Digitalisierung der Arbeit – aktuelle Trends und Problemlagen

JÖRGFLECKER (WIEN)
Die Anwendung neuer digitaler Technologien weiten die Optionen zur Gestaltung von Arbeit und Organisation erheblich aus. Dies betrifft nicht nur die Automation von Tätigkeiten, sondern auch die Arbeitsteilung, den Zuschnitt von Tätigkeiten sowie die räumliche und zeitliche Verteilung der Arbeit. Während von Seiten der Technologiefirmen und in der öffentlichen Diskussion viel von Umbrüchen oder „Disruptionen“ die Rede ist, zeigen empirische Untersuchungen über die Arbeitswelt ein anderes Bild. Die Weiterentwicklung digitaler Techniken und ihr Einsatz im Betrieb erfolgen schrittweise und folgen oft den bisher schon eingeschlagenen Pfaden. Dennoch können die Folgen massiv sein. Durch Automation sind Arbeitsplätze bedroht, die Arbeitsorganisation ist einem ständigen Wandel unterworfen, die kontinuierlichen Veränderungen am Arbeitsplatz erfordern eine dauernde Anpassung der Qualifikationen und können erhebliche Belastungen bewirken, zur Überwachung der Arbeitenden stehen bisher ungekannte Potenziale zur Verfügung und schließlich erleichtert die Digitalisierung weitere Auslagerungen aus dem Unternehmen und unterstützt die Fragmentierung der Beschäftigung, also die vielfachen und ungleichen Vertragsbedingungen der Arbeitenden.In diesem Beitrag sollen zunächst aktuelle Trends der Digitalisierung am Beispiel großer Dienstleistungsunternehmen dargestellt werden. Sie decken sich nicht mit den „Hypes“ der öffentlichen Debatte und ermöglichen es zu erkennen, was sich im „Normallauf“ der Digitalisierung in den Betrieben tut. Im Anschluss daran sollen ausgewählte Folgewirkungen des Einsatzes digitaler Technologien skizziert werden, wobei darauf hinzuweisen ist, dass sich die Folgen der Digitalisierung angesichts mehrerer großer Entwicklungstrends – von der Transnationalisierung bis zum sozialen Wandel – nicht isolieren lassen. Abschließend soll darauf verwiesen werden, dass die Einschätzung der Folgen der Digitalisierung davon abhängen, welche ethische Messlatte angelegt wird.
  1. Zum aktuellen „Normallauf“ der Digitalisierung

    1. Enterprise Resource Planning Systems (ERP)

    2. Robotic process automation (RPA)

    3. Kollaborative Software für Kommunikation und Kooperation

  2. Ausgewählte Folgen und Problemlagen

    1. Automation und Arbeitsplatzverlust 86

    2. Zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit

    3. Zuspitzung der Überwachungsproblematik

    4. Bedeutungsverlust des Betriebs und Fragmentierung der Beschäftigung

    5. Problemzirkel der Digitalisierung

  3. Schluss: Digitalisierung der Arbeit und ethische Prinzipien der Arbeitsgestaltung

1.
Zum aktuellen „Normallauf“ der Digitalisierung

Die Debatte über die Digitalisierung der Arbeit ist stark durch „Hypes“ über bestimmte aktuelle Technologieentwicklungen, wie etwa Künstlicher Intelligenz oder autonomen Fahrzeugen, geprägt. Deren konkrete Einsatzformen und Auswirkungen sind in der Regel aber zu der Zeit, in der wegen der Neuheit der Technik das größte öffentliche Interesse daran besteht, noch nicht bekannt, weil die Technik erst im Entwicklungs- und Erprobungsstadium ist. Weniger Aufmerksamkeit wird dagegen den empirisch relevanteren Technologieanwendungen geschenkt, die schon lange bekannt sind und den betrieblichen Alltag beherrschen. Die „Hypes“ um sie liegen in der Regel schon viele Jahre zurück. Was den Arbeitenden heute als Digitalisierung konkret gegenübertritt, das sind also oft die inkrementellen Weiterentwicklungen jener Technologien und Anwendungen, die vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, die öffentliche Diskussion beherrschten.

Das Forschungsprojekt „The effects of digitalization on work and employment in the service sector“* nahm genau diesen „Normallauf“ der Digitalisierung in den Blick und untersuchte die Veränderungen von Technik und Arbeitsorganisation in Angestelltenbereichen des Dienstleistungssektors, welche heute in den Betrieben tatsächlich am relevantesten sind. Dabei erwiesen sich folgende technische Veränderungen am relevantesten: die zunächst unspektakulär erscheinenden Neuerungen bei gesamtbetrieblichen Informationssystemen, wie den Enterprise Resource Planning Systems (ERP-Systemen), die Automation einzelner Arbeitsschritte und Abläufe unter dem Titel Robotic Process Automation sowie die Nutzung der als soziale Medien bekannten Anwendungen für die Kommunikation und Zusammenarbeit im Betrieb.

1.1.
Enterprise Resource Planning Systems (ERP)

ERP-Systeme, beispielsweise der Firma SAP, sind umfassende Informationssysteme, die zentrale Datenhaltung und einen Datentransfer zwischen Abteilungen innerhalb des Unternehmens und da - rüber hinaus ermöglichen. Die einzelnen Module für verschiedene Unternehmensfunktionen, wie Materialwirtschaft, Produktion, Rechnungswesen oder Personalverwaltung, sind in ein Gesamtsystem integriert, wodurch umfassende Managementinformationen generiert werden können. Über diese Systeme werden zudem die Aufgabenerfüllung in den einzelnen Abteilungen organisiert und die Tätigkeiten an den Arbeitsplätzen gestaltet. Zugleich fallen umfassende Daten über das Arbeitsverhalten und über Arbeitsleistungen an.

Ein Beispiel soll zeigen, welche Optionen für die Gestaltung der Arbeitsorganisation in diesem Zusammenhang bestehen: In einem Finanzdienstleistungsunternehmen werden die Eingaben von Kunden, die als „Fälle“ bearbeitet werden, automatisch in die Kategorien „einfach“, „mittel“ und „komplex“ eingeteilt. In der Folge werden diese Fälle vom Informationssystem so auf die Angestellten der Abteilung verteilt, dass eine Mischung der Kategorien entsteht, womit eine ausgeglichene Arbeitsbelastung erreicht werden soll. Es wäre aber auch möglich gewesen, einzelnen Personen die „einfachen“, anderen die „mittleren“ und wieder anderen die „komplexen“ Fälle zuzuteilen. Eine solche Aufgabenverteilung nach Qualifikation, die Einsparungen bei den Personalkosten nach dem Babbage-Prinzip bewirken kann, wird häufig angestrebt, ist aber in dem untersuchten Unternehmen nicht erfolgt. Die Abarbeitung der „Fälle“ erfolgt systemgeführt, das System gibt also die Reihenfolge der Arbeitsschritte vor. Trotz der Mischung kann über die Zahl und Zeit der Fallerledigungen die Leistung erfasst werden.

1.2.
Robotic process automation (RPA)

Für die Automation von Arbeitsschritten oder -abläufen mittlerer Komplexität werden Programme („software robots“) eingesetzt, welche zB die bisher von Angestellten durchgeführte Übertragung oder Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Quellen übernehmen. Damit werden insb routinehafte Arbeitsschritte auch an Arbeitsstellen mit komplexen Tätigkeiten, wie diejenige der Controller, automatisiert. Das Aufgabenspektrum der Angestellten verschiebt sich zur Überwachung der automatisiert ablaufenden Funktionen und zu inhaltlichen Analysen sowie Schlussfolgerungen aus den Daten. Dadurch können den Angestellten anstelle der repetitiven Arbeitsschritte anspruchsvollere Aufgaben übertragen werden, bei gleichzeitiger Abnahme der Zahl der Beschäftigten in der Abteilung. In einem untersuchten Unternehmen wurde den Abteilungen vorgegeben, eine bestimmte Zahl an Vorschlägen für eine solche robotic process automation pro Jahr zu machen.

Generell werden die Tendenzen der Höherqualifizierung im Zuge der Digitalisierung durch einen Gegentrend konterkariert, der in der Anlagerung von routinisierten Aufgaben an Sachbearbeitungsoder Spezialistentätigkeiten besteht. Somit werden viele bisherige Assistenz- oder Administrationsaufgaben 87 von hochqualifizierten Angestellten über das Informationssystem selbst erledigt.

1.3.
Kollaborative Software für Kommunikation und Kooperation

Die im privaten Bereich breit genutzten sozialen Medien, wie Facebook, WhatsApp oder Instagram, haben auch in der Arbeitswelt ihre Entsprechungen. Dadurch sind nicht nur neue Kommunikationskanäle für den Arbeitsalltag entstanden. Zugleich können diese Anwendungen auch für neue Formen der Arbeitsorganisation und für die Dokumentation der Arbeit genutzt werden. Was die Kommunikationskanäle betrifft, besteht bei der Nutzung teilweise eine Wahlmöglichkeit insofern, als man sich oft zwischen einem elektronischen oder persönlichen Informationsaustausch entscheiden kann. Häufig ist die Art der Kommunikation aber aufgrund der Tätigkeit vorgegeben, wenn es etwa um die gemeinsame Bearbeitung von Daten im Informationssystem geht.

Durch Anwendungen für das Projektmanagement wird die Erledigung einzelner Schritte in anspruchsvollen Tätigkeiten stärker an Zeitvorgaben gebunden und für nachträgliche Kontrollen transparent. Schließlich wird nicht nur die Arbeitsleistung transparenter, sondern vielfach auch die Anwesenheit, Verfügbarkeit und der Aktivitätsstatus der Angestellten für andere sichtbar. Eine weitere Problemlage besteht im häufigen Wandel der verwendeten Software, die ständige Veränderungen in der Arbeitsumgebung bewirkt und einen gesteigerten Lernaufwand erfordert.

Die eben beschriebenen Veränderungen durch die Weiterentwicklung der ERP-Systeme, durch robotic process automation oder den Einsatz kollaborativer Software können teils als Digitalisierung im engeren Sinn bezeichnet werden, insofern Information und ihre Bearbeitung in digitale Form gebracht wird, ohne dass sich die Arbeitsorganisation tiefgreifend verändert. Teils haben diese Innovationsprojekte jedoch auch digitale Transformation zum Gegenstand, insofern sie Automation anstreben und Arbeitsabläufe, Stellenbeschreibungen und Arbeitsbedingungen verändern. Dagegen bestimmen die derzeit in der öffentlichen Diskussion über die Digitalisierung hervorgehobenen neuen IT-Anwendungen, wie die Künstliche Intelligenz, das betriebliche Innovationsgeschehen nur sehr begrenzt, wie auch andere Untersuchungen zeigen. So stellt auch Tullius (2021) über den Finanzdienstleistungssektor in Deutschland fest: „Jedenfalls ist das Gros der Versicherungen und Banken gegenwärtig in der Hauptsache damit beschäftigt, die bestehenden, alten IT-Systeme schrittweise zu modernisieren (...), die bisher (...) nicht integrierten IT-Systeme (...) zu integrieren und damit eine durchgehend vernetzte IT-Infrastruktur erst möglich zu machen.“ (Tullius 2021: 17)

Zu den weiteren Schwerpunkten der aktuellen Digitalisierung zählt die umfassendere Nutzung von Videokonferenzen einschließlich Beratung von Kundinnen und Kunden über Video. Hier ist zu erwarten, dass die Ausweitung in der Zeit der Corona-Pandemie teilweise in den späteren Normalbetrieb übernommen wird. Auch die überbetriebliche Vernetzung und Integration und damit Vermeidung von menschlicher Arbeit an den Schnittstellen zwischen Unternehmen sowie Unternehmen und Ämtern schreitet weiter voran.

In der industriellen Produktion wurde bisher mit den unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bekannt gewordenen Anwendungen zwar bis heute der angekündigte Umbruch nicht breit feststellbar. Doch die Automation ist in Form inkrementeller Innovation weiter fortgeschritten. Ein besonderer Stellenwert kommt den Assistenzsystemen zu, die zur Anleitung manueller Tätigkeiten eingesetzt werden. Sie werfen Fragen der Technik- und Arbeitsgestaltung auf, insofern die Bandbreite ihres Einsatzes zwischen Unterstützung der Arbeitenden und ihrer Degradierung recht breit ist (Kuhlmann ua 2018).

2.
Ausgewählte Folgen und Problemlagen

In der aktuellen Diskussion wird häufig die Frage aufgeworfen, welche Folgen die Digitalisierung auf die Arbeit habe. Aus zwei Gründen ist diese Frage so nicht korrekt gestellt. Zum einen gibt es „die Digitalisierung“ nicht, denn die Entwicklung der Technik hat nicht nur viele Facetten, sie ist auch kein gesellschaftlich exogener Prozess in der Form, dass technische Entwicklungen einer Eigenlogik folgen und von außen in die Gesellschaft hereinwirken. Vielmehr geht die Entwicklung, die Gestaltung und der Einsatz von Technologien auf Strategien und Entscheidungen einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren zurück und ist durch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft geprägt (MacKenzie/Wajcman 1985). Bei der aktuellen digitalen Technik kommt hinzu, dass in der betrieblichen Anwendung aus der großen Zahl an Funktionalitäten ausgewählt wird und die konkret eingesetzte Technik erst bei ihrer Implementation zustande kommt. Letztlich beeinflussen auch die Nutzerinnen und Nutzer durch ihre Verwendung der Programme und Endgeräte die tatsächliche Gestaltung der Technik und ihrer Auswirkungen auf die Arbeit (Wajcman 2015).

Der zweite Grund, warum die Frage in dieser Form nicht sinnvoll ist, liegt darin, dass der zunehmende Einsatz digitaler Technologien selten die alleinige Ursache für Veränderungen der Arbeit ist. Die Vorherrschaft der Finanzmärkte im globalen Kapitalismus, die Entwicklungen auf den Produktmärkten, die Veränderungen der Organisationsstrukturen von Unternehmen, die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, aber auch gesellschaftliche Trends und sich wandelnde Ansprüche der Arbeitenden haben indirekt oder direkt Auswirkungen auf die Arbeitsgestaltung. Mit diesen und anderen Bedingungen sind die Entwicklung und der Einsatz digitaler Technologien eng verwoben. Damit sind die Folgen für die Arbeit nicht unbedingt der Digitalisierung oder digitalen Transformation zurechenbar (Haipeter et al 2021). Dennoch soll im Folgenden auf einige Entwicklungen der Arbeit hingewiesen 88 werden, die in besonderem Maße mit Digitalisierung in Zusammenhang stehen, freilich in Wechselwirkung mit anderen Entwicklungen.

2.1.
Automation und Arbeitsplatzverlust

Die Debatte um die Substitution menschlicher Arbeit durch Technik wurde in der jüngeren Geschichte bereits in mehreren Wellen geführt. Prognosen, die einen massenhaften Arbeitsplatzverlust vorhersagten, sind selten eingetroffen. Auch in der aktuellen Debatte wird häufig auf die Substituierbarkeit von Tätigkeiten hingewiesen. Zuletzt haben Dengler und Matthes (2021) Technologien untersucht, die Marktreife erlangten, und die beruflichen Tätigkeiten in Deutschland identifiziert, die damit automatisch ausgeführt werden können. Sie kommen zum Schluss, dass zwischen 2016 und 2019 das Substituierungspotenzial weiter gestiegen ist und dies besonders stark in den Sicherheitsberufen und den Handelsberufen, während es in den Fertigungsberufen weiter hoch blieb. Sie weisen zugleich darauf hin, dass auch komplexe Tätigkeiten zunehmend automatisierbar werden. „Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in einem Beruf mit hohem Substituierbarkeitspotenzial arbeiten, ist von 25 Prozent im Jahr 2016 auf rund 34 Prozent im Jahr 2019 gestiegen. Dabei handelt es sich um Berufe, in denen mindestens 70 Prozent der Tätigkeiten potenziell substituierbar sind“ (Dengler/Matthes 2021: 1).

Es bleibt aber offen, in welchem Ausmaß dieses Potenzial tatsächlich genutzt wird und wie viele Arbeitsplätze an anderer Stelle neu entstehen. Auch sind die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt unterschiedlich, ob es sich um expandierende oder schrumpfende Branchen handelt. Im Dienstleistungssektor ist Automation zudem mit weiter vorangetriebener Selbstbedienung verbunden. Gerade in der Versicherungswirtschaft sind Entwicklungen zu erwarten, die aus dem Bankwesen schon bekannt sind. In dieser wie in anderen Branchen stellt sich daher die Frage, welche Ansprüche die Arbeitenden im Hinblick auf die Sicherung ihrer Beschäftigung stellen können. So wäre es beispielsweise denkbar, die Digitalisierungsstrategien der Unternehmen mittels betrieblicher und branchenweiter Arbeitszeitverkürzung abzufedern.

2.2.
Zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit

Frühere Grenzziehungen zwischen Berufsarbeit und anderen Lebenssphären sind in vielen Arbeitszusammenhängen durchlässig geworden. Dazu hat die Flexibilisierung der Arbeitszeit wesentlich beigetragen. Mobile Endgeräte, wie Smartphones oder Laptop-Computer, ebenso wie die Zugriffsmöglichkeiten auf Datenbestände von außerhalb des Betriebs erlauben die Erledigung von Aufgaben von unterwegs und von zu Hause. Damit ist ein großes Potenzial zur Ausdehnung der Arbeitszeiten und zur Nicht-Einhaltung von Arbeitszeitregeln gegeben. In der anfangs genannten Untersuchung über Dienstleistungsunternehmen wurde in einem Interview folgender Zusammenhang beschrieben: „Ja, (...) viele erledigen Jobs in der Freizeit. Und geben es noch dazu auch nicht zu, aber intern in der Abteilung werden sie es wissen. (...) Weil im Prinzip arbeitest du sogar während dem Fahren, beantwortest das E-Mail. Also wir kennen genug Leute da, die so sind. [...] Das sind einfach Leute, die haben halt wirklich Angst um ihren Job.“

Während der Corona-Pandemie wurde der Kreis der Arbeitenden, die im Home-Office tätig sind, erheblich ausgeweitet. Diese Arbeitssituation ist ein weiterer Schritt der Entgrenzung, der Fragen der Arbeitszeit und der Erreichbarkeit aufwirft. Bei einer Befragung,* die wir im Jahr 2020 durchführten, gaben etwa 40 % an, dass ihnen nicht klar kommuniziert worden war, wann sie erreichbar sein sollten. Etwas über 40 % berichteten, dass sie auch außerhalb der vereinbarten bzw der üblichen Bürozeiten regelmäßig kontaktiert wurden. Ebenfalls etwas über 40 % fühlten sich sogar verpflichtet, auch außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit erreichbar zu sein. Auch unabhängig von Home- Office ist feststellbar, dass große Arbeitsmengen, Personalmangel und hohe Arbeitsintensität zu einem Ausweichen in bezahlte oder unbezahlte Überstunden führen (Hünefeld et al 2019).

2.3.
Zuspitzung der Überwachungsproblematik

Seit Computer in der Arbeitswelt zum Einsatz kommen, werden der Schutz personenbezogener Daten und die Gefahren der Überwachung der Arbeitenden diskutiert. Die Möglichkeiten zur Überwachung und zur missbräuchlichen Verwendung von Daten nahmen durch neue Entwicklungen der Digitalisierung erheblich zu. Dazu trugen die Integration von Datenbeständen in Unternehmen und Organisationen, das laufende Entstehen von Leistungsdaten im Arbeitsprozess und der Einsatz von Algorithmen für die Integration und Aufbereitung von Daten bei. In Bezug auf Kollaborationssoftware hat das eine Person, die in der eingangs erwähnten Untersuchung befragt wurde, folgendermaßen ausgedrückt: „Es wird einfach auf Confluence mitprotokolliert: Wer hat was wann geändert? [...] Wenn ich sage: Ich mache was bis gestern Abend fertig, und ich mache es erst dann am nächsten Tag zu Mittag, dann sieht man das am Zeitstempel, prinzipiell.“ Insgesamt ist eine Vielzahl an Anwendungen im Einsatz, die den Arbeitenden das Gefühl vermitteln können, ständig überwacht zu werden. So stimmten in der genannten Home-Office-Befragung der Aussage: „Die Firma kann elektronisch prüfen, wann ich arbeite“, 22 % voll zu, 24 % eher zu, 19 % eher nicht zu und 23 % gar nicht zu, während 12 % mit „weiß nicht“ antworteten.

Das Problem der Überwachung von Arbeitenden und der missbräuchlichen Verwendung personenbezogener Daten kann auf zwei unterschiedliche Weisen verschärft werden. In einem Fall weiten sich die Datengrundlagen für Vorgesetzten- bzw 89 Managemententscheidungen erheblich aus bei gleichzeitiger Ausweitung der Möglichkeit, Algorithmen dafür einzusetzen, Entscheidungsgrundlagen zusammenzustellen oder im Extremfall Entscheidungen zu treffen. Im anderen Fall werden nicht Vorgesetzte auf der Grundlage von Datenauswertungen aktiv, sondern die Auswertungen werden den Arbeitenden mit dem Ziel rückgemeldet, ihre Leistung zu steigern. Im Kontext indirekter Steuerung, also relativ autonomer Arbeit mit Zielvorgaben, und der Stimulierung von Konkurrenz unter den Arbeitenden entsteht so die Gefahr „interessierter Selbstgefährdung“ (Peter 2011). Damit ist gemeint, dass Arbeitende ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um beruflich mithalten zu können oder weiterzukommen. In einer solchen „kybernetischen Herrschaft“ (Raffetsberger ua 2017) werden Vorgesetzte tendenziell umgangen oder sogar deren Positionen eingespart. Dieser zweite Fall der Verwendung von Leistungsdaten, also die Rückmeldungen an die Arbeitenden, ist interessenpolitisch deutlich schwerer in den Griff zu bekommen und verlangt neue Zugänge zur Überwachungs- und Leistungsproblematik. Insgesamt nimmt die Sichtbarkeit des Verhaltens der Arbeitenden deutlich zu, was sowohl AG-Entscheidungen beeinflussen als auch zu verschärfter indirekter Steuerung und interessierter Selbstgefährdung beitragen kann.

2.4.
Bedeutungsverlust des Betriebs und Fragmentierung der Beschäftigung

Für die Erwerbsarbeit war bisher der Betrieb als räumliche, organisatorische und rechtliche Einheit zentral. Mehrere Entwicklungen haben zu einem Bedeutungsverlust des Betriebes geführt, insofern sie den Ort der Arbeit, die Organisationsmitgliedschaft und die AG-Funktion auseinandertreten lassen und durch Auslagerung auch die verschiedenen Unternehmensfunktionen vom Einkauf bis zum Vertrieb auf verschiedene Firmen und Betriebe aufteilen. Hinzu tritt, dass die Informationssysteme in Form der software as a service bzw infrastructure as a service betrieben werden und so nicht mehr zum Betrieb gehören. Dies hat erhebliche Folgen für die Gestaltung und Regulierung von Arbeit, denn die gesetzlichen, kollektivvertraglichen und betrieblichen Regelungen setzen in der Regel einen betrieblichen Kontext voraus (Latniak/Rosenbohm 2021).

Der Bedeutungsverlust des Betriebs ist mit der Tendenz zur Fragmentierung der Beschäftigung verschränkt. Damit ist gemeint, dass die Zahl der Kategorien von Arbeitskräften zunimmt, also neben der Kernbelegschaft der dauerhaft Beschäftigten verschiedene Gruppen wie Leiharbeitskräfte, andere kurzfristig beschäftigte Randbelegschaftsmitglieder, Beschäftigte bei Zuliefer- und Dienstleis terfirmen kommen. Damit treten über das Phänomen der atypischen Beschäftigung hinaus weitere Abstufungen der Organisationsmitgliedschaft auf, was zu „multiple- employers settings“ oder Dreiecks- bzw uneindeutigen AG-Beziehungen führt (Helfen 2014).

Digitalisierung ist in diesem Zusammenhang insofern von großer Bedeutung, als Informationssysteme das Rückgrat insb der komplexen Organisationsstrukturen und Unternehmensnetzwerke bilden (Weil 2014). Am Beispiel des Online-Handels und der Paketzustellung wird anschaulich, in welchem Maße die Steuerung und Überwachung der Abläufe und der Arbeit einerseits und die AGFunktion andererseits auseinandertreten. Während multinationale Konzerne die Paketdienstleistungen bestimmen und die logistischen Abläufe über Informationssysteme hochgradig integrieren sowie die Arbeitsleistung detailliert überwachen, ist die Dienstleistung organisatorisch durch Subauftragsvergabe zersplittert. Die daraus entstehende Preiskonkurrenz übt erheblichen Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen aus, während die zentralen Firmen jegliche Verantwortung und Fürsorgepflicht als AG von sich weisen (Haidinger 2012).

Der Bedeutungsverlust des Betriebs und die Fragmentierung der Beschäftigung verschärfen das Problem der (arbeits- und sozial-)rechtlich ungleichen Behandlung teils gleicher Arbeit, das schon im Fall atypischer Beschäftigung auftritt. Dazu kommen häufig krasse Unterschiede in den Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung, welche durch mangelnde Interessenvertretung, aber auch durch die Ethnisierung und Rassifizierung sozialer Beziehungen eingeschränkt werden.

2.5.
Problemzirkel der Digitalisierung

Die einzelnen hier kurz angeführten Folgen und Problemlagen sollten nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Sie wirken nicht nur zusammen, sondern können einander auch gegenseitig verstärken. Digitalisierung wird zur Einsparung von Arbeit genutzt, und in der öffentlichen Diskussion ist von einem umfassenden Ersatz menschlicher Arbeit durch Roboter und Algorithmen die Rede. Zudem kann die konkrete Möglichkeit zur Automation an einem Arbeitsplatz zur Angst um den Job führen. Für Deutschland konnte nachgewiesen werden, dass Beschäftigte in Berufen, deren Tätigkeiten eher auf Computer übertragen werden können, ihre Beschäftigungsaussichten pessimistischer als andere (Dengler/Gundert 2021) beurteilen. Eine solche Wahrnehmung steigert wiederum die Wirkung der indirekten Steuerung und der digitalen Überwachung, unabhängig davon, ob letztere tatsächlich ausgeübt oder nur vermutet wird. Die Transparenz von Leistung und Verhalten im algorithmischen Management wird in einem solchen Kontext also deutlich problematischer. Gemeinsam mit anderen organisatorischen Strategien kann dies zur Arbeitsintensivierung und zur Entgrenzung von Arbeit führen, die psychische Belastungen steigern können. Solche Belastungen werden auch durch unzureichende Qualifizierung bei sich ständig verändernden Arbeitsmitteln am digitalen Arbeitsplatz hervorgerufen. Von „digitalem Stress“ ist die Rede, wenn Arbeitsanforderungen an die Beschäftigten nicht den Fähigkeiten im Umgang mit der digitalen Technik entsprechen (Gimpel et al 2018). Ist die Gesundheit beeinträchtigt, steigen wiederum die Sorgen, in der Berufsarbeit nicht mehr mithalten zu können und die Leistungsanforderungen und den Wandel der Arbeit nicht mehr zu bewältigen. 90

3.
Schluss: Digitalisierung der Arbeit und ethische Prinzipien der Arbeitsgestaltung

Durch den Fokus auf Problemlagen ist in diesem Beitrag die andere Seite, nämlich der (mögliche) Beitrag der Digitalisierung zur Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, zu kurz gekommen. Abhängig von Interessen und Machtverhältnissen kann die Ausweitung der Gestaltungsoptionen freilich auch dafür genutzt werden. Dies betrifft die ergonomische Gestaltung der Arbeit in der industriellen Produktion oder im Bauwesen ebenso wie die lernförderliche Arbeitsorganisation im Büro. Tatsächlich ist ja häufig von den „Chancen und Gefahren“ der Digitalisierung die Rede. Auf die Chancen wird jedoch meist eher zum Zweck der Versöhnung der Zuhörerinnen und Zuhörer mit dem angeblich unausweichlichen Wandel hingewiesen, um letzteren dann eher iS wirtschaftlicher Vorteile für wenige zu betreiben, ohne allzu viel Rücksicht auf diejenigen zu nehmen, die von den Nachteilen betroffen sind.

Doch sowohl für die möglichen Verbesserungen der Arbeit als auch für die Vermeidung von Nachteilen für die Arbeitenden braucht es ethische Prinzipien, um konkrete Vorhaben und Veränderungen beurteilen zu können. ME können drei verschiedene Maßstäbe angelegt werden. Erstens kann es um das Ziel gehen, die bisherigen Standards der Arbeit unter neuen Bedingungen zu sichern. Das betrifft den Schutz vor Arbeitsplatzverlust, die Begrenzung der Überwachung angesichts neuer Potenziale und Gefahren, die Vermeidung der Dequalifizierung durch eine entsprechende Gestaltung der Arbeitsorganisation und vieles mehr. Dies könnte man mit der Forderung des Soziologen Pierre Bourdieu in einer seiner gesellschaftspolitischen Interventionen verallgemeinern, in der er ein europaweites „Regressionsverbot“ bei den sozialen Errungenschaften angeregt hat (Bourdieu 1998). Zwar erscheint ein solches ethisches Prinzip als defensiv. Doch angesichts der Entwicklungen etwa im Online-Handel oder bei Internetplattformen erscheint es in manchen Bereichen doch als Herausforderung, ein solches Rückschrittsverbot umzusetzen.

Zweitens können bestehende Kriterien für gute Arbeit (Schröder 2020) oder decent work der ILO* herangezogen werden, um aktuelle Entwicklungen der Digitalisierung zu beurteilen. Damit lassen sich so unterschiedliche Themen wie Einkommen, Arbeitszeiten, soziale Sicherheit, aber auch Software- Ergonomie oder die Diskriminierungsfreiheit von Algorithmen abdecken. Das Weißbuch der Europäischen Kommission zur Künstlichen Intelligenz beispielsweise bietet einen Katalog von Zielsetzungen der Gestaltung an (Europäische Kommission 2020).

Drittens kann danach gefragt werden, wie sehr sich die Arbeitsbedingungen durch den heutigen Stand der Technik verbessern lassen. Die Gesundheit der Arbeitenden, ihre soziale Teilhabe, ihre Menschenwürde, die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und anderes würden zu expliziten Zielen der Gestaltung und Anwendung digitaler Technik. Die Gestaltungsoffenheit der Technologie und die vielfältigen Anwendungsoptionen, die diese bietet, würden unter diesem ethischen Gesichtspunkt also zur Erreichung von Humanisierungszielen auch auf Kosten ökonomischer Ziele genutzt. Dies hätte viel weiter gehende Konsequenzen für die Arbeitsgestaltung, die Beschäftigungssicherung oder die Verkürzung der Arbeitszeit als die anderen genannten Prinzipien und wäre wohl nur über eine Demokratisierung der Unternehmen und Organisationen zu erreichen.

Literatur

Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK. 1998

Dengler, Katharina, Gundert, Stefanie (2021): Digital Transformation and Subjective Job Insecurity in Germany. In: European Sociological Review, Volume 37, Issue 5, October 2021, S. 799-817

Dengler, Katharina, Matthes, Britta (2021): Folgen des technologischen Wandels für den Arbeitsmarkt: Auch komplexere Tätigkeiten könnten zunehmend automatisiert werden. IAB-Kurzbericht 13/2021, Nürnberg

Europäische Kommission (2020): Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz – ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen, COM(2020) 65 final, Brüssel

Gimpel, H., Lanzl, J., Regal, C., Urbach, N., Wischniewski, S., Tegtmeier, P., Kreilos, M., Kühlmann, T., Becker, J., Eimecke, J., Derra, N. D. (2019). Gesund digital arbeiten?! Eine Studie zu digitalem Stress in Deutschland. Augsburg

Haidinger, Bettina (2012): On the move in Global Delivery Chains: Labour Relations and Working Conditions in the Parcel Delivery Industries of Austria, Germany, the Czech Republic and Hungary. SODIPER Synthesis Report. Wien: FORBA

Haipeter, Thomas, Hoose, Fabian, Rosenbohm, Sophie (2021): Arbeitspolitik in digitalen Zeiten: Chancen und Herausforderungen für Arbeitsbeziehungen, Arbeitsgestaltung und Organisation. In: Thomas Haipeter, Fabian Hoose, Sophie Rosenbohm (Hrsg.): Arbeitspolitik in digitalen Zeiten, Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 9-44

Helfen, Markus (2014): Netzwerkförmige Tertialisierung und triangularisierte Beschäftigung: Braucht es eine interorganisationale Personalpolitik? In: Managementforschung 24, S. 171-206

Hünefeld, Lena, Meyer, Sophie-Charlotte, Ahlers, Elke, Erol, Serife (2020): Arbeitsintensität als Gegenstand empirischer Erhebungen. Das Potenzial repräsentativer Erwerbstätigenbefragungen für die Forschung. In: WSI-Mitteilungen 1/2020, S. 19-28

Kuhlmann, Martin, Splett, Barbara, Wiegrefe, Sascha (2018): Montagearbeit 4.0? Eine Fallstudie zu Arbeitswirkungen und Gestaltungsperspektiven digitaler Werkerführung. In: WSI-Mitteilungen 3/2018, S. 182-188 91

Latniak, Erich, Rosenbohm, Sophie (2021): Arbeiten ohne Betrieb? Digitalisierungsprozesse und ihre Konsequenzen für die Gestaltung und Regulierung von Arbeit. In: Thomas Haipeter, Fabian Hoose, Sophie Rosenbohm (Hrsg.): Arbeitspolitik in digitalen Zeiten, Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 45-82

MacKenzie, D. A., Wajcman, J. (eds.) (1999): The Social Shaping of Technology. Milton Keynes: Open University Press

Peters, Klaus (2011): Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung. Eine 180-Grad-Wende bei der betrieblichen Gesundheitsförderung. In: Kratzer, N., Dunkel, W., Becker, K., Hinrichs, S. (Hrsg.) Arbeit und Gesundheit im Konflikt. Berlin: edition sigma, S. 105-122

Raffetseder, Eva-Maria; Schaupp, Simon; Staab, Philipp (2017): Kybernetik und Kontrolle: algorithmische Arbeitssteuerung und betriebliche Herrschaft. In: Prokla. Arbeit und Wertschöpfung im digitalen Kapitalismus 47 (2017), S. 229-247

Tullius, Knut (2021): Digitalisierung im Finanzdienstleistungssektor – Folgen für Angestelltenarbeit an der Front-Line. In: WSI-Mitteilungen 4/2021, S. 274 – 283 Schröder, Lothar (Hrsg.) (2020): Arbeitsschutz und Digitalisierung – Impulse für eine moderne Arbeitsgestaltung Frankfurt am Main: Bund Verlag

Wajcman, J. (2015): Pressed for time – The Acceleration of Life in Digital Capitalism. Chicago: The University of Chicago Press

Weil, David (2014): The fissured workplace. Cambridge, Mass.: Harvard University Press