Ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Arbeitnehmerpolitik heute und morgen

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)
Zahlreiche ökonomische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen gefährden das bisher so erfolgreiche Modell eines fairen Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit. Der Beitrag stellt sich der Frage, ob die bisherigen Regulationsmuster den extremen neuen Anforderungen gewachsen sind oder ob grundlegend andere Konzeptionen für eine „gute Arbeitswelt“ erforderlich sind. Ausgangsthese ist der Befund, dass das bisherige Gebäude des hoch regulierten und gut ausgebauten Arbeitsrechts der Prosperitätsphase des Wohlfahrtskapitalismus auf Bedingungen ruht, die es selbst nicht geschaffen hat, die es selbst nicht garantieren kann, die aber für seine Funktionalität erforderlich sind. Die Veränderungen dieses Kontexts sind Gegenstand der folgenden Überlegungen.
  1. Einleitende Bemerkungen

  2. Theoretische Grundlagen

  3. Fragestellung

  4. Hintergründe des Niedergangs

    1. Der ungezügelte „rohe“ Kapitalismus kehrt zurück

    2. Standortwettbewerb ohne Supranationalisierung der Regulierungsebenen

    3. Neue Unternehmens- und Betriebsstrukturen

    4. Neue Möglichkeiten intensivierter Verfügung über die Arbeit

    5. Offensivere Nutzung von Schutzlücken und Umgehungsmöglichkeiten

    6. Verschlechterung der Rahmenbedingungen im politischen System

  5. Schlussfolgerungen ohne Lösungen

1.
Einleitende Bemerkungen

Diese großartige Tagung stellt die Frage, ob wir ein neues Arbeitsrecht brauchen. Die Antwort, vorweggenommen, ist aus meiner Sicht einfach: Ja, weil das alte diffundiert, erodiert, zur Fassade verkommt.

Wenn im Folgenden von „Arbeitsrecht“ die Rede ist, dann ist wenig überraschend jener Typus der Regulierung von Arbeit gemeint, der heute in den (angeblich) entwickelten „reichen“ Staaten vorherrscht. Es geht um die Regulierung von Arbeit 92 unter kapitalistischen Verhältnissen, wie sie sich im Lauf von wenig mehr als einem Jahrhundert zu einem imposanten und hoch ausdifferenzierten Gebäudekomplex des Schutzes von abhängiger Arbeit „für einen anderen“ entwickelt hat, zum einen in Konfrontation zum Kapital, zum anderen funktionell dennoch (mE unnötigerweise) an das ökonomische Funktionieren der Kapitalverwertung gebunden.

Damit ist auch das Leit- und Standardmodell (im Folgenden „Normalmodell“) umrissen, das dem Arbeitsrecht den Rang einer herausragenden zivilisatorischen Innovation verleiht: Hochrangig rechtlich verfestigt ist es ua im Rahmen der ILO (Koalitionsfreiheit, materielle Garantien in Konventionen, Normen zum Schutz der kollektiven Vertretungen der AN), durch die verfassungsrechtliche Absicherung durch einige wenn auch wenige Grundrechte (Koalitionsfreiheit, Arbeitskampf, Verbot der Zwangsarbeit, manchmal auch eines Sozialstaatsgebots) von außerordentlicher, die Wirtschaftsverfassung des Kapitalismus herausfordernder und diese relativierender Wirksamkeit, aber auch als Absicherung eines (etwas diffus geratenen) „europäischen Sozialmodells“, das Kapital und Arbeit einander gegenüberstellt, dem Faktor Arbeit eine Sonderstellung im Marktgeschehen einräumt, etwa mit der Anerkennung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf Arbeitskampf oder mit der Ausnahme vom sonst so strengen Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV.

Die Autonomie gegenüber dem Staat ist im Normalmodell ein fundamentaler Grundpfeiler dieses Modells. Arbeitsrecht ist primär Ausdruck kollektivierter Marktprozesse. Im Arbeitskampf, was leider vielfach verkannt wird, macht der Faktor Arbeit von seinem Recht Gebrauch, die Arbeitskraft nicht anbieten zu müssen. Es handelt sich daher nicht um einen strengen Regeln zu unterwerfenden, rechtfertigungsbedürftigen Übergriff auf Rechte der AG, sondern schlicht um kollektive Ausübung der Verfügungsmacht über die eigene Arbeitskraft. Im Arbeitskampf bzw allgemeiner in der Akkumulation von Angebotsmacht kommt nur zum Ausdruck, was das Kapital schon immer für sich ganz selbstverständlich in Anspruch nimmt, über Eigentum und sonstige Verfügungsrechte frei zu entscheiden.

Das Arbeitsrecht ist im Kern funktional nicht mehr und nicht weniger als eine gespiegelte Teilhabe an der ökonomischen Formation einer kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft – derzeit leider – obwohl die Arbeit wichtigste Produktivkraft ist – unter Verzicht auf die Besetzung der Kommandobrücken in der Wirtschaft.

2.
Theoretische Grundlagen

Ich werde nachfolgend einige jener Rahmenbedingungen kurz beschreiben, die dieses Normalmodell gefährden, Erosionsprozesse auslösen und letztlich zur berechtigten Frage führen, ob deswegen das Thema eines „neuen Arbeitsrechts“ in Wissenschaft und Praxis auf der Tagesordnung stehen sollte. Offenzulegen ist kurz, auf welchen theoretischen Grundlagen meine Überlegungen aufbauen:

Es sind dies:

  1. Eine politische Ökonomie der Systemdynamik des Kapitalismus, insb der heutigen neuen Phase,

  2. die sich mehr und mehr als Wissenschaft etablierende „Zukunftsforschung“ mit ihren elaborierten Methoden,

  3. die Komplexitätsforschung, wie sie etwa im Complexity Science Hub Vienna betrieben wird, einschließlich der Erforschung von Phänomenen wie tipping points, Resilienz, Antifragilität, Zufällen usw,

  4. die vielfältigen Erkenntnisse über den Zusammenhang von Staatsfunktionen und Wohlstand,

  5. Theorien über die Stabilität/Labilität von gesellschaftlichen Arrangements, wie sie zB im sogenannten „Böckenförde-Theorem“ zum Ausdruck kommen,

  6. nicht zuletzt eine Theorie der Arbeit im Kapitalismus, die nachweist, unter welchen Bedingungen gute Arbeit möglich ist und welche Folgen es hat, wenn diese Bedingungen zerbrechen, sowie

  7. Theorien über Möglichkeiten und Grenzen transnationaler normativer Regulierung.

3.
Fragestellung

In diesem Beitrag geht es darum, wie stabil dieses Standardmodell ist, ob es den extremen neuen Anforderungen gewachsen ist, ob Problemlösungen aus der Sicht der Interessen der abhängig Beschäftigten nach dem bisherigen Muster eines Interessenausgleichs zwischen Arbeit und Kapital und über gesetzliche Regelungen, auch auf transnationaler Ebene, erfolgen können oder ob tatsächlich radikal andere Konzeptionen für eine „gute Arbeitswelt“ erforderlich sind.

Warum sind diese Fragen nunmehr aufgeworfen? Die zentrale Frage dieser Tagung impliziert, dass das alte Arbeitsrecht seinen Funktionen nicht mehr ausreichend nachkommt. Dafür gibt es zahllose Belege. Seit etwa Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts geht es mit dem Arbeitsrecht – in sozialwissenschaftlicher Vermessung mit den Indikatoren für gute Arbeit – doch recht flott bergab. Das ist jedenfalls die unbestreitbare Generaltendenz. In keinem Staat des reichen „Nordens“ unseres Planeten haben sich die Interessenvertretungen der AN und diesen nahestehende Parteien (Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten, zT auch „grüne“ Parteien mit linker Ausrichtung) diesem Niedergang erfolgreich entgegenstemmen können. Der Verfallsprozess kann also nicht auf historischen Zufällen, Fehlern der Interessenvertretungen, falschen strategischen Konzepten uä beruhen, sondern tritt uns offensichtlich als Ausdruck einer unerbittlichen epochalen Tendenz entgegen.

An dieser Stelle ist ein Blick auf das viel zitierte und zu Recht berühmt gewordene „Böckenförde- Theorem“ angebracht, das sich auf den liberal- bürgerlichen Verfassungsstaat bezieht. Dieses besagt, dass der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren 93 kann. Damit ist gemeint, dass das Bestehen einer rechtlichen Ordnung, bei Böckenförde der demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsstaat, von Bedingungen abhängig ist, auf deren Bestand, Stärke und Einfluss eben dieses Normengefüge, wie etwa das deutsche Grundgesetz, keinen oder nur sehr wenig Einfluss hat. Das klingt zwar banal, ist aber letztlich eine zentrale Erkenntnis für das Verständnis von Aufstieg und Niedergang von sozialen, ökonomischen und rechtlichen Institutionen. Bedrohlich und brandgefährlich ist diese Instabilität ohnehin.

Auch für das Arbeitsrecht gilt in diesem Sinne, dass dessen Funktionieren von einer Vielzahl von „Erfolgsbedingungen“ abhängig ist. Konkret: Das stolze Gebäude des „fordistischen“ Arbeitsrechts der Prosperitätsphase des Kapitalismus Typ II (Wohlfahrtskapitalismus, organisierter Kapitalismus, soziale Marktwirtschaft) ruht auf Basisbedingungen, die es selbst nicht geschaffen hat, die es selbst nicht garantieren kann, die aber für seine Funktionalität erforderlich sind.

Zu diesen Bedingungen gehör(t)en beispielsweise:

  1. eine weitgehend nationalstaatlich geprägte Wirtschaft mit einer vom Weltmarkt relativ autonomen Wirtschaftsregulierung,

  2. eine gute Beschäftigungslage – nahe an der Vollbeschäftigung,

  3. relativ einheitliche Interessenlagen der AN, die sich auch durch Regelungen mit breit angelegten Geltungsbereichen wie Gesetzen und „Flächenkollektivverträgen“ erfolgreich normieren lassen,

  4. eine staatliche Wirtschaftspolitik, die sich am „magischen Viereck“ orientierte und die sich neben Geldwertstabilität und Außenhandelsgleichgewicht auch Wachstum und Vollbeschäftigung zum Ziel setzte,

  5. soziale Puffer, die für die AN den Druck milderten, sich um jeden Preis am Arbeitsmarkt verdingen zu müssen,

  6. nur eingeschränkte Ausweichmöglichkeiten der Unternehmen, durch Kapitalflucht und Auslagerungen in allerlei Dumpingzonen dem Zugriff organisierter Arbeit zu entfliehen,

  7. eine eher an der Realwirtschaft denn an den Interessen des globalen Finanzkapitals orientierte Wirtschaftspolitik,

  8. ein halbwegs paritätisches Machtgleichgewicht zwischen AG- und AN-Organisationen, welches die Kapitalseite in eine „Sozialpartnerschaft“ hineinzwang,

  9. eine eher keynesianisch als neoliberal-austeritätspolitisch ausgerichtete Fiskalpolitik,

  10. ein Durchfüttern von Krisenbranchen oder -regionen durch staatliche Subventionen und nicht zuletzt

  11. im Durchschnitt relativ hohe Wachstumsraten, die erhebliche verteilungspolitische Spielräume eröffneten, nicht nur bei den Entgelten, sondern auch bei der Weiterentwicklung des Arbeitsrechts und dem Ausbau des Sozialrechts.

Das sind kurz skizziert die wichtigsten „Katalysatoren“ der Blütezeit des Arbeitsrechts. Die dadurch ermöglichten Erfolge führten zu der weit verbreiteten Annahme, der arbeitsrechtliche Fortschritt sei parallel zum Wirtschafts- und Produktivitätswachstum für immer gesichert und das Arbeitsrecht ermögliche tendenziell so etwas wie ein Schlaraffenland, ohne dass ein Systembruch (mit Marx: eine radikale Änderung der Produktionsverhältnisse) erforderlich wäre.

Dieser Traum von einer immerwährenden Prosperität und der Glaube an ein sozialpolitisches perpetuum mobile Richtung wohlfahrtsstaatliches Paradies ist ausgeträumt. Zu erinnern ist hier an das geniale Buch von Lutz Burkart „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“. Der Wind hat sich gedreht. Über die arbeits- und sozialpolitischen Anliegen fegt ein eiskalter Wind. Dieser Orkan zerfetzt die Segel der stolzen Clipper des Wohlfahrtsstaates.

Wer die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in ihrer systemischen Kerndynamik begreift, der weiß, dass es sich dabei um eine äußert flexible, anpassungsfähige, geradezu diabolisch raffinierte Formation handelt, die sich immer wieder regeneriert, um die systemisch erforderliche Profitabilität zu gewährleisten oder wiederzuerlangen. Die in den bürgerlichen Rechtsordnungen codierte Gier nach Mehrwert, nach Markterfolgen, nach Vorteilen im Konkurrenzkampf, nach Externalisierung von negativen Folgen des Profitimperativs findet und erfindet, gelenkt durch die Entwicklungsgesetze des Kapitals, immer wieder neue Landschaften an systemerhaltenden Rahmenbedingungen. Im Zentrum solcher Reorganisationsprozesse steht naturgemäß der Motor der Profiterzeugung, die Arbeitskraft.

Ein solcher Reorganisationsprozess hat sich in den letzten drei bis vier Jahrzehnten zugetragen, und – wie wir sehen werden – entzieht sich diese gewaltige Transformation in einen neuen Kapitalismustypus, die Neuformierung der globalen und nationalen Profitgenerierung, weitgehend einer politischen und noch viel mehr einer gewerkschaftlichen Einflussnahme. So zirka ab 1980, spätestens 1985, wird der Druck auf die Voraussetzungen für die erfolgreiche Stabilisierung und Weiterentwicklung arbeitsrechtlicher Garantien immer stärker. Diese brechen zwar nicht vollständig ein, aber sie bröckeln, weichen auf, werden hohl, verlieren an Kraft und Beständigkeit. Zumindest Gegenwind, zunehmend auch Sturm. Eine vorübergehende kühle Brise sieht anders aus. Dabei sei hier daran erinnert, dass auch die AN in den reichen Staaten in hohem Ausmaß von der Ausbeutung der Arbeit in den armen Zonen des Planeten profitieren.

Damit stellt sich dringend die Frage, ob und wie lange das „Normalmodell“ des Arbeitsrechts noch überleben wird, wie lange die Phase seiner Multimorbidität anhalten wird, oder positiv gewendet, ob es realistische Perspektiven einer Erneuerung in Richtung auf eine neu formierte, vielleicht sogar zu Ende gedachte Arbeitsgesellschaft gibt.

Ich versuche im Folgenden nachzuweisen, wie schwierig es sein wird, die bislang brillante Funktionalität des guten alten Arbeitsrechts zu verteidigen und auf die vielen neuen und auch neuartigen 94 Probleme eine Lösung zu finden. Damit argumentiere ich in einer gewissen Querlage zu den vielen auf dieser Tagung vorgetragenen und höchst bedenkenswerten Vorschlägen und Reformideen, ich streue mit der Frage, wer Lösungen wie durchsetzen kann, Salz in die Wunden. Wie groß ist die Differenz zwischen Wollen und Können geworden? Welches Subjekt hat die Kraft, eine Transformation des Arbeitsrechts in die Wege zu leiten? Die Überbringer derartiger schlechter Botschaften wurden früher hingerichtet oder verbannt. Eine eiskalte Illusionslosigkeit schulden wir aber nicht nur der wissenschaftlichen Redlichkeit, sondern auch jenen, denen wir behilflich sein wollen, gut zu leben. Gerade die Klima- und Biodiversitätsproblematik zeigt eindrucksvoll, wie fatal es ist, die Zeichen an der Wand nicht rechtzeitig zu lesen und demgemäß zu handeln. Man kann es auch brutaler formulieren: Geht „gute Arbeit“ ohne Systemwechsel überhaupt noch?

4.
Hintergründe des Niedergangs
4.1.
Der ungezügelte „rohe“ Kapitalismus kehrt zurück

Die kapitalistische Formation bleibt im Kern, wie sie immer war: Die „Bewegungsgesetze“ (besser „Tendenzen“, also die banale „ökonomische Physik“ des Kapitalismus) sind nach wie vor die wesentliche treibende Kraft für die Entwicklungsdynamik der heutigen Gesellschaft. In Kontrast zur Phase eines „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ können sich die fatalen Systemlogiken heute aber (wieder) roher, stärker und ungehemmter, aber auch raffinierter und hegemonialer als im 19. Jahrhundert entfalten. Die Namen für diese neue Epoche der K-Entwicklung sind vielfältig und bezeichnen jeweils bestimmte Aspekte und Facetten der derzeitigen Phase: Turbokapitalismus, Raubtierkapitalismus, deregulierter Globalkapitalismus, Finanzkapitalismus, usw. Das ist vielfach beschrieben und gedeutet worden, die politischen, rechtlichen, technischen und ökonomischen Gründe sind bekannt.

Wenig diskutiert ist eine fundamental neue Eigenschaft des „Systems“, die ich hier nur erwähnen kann und die ich für noch gefährlicher halte als die Abkoppelung des Kapitals von regulativen Einbettungen und politischer Gestaltung. ME müsste daher die Kapitalismusanalyse radikal erneuert und erweitert, ja eigentlich umgeschrieben werden. Das System dominanter Kapitaldynamik ist heute noch deutlich „intrinsischer“ (bewusstseinsformender) geworden als noch vor 30 Jahren. Es gelang, den Staat, die Lebensweisen, die Alltagskultur, die Kommunikationssysteme und vor allem auch die Menschen selbst in Dienst zu nehmen, zu stützenden Säulen des Systems zu verformen und – bei allen weiter bestehenden Reibungsflächen – in systemfunktionale Objekte umzupolen. Systemisch betrachtet sind dem heutigen Kapitalismus seine „Gegner“, die Gegenkräfte und „Feinde“ abhandengekommen.* Kapital, Staat, Konsumenten, Lebenswelten etc verschmelzen zu einem komplexen, sich wechselseitig unterstützenden System.* Demokratie, Markt und auch die Interessen der Beschäftigten arbeiten dem Profitsystem reibungsloser denn je zu. Das vermindert folgerichtig auch die Chancen, Arbeit als Gegenpol und als Träger von alternativen Gesellschaftsentwürfen zu organisieren.

4.2.
Standortwettbewerb ohne Supranationalisierung der Regulierungsebenen

Die Liberalisierung der Marktverhältnisse, die Entstehung eines relativ weit ausgebauten, gegen nationale Regulierungen gerichteten globalen Binnenmarktes und der daraus entstehende Standortwettbewerb mit seinen Dumpingprozessen erodieren die politischen und die gewerkschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Die Funktionsverluste des Nationalstaates wurden nicht von einer gleichzeitigen Aufwertung von Politikfähigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten auf internationaler bzw supranationaler Ebene begleitet. Längst müsste eine globale Republik auf der Agenda der Menschheit stehen. Aber nicht einmal die relativ homogene EU hat es geschafft, sich zu einem halbwegs gefestigten Staat, ausgestattet mit der Vielzahl der in den Nationalstaaten üblichen Staatsfunktionen, zu entwickeln.

Die dadurch entstandene „Politiklücke“ befördert eine beschleunigte „negative Integration“,* also eine Integration auf der Basis von „Freiheiten“, ohne dass eine dem entsprechende und ein Gleichgewicht von Markt und Staat ermöglichende „positive Integration“ entstehen konnte. Das Kapital kann heute ungehemmt von Standortvorteilen Gebrauch machen, die Finanzinstitutionen, die Börsen, die Shareholder, die Rating-Agenturen heizen die Kapitalmobilität und Strategien, hohen Standards auszuweichen, weiter an. Gegen-“Macht“ verliert damit massiv an Gewicht, da auch noch so offensiv vorgetragene Forderungen oft selbstschädigend sind und unter dem Druck der Standortkalküle, deren Relevanz ja zumeist keine Erfindung darstellt, Gegenmacht durch Streiks, Mitbestimmung oder politische Machtpositionen nicht ausgespielt werden.

4.3.
Neue Unternehmens- und Betriebsstrukturen

Die organisatorische Architektur von Unternehmen und Betrieben hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Vor allem die großen und mittelgroßen Unternehmen arbeiten nicht mehr mit einer Belegschaft, die überwiegend aus Stammkräften besteht, sondern es bilden sich an den Rändern 95 und im Umfeld der Betriebe Schichten von atypischen, fluktuierenden, nur kurz eingesetzten AN. Betriebliche Aufgaben werden an Subunternehmen, kleine Selbständige, wirtschaftlich abhängige Auftragnehmer, Werkunternehmer oder in Internet- Plattformen usw ausgelagert. Zunehmend bestehen Unternehmen aus einem virtuellen Geflecht von digital verbundenen Produktions- und Dienstleistungsstätten: aus Call-Centern, Zulieferern aller Art, Ein-Personen-Unternehmen, etc. Das befeuert die Tendenzen weg vom Normalarbeitsverhältnis, hin zu Risikoverlagerungen an formal Selbständige, in Wahrheit aber abhängig Beschäftigte, für die das Arbeitsrecht oft gar nicht gilt.

Interessenvertretung für AN wird damit zu einer zähen und mühsamen Angelegenheit. Die Ergebnisse sind nur bescheiden und für die Betroffenen dementsprechend enttäuschend. Die Belegschaft ist nicht kompakt, sondern hochgradig fragmentiert, die Kommunikation zwischen den Arbeitskräften stockt, die Interessenlagen sind oft sehr unterschiedlich, ja auch gegenläufig. Die Belegschaftsvertretungen sind zersplittert, viele Beschäftigte fallen gar nicht unter den Geltungsbereich der Betriebsverfassung bzw der kollektiven Rechtsgestaltung, und soweit es um AN iSd § 1151 ABGB geht, sind oft unterschiedliche Kollektivverträge anwendbar. Taktisches Kollektivvertrags-Hopping hebelt höhere Standards aus. Dauerhafte Bindungen an den Betrieb entstehen bei befristet beschäftigten, bei überlassenen Arbeitskräften oder bei in Dienst genommenen Auftragnehmern nicht. Weite Teile dieser Randbelegschaften und Zulieferer sind zu scheinunternehmerischer Selbstausbeutung gezwungen.

4.4.
Neue Möglichkeiten intensivierter Verfügung über die Arbeit

Der rasante technische Fortschritt steigert die „Intelligenz“, die Raffiniertheit und das psychische Gewaltpotenzial der „Personalpolitik“ und damit die Möglichkeiten, die Arbeitskraft bestmöglich den Unternehmenszielen unterzuordnen. Das betrifft etwa die technischen Möglichkeiten zur Kontrolle, die Nutzung intelligenter Systeme der Personalselektion, die umfassende Auswertung von personenbezogenen Daten, die nicht nur die Leistung, sondern auch die Persönlichkeit der AN evaluieren und in weiterer Folge in personalpolitische Entscheidungen einmünden. Die Verschmelzung von Menschen, Künstlicher Intelligenz und Algorithmen erzeugt eine neue Qualität von Abhängigkeit, Bevormundung, Freiheitsbeschränkung und Kontrolle.

4.5.
Offensivere Nutzung von Schutzlücken und Umgehungsmöglichkeiten

Derartige Rahmenbedingungen verringern die Verteilungs- und Umverteilungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene, sie ermöglichen es den Unternehmen, noch intensiver als bisher die bestehenden Lücken im „Kartellsystem“ des Arbeitsrechts zu nutzen. Das zwingende Arbeitsrecht wird je nach Spielanordnung umgangen, vermieden und (oft sanktionslos) gebrochen. Es bilden sich (zumeist unzulässige) privatrechtliche Konsense zwischen AG und AN. Komplementär zum Aufbau von Druck auf die garantierten Schutzpositionen wird – durchaus erfolgreich – versucht, die Bindungen an das Unternehmen und die Loyalität zum Betrieb zu stärken, durch „Framing“ und humanistisch eingefärbte Trugbilder (Corporate Social Responsibility, Diversity Management, Leitbilder eines unternehmerisch denkenden „Mitarbeiters“), durch Individualisierung der Arbeitsbeziehungen, durch Prämien, Steigerung des Erfolgsdrucks, Personalbeurteilungen. Zuckerbrot und Peitsche kennzeichnen vielfach das neue Personalmanagement, die AN werden von Beschäftigten mit anerkannten gegenläufigen Eigeninteressen zu Ich-AGs, Arbeitskraftunternehmern, Freelancern, Mikro-Wettbewerbern auf einem Konkurrenz-Arbeitsmarkt umgepolt. Auf diese Weise erodiert die Grundlage gewerkschaftlicher Gegenmacht und der Stabilisierung der für das Arbeitsrecht fundamentalen Kartellierung.

4.6.
Verschlechterung der Rahmenbedingungen im politischen System

Ein entwicklungs- und anpassungsfähiges Arbeitsrecht ist in hohem Maße von politischen, verfassungsrechtlichen und ideologischen Rahmenbedingungen abhängig. Das muss nicht näher ausgeführt werden, es wird uns tagtäglich vor Augen geführt. Auch hier erodiert der politische Kontext, unter dessen Schutzschirm „gute Arbeit“, angemessenes Entgelt und sozialer Schutz realisiert werden kann.

Die Zeiten eines relativ „arbeitsfreundlichen“ Staates neigen sich ihrem Ende zu.

Hier einige Ursachen:

  1. Die klassischen „Arbeiterparteien“ verlieren im politischen Raum an Bedeutung. Auch AN sind – paradoxerweise trotz Prekarisierung und Leistungsdruck – an diese Parteien schwächer als bisher gebunden. Traditionelle Bindungen sterben aus, neue Generationen mit anderen „Welt- und Lebensbildern“ wachsen heran. Die Generationen „Y“ und „X“ sind individualistischer, flexibler, für sie sind Freizeit, Konsum und persönliche Freiheiten von hohem Wert. Die ökonomische (relative) Erfolglosigkeit der alten „Arbeitnehmerparteien“ und die zunehmende Aggressivität deklassierter Schichten kippt nicht selten in einen Zulauf zu rechtsextremen Bewegungen.

  2. Zentral ist, dass die Erfolge aus der Blütezeit des Arbeitsrechts und des Sozialstaats relativ einfach und unkompliziert realisierbar waren. Das hohe Wachstum und die relativ weitreichende ökonomische Autarkie im alten Nationalstaat stellten eine Win-Win-Situation dar. Die heikle Verteilungsfrage wurde dadurch entschärft. Der Wachstumskonsens entfaltete sich ungetrübt von Überlegungen zu den immer schon prekären externen Effekten des quantitativen kapitalistischen Wachstumsmodus. 96 Heute regieren hingegen Standortoptimierung, Kampf um knappe Mittel, Uneinheitlichkeit der Interessenlagen, schwierige Entscheidungen darüber, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind, Konkurrenz zwischen verschiedenen ideologischen Konzepten. Die Verteilung erfolgt im Finanzkapitalismus – der ohne wirksame internationale Regulierung seinen spukhaften Spielen fast nach Belieben nachgeht – in Richtung auf die großen global agierenden Unternehmen und an Finanz- und Immobilienspekulationen in zigfacher Billionenhöhe.

  3. In der politischen „Linken“ finden sich zunehmend programmatische Akzente, die in eine deutlich andere Richtung weisen als die klassischen Eckpfeiler der sozialistischen, sozialdemokratischen oder kommunistischen Parteien. Im Vordergrund vieler dieser links-bürgerlichen Vorstellungen stehen bedingungsloses Grundeinkommen, Postwachstumsökonomie/Nullwachstum, Reserviertheit gegenüber supranationalen Regulierungssystemen, aber oft auch Technikfeindlichkeit und die Ideenwelt von Theoretikern, die ernsthaft selbst für die sozial Schwachen meinen, weniger ist mehr.

  4. Immer weniger stehen die „alten“ als verstaubt geltenden sozialen Fragen der Arbeit, der sozialen Sicherheit und des Lebensstandards im Mittelpunkt, sondern es dominieren Themen wie Identität, Inklusion, Innerlichkeit, psychische Balance, rurale Idyllen, Naturnähe, Harmonie, antiurbane Haltungen, Skepsis gegenüber der Modernisierung und dem Projekt der Aufklärung. Vollbeschäftigung, Wachstum, technischer Fortschritt, Produktivität, hoher Lebensstandard, ja auch ein hohes Konsumniveau sind hier nicht mehr die zentrale Agenda, oft genug sogar ein Feindbild. Für die sich weniger intellektualisiert gerierenden Milieus stehen Smartphone-Kommunikation, Spaßkulturen, Lebensstile, Gruppenidentitäten im Vordergrund des Interesses. Arbeit ist nicht cool und wird eher als Schicksal denn als politische Gestaltungsaufgabe begriffen.

  5. Der schärfste Konflikt mit vermutlich massiven Auswirkungen auf die künftige Qualität des Arbeits- und Sozialrechts ist mE das Spannungsverhältnis zwischen Beschäftigung, sozialen Interessen und arbeitsrechtlichen Standards einerseits und den ökologischen Imperativen und sonstigen Kollapsrisiken andererseits. Angesichts wissenschaftlich evidenter Risiken und Kollaps-Szenarien* wie Klimakrise, Biodiversitätskrise, Rohstoffkrise, globale Sicherheitsprobleme, der globalen Migration, der Desertifikation, des Sterbens der Meere, der Zeitbombe Afrika, uvam verschieben sich zwangsläufig die Schwerpunkte und Rangordnungen der politischen Prioritäten. Was Natur und Umwelt anlangt, besteht mit hoher Evidenz die Gefahr einer Auslöschung der Menschheit bzw der menschlichen Zivilisation. Die Zeit zum Umsteuern ist begrenzt, ein langfristig angelegter „weicher“ Übergang, der die ökologischen Imperative kompromissfähig mit den sozialen Zielen macht, ist unrealistisch. Der Handlungsbedarf in ökologischen Fragen ist signifikant stärker als der im sozialen Bereich und in der Arbeitswelt. Mit der Natur kann man nicht verhandeln und ohne Schutz der Existenzgrundlagen der Menschheit ist auch ein gutes Arbeitsrecht ohne Wert.

Leider ist die Bekämpfung von Klimakatastrophe und Artenvernichtung sozialpolitisch nicht neutral. Die erforderliche Kostenwahrheit trifft die sozial Schwachen mit besonderer Härte. Dem wird durch die weit verbreitete Meinung widersprochen, man könne die Entwicklung sowohl ökologisch als auch sozial gestalten.* Dass iSd Mainstreamthese ein Zukunftsmodell möglich ist, das sowohl sozial als auch ökologisch ist, halte ich für eine Illusion. Die erforderlichen Einschnitte zur Rettung von Klima, Artenvielfalt und ähnlichen Aufgaben sind so gewaltig, dass die damit verbundenen Kosten und Einschränkungen sozialpolitisch nicht aufgefangen werden können – oder die Öko-Politik wird so stark verwässert, dass der Zusammenbruch der Ökosysteme mit allen Folgen nicht verhindert werden kann. Dieser zentrale und unausweichlich auf uns zukommende Konflikt zeigt sich ansatzweise heute schon anhand von Fragen der CO2-Bepreisung, Benzinpreis, Verteuerung von Freizeitspaß wie Fliegen und Kreuzfahrten, Ökologisierung der Ernährung und des Wohnens.

5.
Schlussfolgerungen ohne Lösungen

An dieser Stelle ist innezuhalten. Es werden Schlussfolgerungen erwartet. Wer auf Lösungen hofft, muss aber enttäuscht werden. Wahrscheinlich gibt es keine – wenn man darunter versteht, problematische Tendenzen und Zustände „aufzulösen“ und zum Besseren zu wenden. Im Grunde sind wir leider mit einer Ansammlung von mehreren lösungsresistenten Dilemmata konfrontiert. Die Gesellschaft taumelt steuerungslos in eine ungewisse Zukunft. Unter solchen Umständen ist ein so gewaltiges Projekt wie ein Umbau der Arbeitsbeziehungen nicht realisierbar.

Die theoretisch denkbaren rettenden Spielzüge am Schachbrett der verwinkelten und fluiden planetarischen, europapolitischen und nationalen Spielfelder scheitern

  • an den geltenden Regulierungsverhältnissen (fehlende globale Verfassung mit supranationalen, jenseits des Völkerrechts wirksamen Regelungsinstrumenten),

  • an den geltenden Verfassungskonstruktionen im „Westen“, die evidenzbasierte und langfristig orientierte, die bestehenden Interessenlagen (auch bei den Wählern) zurückdrängende Strategien verhindern, 97

  • insb am dominierenden wirtschaftsverfassungsrechtlichen Regelwerk, dem „Code des Kapitals“, der dem global agierenden akkumulierten Kapital imperiale Macht verleiht, um die Welt zu beherrschen und zu unterwerfen, und letztendlich

  • an den naturhaften, evolutionsbiologisch programmierten Mängeln des „homo (in)sapiens“, der in einer Welt, in der die Selbstbestimmung individuell monadisch agierender Personen in Markt (Arbeit, Konsum) und Staat (Wahlen) steuerungstheoretisch die absolut zentrale Rolle spielt, „nicht schlau genug ist“, die gebotene Komplexitätsverarbeitung, Systemintelligenz und langfristige Gemeinwohlorientierung aufzubringen.

Das wahrscheinlichste Szenario: Bleiben die oben skizzierten Rahmenbedingungen im Wesentlichen so bzw, was zu befürchten ist, verschlechtern sie sich weiter, dann ist für das Arbeitsrecht ein langsamer, zäher Verfall, ein Prozess der schleichenden Erosion, ein permanenter Niedergang, jedoch ohne plötzliches Ende, zu erwarten. Das „gute alte Arbeitsrecht“ zieht sich mehr und mehr auf Restareale, auf Inseln, in geschützte Zonen zurück. Halbwegs akzeptable Restbestände existieren dann neben extremer Prekarität, andererseits zeigt sich eine durchaus erfolgreiche Goldgräbermentalität bei einer kleinen Schicht ehrgeiziger, gewitzter und tüchtiger Individualisten. Wir werden einen sich ausweitenden Sektor prekärer Arbeit im Bereich der Unselbständigkeit und der Scheinselbständigkeit haben, daneben individualisierte Vertragsbeziehungen mit starker Ausrichtung auf die Unternehmensinteressen und einen großen Niedriglohnsektor, der auf soziale Unterstützungsleistungen angewiesen ist. Es wird wohl ein langsames Siechtum. Fassaden werden bestehen bleiben, teils als potemkinsche Dörfer, teils als privilegiert empfundene Restbestände des alten Arbeitsregimes. Als neue Leitwerte dominieren anstelle von Solidarität und Gegenmacht individuelle Leistungsbereitschaft, individuelles (quasi-)Unternehmertum, Flexibilität und die Bereitschaft, unternehmerähnliche Risiken zu tragen. Als neue Tugend gilt die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten und ungeplant und riskant durchs Leben zu schlittern. Man nennt das Flexibilität und lobpreist das Ganze als Freiheit.

Im Einzelnen wage ich nun doch einige Thesen – zum Zwecke der Ingangsetzung von Denkprozessen:

  1. Dem Projekt einer transformativen Veränderung der EU in Richtung auf einen umfassend gestaltenden Wohlfahrtsstaat fehlt es an allem: an einer der politischen und rechtlichen Obsorge für ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital, an transnational verbindlichen Arbeits- und Sozialstandards, an transnationalen grundrechtlichen Absicherungen des Wohlfahrtsstaates. Unrealisierbar erscheint daher auch die Wiederbelebung „fordistischer“ Rahmenbedingungen auf transnationaler Ebene, auch auf Unionsebene.

  2. Große Entwürfe sind interessant, aber außer Reichweite politischer Gestaltbarkeit: Räteverfassung (Beteiligung der Arbeit an wirtschaftlichen Entscheidungen auf allen Ebenen), eine Wirtschaftsverfassung mit weit ausgebauten Staatsfunktionen und einem großen staatlichen bzw gemeinwirtschaftlichen Beschäftigungssektor, eine mixed-economy-Verfassung auf Unionsebene mit umfassenden Planungselementen, verbunden mit einer grundlegenden Änderung des nach wie vor weitgehend liberalen Grundrechtekatalogs.

  3. Bestechend wäre die Kombination einer AN-Selbstverwaltung der Unternehmen mit einem effektiven Recht auf Arbeit und einer staatlich finanzierten Tätigkeitsgesellschaft (außerhalb des marktgesteuerten Bereichs). Auch das wäre aber im Ergebnis eine Ablösung des herrschenden Normalmodells des Arbeitsrechts. Derzeit ist eine solche Vision dem Reich der Träume zuzuordnen.

  4. Noch ein Glasperlenspiel: Es gibt theoretisch viele Wege aus dem bestehenden Dilemma. Gemeinsam wäre ihnen eine Außerkraftsetzung der strukturellen Subalternität des Faktors Arbeit, die darin besteht, über die Produktivkräfte nicht zu verfügen. Dies wäre aber gleichzeitig das Ende der Regulierung der Arbeit, wie wir sie kennen. Je mehr versucht wird, Arbeit mit Kapitalfunktionen zu kombinieren, umso mehr erodiert die Existenzgrundlage eines „Gegenmacht“-Arbeitsrechts, das der Idee der Kartellierung der „Gegnerunabhängigkeit“ und einer Art einseitiger Interessenvertretung verpflichtet ist.

  5. Zu warnen ist vor pseudolinken Projekten, die der Idee einer zentralen gestaltenden Rolle der Arbeit in der Gesellschaft ebenso gefährlich sind wie eine neoliberale Radikal-Deregulierung. Hier sind zuvorderst zu nennen die Konzepte bedingungsloses Grundeinkommen, Postwachstumsökonomie und Renationalisierung/ Regionalisierung der politischen Systeme. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens steht für eine Kapitulation vor dem Projekt der aktiven Gestaltung der Gesellschaft und Produktion durch Arbeit.*

  6. Gegenprojekt wäre eine Verankerung eines Rechts auf Arbeit (plus angemessenen Entgelten) als subjektives, effektiv und individuell durchsetzbares Grundrecht, mE ein Weg in eine wirkliche Arbeitsgesellschaft und ein attraktives Narrativ, das gegenüber der sozialen Sense des Neoliberalismus und der linksbürgerlichen Kapitulation eines „Weniger ist Mehr“ ein Projekt der Moderne und des Fortschritts mit Arbeit als „Gestalter der Welt“ im Mittelpunkt anstrebt. Aber existiert ein Subjekt der Geschichte, um solches zu realisieren?

  7. Die Theorie der Kipppunkte und der der Labilität komplexer Systeme gilt auch hier. Es gibt auch soziale und ökonomische tipping points.* Finanzkrise, ökologische Katastrophen der auch 98 autoritären faschistoiden Systeme würden auch die Arbeitswelt radikal verändern. Eskalieren die sozialen Probleme, kann es zu politischen Umbrüchen mit ungewissem Ausgang kommen.

  8. Der bisherige Weg, in mühsamer Kleinarbeit Besitzstände zu verteidigen, den Niedergang abzufedern, neue Probleme zu thematisieren und allenfalls minimale Erfolge zu verhandeln, kann die Abwärtsbewegung der Arbeit als gesellschaftlicher Faktor und soziales Projekt nicht stoppen. Wie auch im Umweltbereich und im Bereich der Massenkultur geht es nicht mehr um die Durchsetzung von einzelnen Forderungen, so sehr sie uU eine temporäre Lösung anbieten und daher trotzdem alternativlos sind, sondern um die Verbesserung des Systemkontexts, in dem sich Arbeitspolitik bewegt.

Meine zusammenfassende Empfehlung lautet:

Für die Wissenschaft wie für ein derzeit (noch) nicht reales, aber am politischen Schachbrett vorerst als Idee existierendes politisches Subjekt, das sich aus den derzeitigen Playern, wie Gewerkschaften, NGOs, Linksparteien, Gemeinwohl-Strategen, Algorithmen, Verfassungsarchitekten und fortschrittlichen Kapitalisten einschließlich von weitsichtigen Banken zusammenfinden könnte, kann man abseits von konkreten inhaltlichen Zielen und Vorhaben zwei unabdingbare Voraussetzungen formulieren. Diese könnten eine neue Kontextsteuerung, eine neue Spielanordnung, eine Neuformulierung der Spielregeln im „House of Cards“ der Politik und Ökonomie und damit eine starke strategische Option etablieren. Die Organisationen, die „Arbeit“ repräsentieren, würden ähnlich einem strategischen Spiel wie GO die „Steine“ so bewegen, dass gegenüber dem Gegner entscheidende Übermacht und Stärken gewonnen werden.

  1. Ein starker europäischer Bundes(sozial-)staat: Es geht um die Schaffung von neuen Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft, in deren Zentrum die Arbeit (Arbeitsbedingungen, Entgelte, Einfluss auf das gesamte politische und wirtschaftliche Geschehen) steht, auf das Basis einer Grundrechteordnung, die soziale, liberale und ökologische Grundrechte in ein Gleichgewicht setzt, eines evidenzbasiert handlungsfähigen europäischen Bundesstaates, der auf kontinentaler Ebene die wesentlichen Staatsfunktionen übernimmt, verpflichtet dem Fortschritt, der Technikentwicklung, der Aufklärung und einem demokratisch gesteuerten qualitativen Wachstum.

  2. Ausbau der Machtbasis: Die derzeitige Unterlegenheit gegenüber dem Kapital, insb dem international völlig frei agierenden Finanzkapital sowie einem strukturell dem Standort und der Erhaltung der Profitrate verpflichtetem „bürgerlichen“ Staat, ist der arbeitszentrierte politische Block heute in geradezu erschreckender Weise unterlegen. Hier wären eiskalte und hyperintelligente Strategien zu entwickeln, um auf allen Ebenen bis in den transnationalen Raum (wieder) ein Gleichgewicht, wenn nicht sogar Überlegenheit, zu schaffen. Dazu benötigt man sehr viel Geld, sehr viel Wissen und Information, mächtige Medien, leistungsfähige Organisationen mit den besten Leuten und „Angebotsmacht“.

  3. Neue Schwerpunktbildung im Arbeitsrecht: Für die Arbeitsrechtswissenschaft ergibt sich daraus, dass sich die bearbeiteten Themenfelder stärker an den „großen Fragen“ der „Rahmenbedingungen“ und der strategischen Situation der Arbeit in der Gesellschaft orientieren sollten. Rechtspolitische Vorschläge in Einzelfragen bleiben sicher hoch bedeutsam, aber man muss auch dafür sorgen, dass die Detailarbeit an Verbesserungen der Situation der Beschäftigten auf ein realisierungsfreundliches Gesamtspielfeld trifft. Dieses ist derzeit nicht vorhanden. 99