weiter „den Wind aus den Segeln zu nehmen“.* Die Arbeitsschutzordnung des Handelsministeriums vom 23.11.1905* etwa enthielt Regelungen über Arbeitsräume, technische und sanitäre Anlagen sowie Beschäftigungsbeschränkungen für Frauen und Jugendliche. In der Praxis zeigte sich allerdings, dass alle bisherigen Maßnahmen auf dem Gebiet des allgemeinen Betriebsschutzes und der Gewerbehygiene nicht ausreichend waren.* Für viele Branchen und Gewerbezweige mussten weitere Sonderregelungen geschaffen werden, um die arbeitenden Menschen tatsächlich vor Betriebsgefahren und Berufskrankheiten schützen zu können.*

5.
Verbesserungen durch Kollektivverträge und parlamentarische Initiativen

Erste konkrete Maßnahmen konnten die Gewerkschaften für ihre Berufsgruppen über die Kollektivverträge erreichen, die nach 1900 zunehmend abgeschlossen wurden.* Dazu zählten spezielle Vereinbarungen für ihre Berufsgruppe oder auch Verhaltensregeln (zB Alkohol- und Rauchverbot während der Arbeitszeit), für die Handhabe gewisser Maschinen, Materialien oder Arbeitsmethoden. Oft auch wurden mit den AG Vereinbarungen betreffend die sanitären Maßnahmen oder die Errichtung von Ess-, Umkleide- und Waschräumen getroffen, etwa um Bleivergiftungen oder andere Erkrankungen zu vermeiden.* Auf dem Weg von Anträgen und Interpellationen, wie etwa jenem vom 24.7.1907, wurde von Gewerkschaftsvertretern, namentlich von Heinrich Beer,*Ludwig Aust, Josef Hudec (Lemberg), Silvio Pagnini, Semen Wityk und Genossen, zur Schaffung eines Gesetzes über die Verwendung von Bleiweiß- und bleihaltigen Farben sowie die Herstellung und den Verkauf von bleihaltigen Firnissen, Sikkativen und Lacken, oft (auch vergeblich) versucht, Maßnahmen zu erreichen.* Nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes für Männer (1907) konnte den Forderungen nach betrieblichem AN-Schutz für viele Berufsgruppen, etwa auch für Bäcker, Eisenbahner, mehr Nachdruck verliehen werden.*

6.
Die „Bleiaktion der Regierung“

In den Berichten der ab 1883 tätigen Gewerbeinspektoren wurden Bleivergiftungen als eine der häufigsten Berufskrankheiten angeführt. Beschwichtigend war oft die Rede davon, dass „Bleivergiftungen in allen Kreisen der Bevölkerungen sehr häufig sind“, und auf „eigene Nachlässigkeit und vielleicht auch Unreinlichkeit zurückzuführen“ seien.* Erst im Zuge internationaler Entwicklungen 1902-1904 – in England und im Deutschen Reich gab es bereits Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter:innen – sah sich der Staat veranlasst, ebenfalls Schritte im Kampf gegen die Bleierkrankungen zu unternehmen, da „der Schaden an der Volksgesundheit in unserem Vaterland ... ein sehr großer ist“, hieß es in der am 26.3.1903 vom Reichsratsabgeordneten Joseph Maria Baernreither (1845-1925) in der 218. Sitzung der 17. Session des Abgeordnetenhauses eingebrachten Interpellation. Ziel solle es sein, die Regierung bei der Absicht zu unterstützen, Untersuchungen anzustellen, um die Zahl der Bleierkrankungen in Österreich zu senken.* Im Zuge der sogenannten „Bleiaktion der Regierung“ ab 1904 wurde auf Drängen der Gewerkschaftsvertreter das „Arbeitsstatistische Amt“ mit entsprechenden Voruntersuchungen betraut, die laut Zeitungsberichten „unendlich traurige Zustände“ zum Vorschein brachten, aber auch die Basis für weitere, wenn auch nicht ausreichende Maßnahmen lieferten.*

Der Schwerpunkt der Untersuchungen des Arbeitsstatistischen Amtes wurde auf die Dauer der Arbeitszeit, Ausstattung der Betriebe und auf bereits existierende Schutzmaßnahmen, wie etwa Waschutensilien, Waschmöglichkeiten, Ankleideund Essräume, Arbeitskleider und auf die Frage des verstärkten Schutzes von weiblichen und jugendlichen Arbeitskräften gelegt. Die Ergebnisse wurden in Expertenrunden (sogenannte „Expertisen“), zu denen Vertreter sowohl auf AG- als auch auf ANSeite eingeladen wurden, diskutiert. Die Resultate der Erhebungen wurden in den Publikationen des Arbeitsstatistischen Amtes „Bleivergiftungen in hüttenmännischen und gewerblichen Betrieben, Ursachen und Bekämpfung, I.-VII. Teil, 1905-1909, veröffentlicht.* Die Erarbeitung von Vorschlägen für Verordnungen wurde schließlich von einer „Unfallverhütungskommission“ übernommen.

7.
Untersuchungen des „Arbeitsstatistischen Amtes“ 1904-1908

Die Untersuchung in den Blei- und Zinkhütten wurde von April bis Juni 1904 durchgeführt. In vielen dieser Betriebe waren Schutzmaßnahmen für Arbeiter:innen fast gänzlich unbekannt. In der ärarischen Silber- und Bleihütte von Pribram etwa wurde die Arbeit – wie auch in so vielen anderen Betrieben auch – ohne Arbeitskleidung und Reinigungsmöglichkeit durchgeführt. In Hütte Kaltwasser bei Raidl in Kärnten drang aus den alten Öfen Blei- und Schwefeldampf in dicken Schwaden in die Arbeitsräume, in dem eine 5 cm hohe Bleistaubschicht alle Gegenstände bedeckte und von den Arbeitern auch als Ess- und Pausenraum benutzt wurde. Nicht anders waren die Zustände in privaten Hütten.*

Anschließend an die Erhebungen wurde vom 26.6. bis 28.6.1905 im Arbeitsstatistischen Amt eine Expertise abgehalten. Die Auswahl der Experten stieß bei dieser, wie auch bei den weiteren Untersuchungen, auf heftige Kritik: „Die Expertisen haben dem Fachmann wenig neues gebracht. In der ersten waren sieben Arbeiter zugezogen, von denen aber vier durch Dolmetsche vernommen werden mußten, also der Verhandlung wohl nicht folgen konnten. Sie verhielten sich auch alle durchwegs still und was man von ihnen eigentlich hören wollte, haben sie nicht gesagt. Die Vertreter der Unternehmungen befürchteten, unter recht strenge Vorschriften gestellt zu werden, was sie natürlich nicht veranlaßte, besonders offenherzig zu sein. Die Regierungsbeamten und die Gewerbehygieniker schließlich sind bei der Erörterung von Betriebsdetails doch zu wenig Fachleute, um das aus der Diskussion herauszuholen, was die anderen nicht sagen wollen.“* Aufgrund der durchgeführten Erhebungen hat das Ministerium für öffentliche Arbeiten im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern am 22.7.1908 die VO betreffend die Einrichtung und den Betrieb der nach dem allgemeinen Berggesetz errichteten Bleiund Zinkhütten erlassen.*

Die wesentlichsten Bestimmungen betrafen die Ausstattung der Arbeitsräume, die Bereitstellung von Arbeitskleidung und Wasch- und Bademöglichkeiten. Auch waren die Arbeiter verpflichtet, sich regelmäßig ärztlichen Untersuchungen zu unterziehen. Der Werksbesitzer hatte die Verpflichtung, die Verhaltensmaßregeln in die Dienstordnung aufzunehmen und Personen zu bestimmen, die die Aufgabe hatten, die Einhaltung zu überwachen. Am 10.8.1910 wurde ein vom Ministerium für öffentliche Arbeiten verfasstes Merkblatt an die Bergbehörden herausgegeben, um damit die 528„Belehrung der Arbeiter über das Wesen und die Anzeichen der Bleierkrankungen und über die Mittel, sich vor denselben zu bewahren“.* Kritik an der VO gab es vor allem im Hinblick auf die vielen Ausnahmebestimmungen, die „den sozialpolitischen Inhalt der Verordnung völlig wertlos“ zu machen schienen.*„Man muß das Gefühl haben, daß man den Schein erwecken will, den Arbeitern Rechnung zu tragen, daß man sich aber wohl hütet, den Unternehmern irgendwie unbequem zu werden“* wurde weiter in der Arbeiter-Zeitung gegen die Verordnungen polemisiert.

Ebenfalls im Jahre 1904 wurden die Zustände in den Bleiweiß- und Bleioxydfabriken in Klagenfurt und Wolfsberg, in den Bleioxidfabriken in Saag, Oberfellach und Gailitz und in der Bleiweiß-Minium- Glättefabrik in Hlupočep bei Prag untersucht. In diesen Betrieben war die Erkrankungsziffer besonders hoch, was zur Erkenntnis führte, dass die bisherigen Schutzmaßnahmen nicht ausreichend waren und nur ein Verbot des Bleiweißes Abhilfe bringen könnte. In die am 2.4. und 3.4.1906 abgehaltenen Expertisen wurden wieder Unternehmer- und Arbeitervertreter miteinbezogen. Seitens der AN-Vertreter wurde kritisiert, dass zu dieser nur ein Arbeiter befragt wurde. Dazu die Arbeiter-Zeitung: „Man hätte versuchen können, besser geeignete Arbeiter aufzutreiben, weil diese Leute doch, wenn man sie zum Reden bringt, Dinge erzählen können, die nicht in Büchern stehen und eben das tägliche Leben in der Fabrik, die Stellung des Arbeiters zu den verschiedenen Verbesserungen, besser darlegen können als die Chefs.“* Die Erarbeitung von Schutzvorschriften für die Bleiweiß- und Bleioxydfabriken ließ auf sich warten. Die von dem Journalisten und Historiker der österreichischen ArbeiterInnenbewegung Ludwig Brügel (1866-1942) konstatierte Politik des „fortwurstelns“ wurde weiter praktiziert.* Der von der Unfallverhütungskommission erarbeitete Verordnungsentwurf wurde gemäß Beschluss der Plenarsitzung vom 21.12.1908 der Regierung zur Umwandlung in eine VO empfohlen. Er lehnte sich an die Blei- und Zinkhütten-VO an, allerdings mit dem Unterschied, dass die Überwachung des Gesundheitszustandes der Arbeiter:innen durch einen von der Gewerbebehörde bestellten und vom AG zu entlohnenden Arzt verlangt wurde.*

In beiden Expertisen wurde das Verbot der Verwendung von jugendlichen Hilfsarbeitern und Frauen besonders heftig diskutiert, letztlich sorgen auch auf diesen, wie auch auf anderen Gebieten, die zahlreichen Ausnahmeregelungen für Unmut bei den AN-Vertretungen.* Die Tendenz ging dahin, offenkundig gefährliche Arbeiten „als harmlos hinzustellen und die übermäßig lange Arbeitszeit (so in Klagenfurt von halb 6 bis 6 Uhr) zu verteidigen“.*

Maler, Anstreicher und Lackierer waren jene Berufsgruppen, die das größte Kontingent an Bleivergiftungen aufwiesen. Ihre Lage wurde vor allem dadurch erschwert, dass sie fortdauernd mit dem Bleiweiß zu tun hatten, sowohl durch die Hantierung mit den Anstrichen, aber auch durch den Aufenthalt in Räumlichkeiten, wo es angebracht wurde.* Die Untersuchungen in Lack-, Firnis- und Farbenfabriken sowie in Anstreicher-, Lackierer- und Malerbetrieben wurden in den Jahren 1905/06 durchgeführt,* die Ergebnisse der Erhebung vom 28.1. bis 30.1.1907 beraten. Heftig diskutiert wurde darin vor allem die Möglichkeit eines Ersatzes von Bleiweiß, sowohl bei der Herstellung als auch bei der Verwendung von Farben, Firnissen und das generelle Bleiweißverbot bei Innenanstrichen „Wenn die Bleiweißinteressenten und die Malermeister sich dagegen sträuben, ist das nur auf materielles Interesse, Konservativität und Borniertheit zurückzuführen. Das Interesse der Gesundheit von tausenden Arbeitern ist wichtiger als das Gedeihen einer kleinen Industrie, wie es die Bleiweißindustrie ist.“*

Bei einer Versammlung der Anstreicher-, Lackiererund Malergehilfen Wiens hieß es, dass die Verwendung von Bleiweiß nur mehr auf die „Profitwut“ zurückzuführen sei, weil sich die Unternehmer „bei drei Strichen einen ersparen wollen“.* Seitens der Gewerkschaft wurde angedroht, wenn in Österreich nicht bald ein Gesetz geschaffen wird, welches die bleihältigen Farben verbietet, würden die Gehilfen, die für höhere Löhne gestreikt haben, auch dafür streiken werden, dass sie nicht vergiftet werden.*

Mit der folgenden Ministerialverordnung vom 15.4.1908 wurden aufgrund der Ergebnisse der Untersuchungen und der Expertise Vorschriften zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der mit gewerblichen Anstreicher-, Lackierer- und Malerarbeiten beschäftigten Personen erlassen.* Zu den wichtigsten Bestimmungen zählte das auch von der zuständigen Gewerkschaft, dem Verband der Maler, Anstreicher, Lackierer und verwandter Berufe in 529 einer Resolution geforderte Bleifarbenverbot für Innenanstriche, die Bezeichnungspflicht bleihaltiger Farben und Kitte sowie für Betriebe mit mehr als 20 Arbeitern eine regelmäßige ärztliche Untersuchung der Arbeiter:innen.* Auch sollte jedem AN ein Merkblatt der Verordnung übergeben werden. Zudem erschien seitens des Handelsministeriums ein Erlass, in welchem alle politischen Landessstellen auf diese VO aufmerksam gemacht wurden.*

Die Erhebungen in Buch-, Steindruckereien und Schriftgießereien wurden großteils im Jahr 1907 durchgeführt. Am 1.6. und 2.6.1908 fand im Arbeitsstatistischen Amt eine Expertise statt. Ergebnis dieser war ein Entwurf einer Ministerialverordnung, der an die Handels- und Gewerbekammern, Fachvereine usw zur Begutachtung herausgegeben wurde.* Die vorgeschlagenen Maßnahmen betrafen die Beschaffenheit der Arbeitsräume, die Aufstellung von Spucknäpfen in den Arbeitsräumen, die Beistellung von Wasch- und Ankleideräumen und Belüftungsmöglichkeiten in Betrieben mit mehr als 20 Arbeiter:innen, weiters das Tragen von Arbeitskleidung, der Bereitstellung von Trinkwasser und das Verbot des Einsatzes von Frauen und Jugendlichen bei allen Verrichtungen, bei denen sie mit Blei in Berührung kommen konnten. Gegen den Entwurf gab es freilich wieder heftige Kritik. Diesmal wurde seitens der Unternehmer beanstandet, dass sie „ungenügend vertreten“ waren.* Seitens der Buchdruckereibesitzer gab es wieder gegen das Verbot von Frauenarbeit heftige Einwände, da sie befürchteten, dass von diesem Verbot auch die sogenannten „Einlegerinnen“ in den Maschinensälen, wohl billige, aber geschickte Arbeitskräfte, betroffen sein könnten.* Ergebnis dieser Untersuchung und der anschließenden Expertise war die VO des Handelsministeriums im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern vom 23.8.1911, womit besondere Vorschriften zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Hilfsarbeiter in gewerblichen Betrieben erlassen werden, in welchen Buchund Steindruckerei- sowie Schriftgießereiarbeiten vorgenommen werden.*

Mit den Arbeiten zur Erhebung über die Bleigefahr in der keramischen Glas- und Emailindustrie wurde im Jahr 1907 begonnen, die tatsächlichen Erhebungen wurden in den Jahren 1908 bis 1910 durchgeführt. Sie erstreckten sich auf sämtliche Hafner in Wien, Nieder- und Oberösterreich, Böhmen und Mähren und zeigten, dass Arbeiter:innen, die mit rohen Bleiverbindungen (Glätte, Minium, Bleiweiß) in Verbindung kommen, etwa in keramischen Kleinbetrieben (Töpfer und Hafner), von Bleivergiftungen besonders betroffen waren.* Eine eigene VO für diesen Bereich dürfte nach bisherigem Wissensstand nicht zustande gekommen sein.

8.
AK fordert Schutzvorschriften 1923 bis 1927

In der Zeit von 1918/19 bis 1920 konnten wesentliche sozialpolitische „Meilensteine“ erreicht werden, wie etwa das Achtstundentag-Gesetz, das Arbeiterkammergesetz, das Betriebsrätegesetz ua.* Im September 1921 hat die Arbeiterkammer

an das Zentralgewerbeinspektorat die Forderung nach der Verbesserung der Schutzmaßnahmen für Bleiarbeiter gerichtet.56) Am 8.3.1923 schließlich kam es nach schwierigen Verhandlungen mit dem Handelsministerium zur Novellierung der Schutzvorschriften für Bleiarbeiter:innen, womit ein „... dringender Wunsch von tausenden bleigefährdeten Industriearbeitern in Erfüllung ging“.*

Es handelte sich um folgende Schutzvorschriften:
Schutzvorschriften für Blei- und Zinkhütten und Zinkweißfabriken: Sie hatten vor allem die Aufgabe, die Schutzvorschriften, die für die dem Berggesetz unterlegenen Blei- und Zinkhütten galten, auch auf die unter die GewO fallenden Betriebe auszudehnen. Das Hauptgewicht dieser VO lag auf Bestimmungen betreffend Betriebsanlagen und Arbeitsräumen sowie der zur Verwendung stehenden technischen Hilfsmittel zur Unschädlichmachung von bleihaltigen Gasen, Dämpfen und Staub. Sie sah vor, dass Schutzbehelfe und Arbeitskleider vom Betrieb zur Verfügung gestellt werden müssen, dass Wasch-, Bade-, Ankleide- und Speiseräume einzurichten sind und der Gesundheitszustand der Arbeiter:innen ständig überwacht werden muss. Klar darin ist geregelt, dass Frauen und Personen unter 18 Jahren nicht zu Arbeiten, die die Entwicklung von Bleikrankheiten verursachen, herangezogen werden dürfen.*530

Schutzvorschriften für Buch- und Steindruckerei sowie Schriftgießereibetriebe: Hervorstechendstes Merkmal der „Buchdruckerverordnung“ war der weitgehende Ausschluss der Frauenarbeit und von AN unter 17 Jahren. Die übrigen Vorschriften der Buchdruckerverordnung bezogen sich auf die Beschaffenheit der Betriebsstätten, Arbeitsräume und Werkseinrichtungen, die Unfallverhütung sowie auf hygienische Maßnahmen. Die AN wurden darin verpflichtet, die Vorschriften einzuhalten, wie etwa das Tragen von vorgeschriebener Arbeitskleidung, der Benützung von Schutzbehelfen und die regelmäßige Reinigung. Auch sollten sie regelmäßig im Betrieb untersucht werden und wenn sie Anzeichen einer Bleivergiftung zeigten, durften sie nicht mehr zu Arbeiten mit Blei herangezogen werden.*

Schutzvorschriften der mit Anstreicher-, Lackierer- und Malerarbeiten beschäftigten Personen: Im Wesentlichen handelt es sich um eine Novellierung der VO vom 15.4.1908 und ist durch das Verbot der Bleiweißverwendung für Innenanstriche und damit dem auf der dritten Internationalen Arbeitskonferenz in Genf 1921 beschlossenen Übereinkommen betreffend das Verbot der Verwendung von Bleiweiß im Malergewerbe charakterisiert. Davon ausgenommen waren nur Bahnhöfe und gewerbliche Betriebe, für die die Gewerbebehörde die Verwendung von Bleiweiß, Bleisulfat und anderer bleihaltiger Anstrichfarben aus hygienischen oder witterungsbedingten Gründen für notwendig erklärt hat. Wenn die Verwendung von Bleiweiß oder sonstigen Bleiverbindungen zugelassen war, durften Frauen und Personen unter 18 Jahren nicht zu diesen Arbeiten herangezogen werden. Die Gefäße zur Aufbewahrung mussten deutlich auf die Gesundheitsgefährdung des Inhaltes hinweisen. Die hygienischen und Verhaltensvorschriften lehnten sich an jene der Buchdrucker an. Bemerkenswert an dieser VO ist, dass sie beim Verbot des Bleiweißes weitergeht als die von der Dritten Internationalen Arbeitskonferenz beschlossenen Internationalen SchutzkonventiSchutzkonvention, indem sie auch Anstriche im Außenbereich nur in Ausnahmefällen genehmigt.*

Schutzvorschriften für Betriebe zur Erzeugung von Bleiverbindungen usw: Das Schwergewicht dieser VO neben den Bestimmungen wie in VO Nr 183 auf strengen Vorschriften für Bleiweiß-, Minium und Glättefabriken, wo für gewisse gefährliche Arbeiten, wie etwa Ausräumen der Flugstaubkanäle, Herstellung und Einstreichen der Füllmasse in die Rahmen, Gitter und Platten, die Arbeitszeit nicht mehr als 6 Stunden betragen darf. Für Arbeiten in den Bleiweißkammern sollten diese nur abwechslungsweise durchgeführt und nicht länger als 4 Stunden (innerhalb von 24 Stunden) dauern.*

9.
Anerkennung als Berufserkrankung

Bleivergiftungen zählten in den Folgejahren weiterhin zu den häufigsten Berufserkrankungen. Nach dem Gewerbeinspektorenbericht des Jahres 1927 etwa gab es 147 Bleierkrankungen mit einem Todesfall. In einer niederösterreichischen Glasfabrik wurden bei 40 % der Arbeiter:innen Anzeichen von Bleivergiftungen festgestellt, in einer Gasapparatefabrik wies fast jeder zweite Arbeiter an den Zähnen Bleisaum auf. Nach den Mitteilungen des Gesundheitsamtes der Gemeinde Wien wiesen von 922 untersuchten Personen 10,2 % Bleivergiftungen und 3,4 % verdächtige Erscheinungen auf.*

Im selben Jahr, 1927, wurden den Beobachtungen des Metallarbeiterverbandes zufolge Arbeiter:innen, die bereits gesundheitliche Schäden aufwiesen und schon längere Zeit krank waren, entlassen, und forderten effektive vorbeugende Maßnahmen und nach einer Erkrankung auch deren wirtschaftliche Absicherung, eine jahrzehntelange Forderung der AN.*

1928 erfuhr das Unfallversicherungsgesetz nach mehr als 40 Jahren seit der Einführung 1888/89 eine Novellierung. Der damalige Bundesminister für soziale Verwaltung, der christlich-soziale Josef Resch (1880-1939), gab im September 1928 zwei Verordnungen heraus: eine für Angestellte* und eine für Arbeiter:innen;* beide enthielten eine Liste von Stoffen, die Berufskrankheiten hervorrufen, wie Blei, Chrom, Arsen, Quecksilber. Auch wurde darin der Anspruch nach der Gleichstellung der Berufskrankheiten mit Betriebsunfällen zumindest grundsätzlich ausgesprochen, aber auf Fälle eingeschränkt, in denen die Erwerbsfähigkeit um mehr als ein Drittel vermindert wurde.* Im September 1955 beschlossenen und ab Jänner 1955 gültigen Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) wurde in der Liste der Berufskrankheiten (§ 177, Anlage 1) genau festgeschrieben, welche Erkrankungen als Berufserkrankungen, darunter Erkrankungen durch Blei, seine Legierungen oder Verbindungen, anerkannt werden und welche Stoffe diese Erkrankungen hervorrufen und Erkrankte erhalten dafür vom Unfallversicherungsträger Entschädigung. *Sie wurde 2012 zum letzten Mal erweitert und umfasst derzeit 53 verschiedene Berufskrankheiten, eine Erweiterung wird seitens des ÖGB und der AK längstens gefordert.*531

10.
Abschließende Bemerkungen

Vergiftungen durch Blei konnten dennoch nicht aus der Welt geschaffen werden. Vielmehr wurden auch in der Zweiten Republik eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen zur Vermeidung von Bleierkrankungen bzw Vergiftungen getroffen oder konnten durch verbesserte Schutzmaßnahmen, fortgeschrittene Früherkennungsmethoden, intensivere medizinische Betreuung und durch den technisch-industriellen Wandel reduziert werden. Doch kamen bald auch neue Faktoren hinzu, wie etwa das Thema der Umweltverschmutzung. Blei wurde und wird nach wie vor verarbeitet und kam und kommt nach wie vor im Alltag zur Verwendung, etwa bei Bleibatterien, für die Metalllegierung, für den Strahlenschutz, im Bauwesen (Bleirohre) oder bei Keramikgeschirr, und wird durch verschiedene Bleigrenzwerte in Nahrungsmitteln, im Wasser, in der Luft geregelt.* Aktuell beschäftigt sich die EU-Kommission mit dem Verbot von Blei in der Munition von Jägern, was deren heftigsten Widerstand hervorruft.*

Abschließend sei auf einen 2020 veröffentlichten Bericht der UNICEF und der Organisation Pure Earth hingewiesen, dem zufolge es zum massiven Ansteigen von Bleivergiftungen von Kindern in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen gekommen ist. Hauptursache ist das Recycling von Blei-Säure-Batterien von zur Verschrottung in diese Länder exportierten Fahrzeugen. Die Arbeiter:innen und ihre Kinder brechen Batteriegehäuse auf, schütten Säure und Bleistaub in den Boden und schmelzen das zurückgewonnene Blei in offenen Öfen unter freiem Himmel. Maßnahmen zur Abschaffung des informellen und minderwertigen Recyclings von Blei-Säure-Batterien werden gefordert. Die UNICEF-Pressemeldung zeigt ein Bild eines neunjährigen Mädchens. Sie heißt Munni und sucht in einem Müllhaufen am Ufer des Flusses Buriganga in Old Dhaka (Bangladesh) nach Metallgegenständen.*532