Die Zukunft des Arbeitsrechts im digitalen Wandel aus Sicht der ArbeitnehmerInnen- Interessenvertretung

CHRISTOPHKLEIN (WIEN)
In meinem hier verschriftlichten Einleitungsstatement zur das Symposium am 24.9.2021 abschließenden rechtspolitischen Sozialpartnerdiskussion beschreibe ich das Arbeitsrecht als Kompromiss zwischen den Polen Freiheit und Sicherheit, der durch den digitalen Wandel in drei Punkten in Frage gestellt wird: beim AN-Begriff, bei der Rolle der kollektiven Schutzmechanismen und bei der Freiheit der AN vor überzogener Kontrolle und Überwachung. Wer Tendenzen zu irrationaler Maschinenstürmerei vorbeugen will, muss das Arbeitsrecht in diesen Bereichen zukunftsfit halten/machen.

Der rasant verlaufende digitale Wandel ersetzt vielfach menschliche Arbeitskraft durch Computer und computergesteuerte Maschinen. Dennoch haben die österreichischen Gewerkschaften und Arbeiterkammern von Anfang an auf jegliche maschinenstürmerische Phantasien verzichtet und vielmehr auf eine Strategie der Mitgestaltung dieser wohl kaum aufhaltbaren Entwicklung gesetzt. Die Grundlage einer solchen Ausrichtung ist freilich das Vertrauen in die Haltbarkeit und Zuverlässigkeit zweier gerade in Österreich fest verankerter und qualitativ hochwertiger Institutionen: der Sozialpartnerschaft und des Arbeitsrechts.

Die entscheidende Rolle der Sozialpartnerschaft liegt auf der Hand: Wer auf Mitgestaltung statt Gegnerschaft setzt, will natürlich sichergehen, auch tatsächlich Gelegenheit zur Mitgestaltung zu erhalten – im Dialog mit den auf die digitale Modernisierung 190 setzenden Unternehmen und deren Interessenvertretungen sowie mit dem regulatorisch und als Fördergeber (gerade auch in Hinblick auf die im digitalen Wandel erforderlichen Qualifikationen!) intervenierenden Staat.

Das Arbeitsrecht wiederum soll in diesem Kontext als Kompromiss zwischen den Polen Freiheit und Sicherheit betrachtet werden. Jene Freiheit, die dem Unternehmer die Verfügung über seine Produktionsmittel verschafft, hat der AN gerade nicht; er ist darauf angewiesen, seine Arbeitskraft dem Unternehmer zu verkaufen, der damit zum AG wird. Verkauf der Arbeitskraft – das bedeutet ein Stück Freiheitsverzicht, indem sich der AN während der Arbeitszeit in die betriebliche Organisation einordnet und den Weisungen des AG unterwirft. Im Gegenzug verschafft ihm das Arbeitsrecht Sicherheit – zB eines Einkommens, das zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht und auch während Krankheit und Erholungszeiten (Urlaub) fließt, und die Sicherheit nicht willkürlich und von einem Tag auf den nächsten den Arbeitsplatz zu verlieren (Beendigungs- und Bestandschutzrecht).

Während sich der digitale Wandel zur Sozialpartnerschaft grundsätzlich neutral verhält, sind ihm gewisse Wesenszüge eigen, die die das Arbeitsrecht tragende Balance aus Freiheit und Sicherheit gefährden. Von diesen Gefahren sollen im Folgenden drei dargestellt werden.

Der erste Punkt betrifft den Pol der Sicherheit. Das Ausloben von Arbeit auf digitalen Marktplätzen in den verschiedenen Formen der Plattformarbeit (von Clickwork bis zum Fahrradbotendienst) rührt an einer Grundfeste des Arbeitsrechts, nämlich dem AN-Begriff. Die Möglichkeit, Aufträge scheinbar nach Belieben annehmen oder ablehnen zu können (Frage: Wovon lebt man dann?), erweckt den Eindruck unternehmerischer Freiheit. In digitaler Anbindung im Homeoffice zu arbeiten, vielleicht auch noch zu selbstgewählten Zeiten, etwa, weil der Kontakt zu Vorgesetzten und KollegInnen durch den Kontakt zu einer steuernden Artificial Intelligence ersetzt wird, macht die örtliche und zeitliche Einbindung als Element des AN-Begriffs fraglich. Nicht nur die juristische Beurteilung, ob es sich um einen AN handelt, der damit den Schutz des Arbeitsrechts genießt, kann sich durch solche Elemente echter oder vermeintlicher Freiheit verschieben, sondern auch die Arbeit Leistenden können der Attraktion „unternehmerischer Freiheiten“ erliegen und die Sicherheit des geregelten Arbeitsverhältnisses dagegen eintauschen und damit faktisch zu einer Ausbreitung von (Schein-)Selbständigkeit zu Lasten arbeitsrechtlich gesicherter Arbeit beitragen. Was sie dabei leicht übersehen, ist, dass die angestrebten zB zeitlichen und örtlichen Freiheiten ohne Weiteres auch im Rahmen eines regulären Arbeitsvertrages vereinbart werden können.

Auch wenn solche Potentiale und Entwicklungen des digitalen Wandels aufmerksam verfolgt werden müssen, hat sich das österreichische Arbeitsrecht in dieser Hinsicht bisher doch als relativ stabil erwiesen. In Österreich wird die Quote ökonomisch abhängiger Selbständigkeit auf etwa 5 % der Labour force geschätzt, während international das Doppelte und mehr bereits Realität ist. Für die vergleichsweise geringe Erosion des AN-Begriffs in Österreich sind vor allem drei Gründe zu nennen. Erstens ist in Österreich seit Mitte der 1990er-Jahre jegliche Erwerbsarbeit im Grundsatz beitragspflichtig sozialversichert, sodass das Motiv, durch Scheinselbständigkeit Sozialversicherungsbeiträge zu sparen, wegfällt. Zweitens sorgen die Träger, bei denen die AN pflichtversichert sind, durch mit den entsprechenden Beitragsnachzahlungen sanktionierte Kontrollen für die richtige rechtliche Einordnung unselbständiger Arbeit. Und drittens haben die Höchstgerichte OGH und VwGH auf technische und sonstige faktische Entwicklungen, die die klassischen formellen Anknüpfungspunkte des AN-Begriffes leicht umgehbar machten, in einer klugen Judikaturentwicklung so reagiert, dass bei grundsätzlich gleichbleibenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen trotz des Wegfalls klassischer Formalkriterien ein Arbeitsvertrag weiterhin meistens als gegeben angenommen wurde.

Eine zweite Stelle, an der Freiheiten, die der digitale Wandel (den einen) bringt, die Sicherheit (der anderen) gefährden können, ist die entscheidende Rolle, die die sogenannten kollektiven Mächte im Arbeitsrecht spielen. Rund die Hälfte der in Österreich tätigen AN ist in Betrieben tätig, in denen die AN-Interessen durch kündigungsgeschützte Betriebsräte vertreten werden. Voraussetzung für die Wahl eines BR durch die Belegschaft ist ein „Betrieb“ als in Österreich lokalisierte arbeitsorganisatorische Einheit. Wie an einem „virtuellen“ Betrieb, der sich über mehrere Staaten erstreckt und auch etliche über ganz Österreich verstreute AN umfasst, eine Betriebsratsgründung anknüpfen soll, steht in den Sternen.

Österreichische Kollektivverträge gelten für AG, die Mitglied in der den jeweiligen KollV abschließenden Organisationseinheit der Wirtschaftskammer Österreich sind. Zwar haben auch AG mit Sitz im Ausland die vom einschlägigen KollV vorgegebenen Löhne und Gehälter und sonstigen Mindestarbeitsbedingungen zu gewährleisten; die praktische Durchsetzbarkeit dessen ist jedoch – gerade bei AG mit Sitz außerhalb der EU – ein anderes Kapitel. Zudem hat der EuGH in Konflikten um die grenzüberschreitende Geltung von Kollektivverträgen der Grundfreiheit der EU-weiten unternehmerischen Tätigkeit im Binnenmarkt den Vorrang vor dem ebenfalls grundrechtlich (durch die europäische Sozialcharta) geschützten Recht auf Kollektivverhandlungen gegeben und auf dieser Basis die Geltung von Kollektivverträgen abgelehnt. Solange der EuGH nicht erkennt, dass die Europäische Union ebenso politische und Sozialunion ist wie Wirtschaftsunion und weiterhin die Binnenmarktfreiheiten als „Super-Grundrechte“ gegenüber den anderen Grundrechten behandelt, wird hier der europäische Gesetzgeber Abhilfe schaffen und den digitalen Wandel mit einer Stärkung der kollektiven Rechte der AN begleiten müssen.

Die dritte und letzte hier zu behandelnde Problemlage betrifft den Gegenpol der Sicherheit, also die Freiheit der AN. Digitale Technik ermöglicht Formen 191 der Überwachung und Kontrolle von Person, Arbeit und sonstigem Verhalten der AN in einem enormen Ausmaß, insb dann, wenn dabei Artificial Intelligence eingesetzt wird. Ein Beispiel: Ein Lagerarbeiter befüllt im Warenlager eines Versandhändlers zum Versand bestimmte Pakete. Zu diesem Zweck geht er mit einem elektronischen Gerät die Regale ab, das ihm auf einem Bildschirm mitteilt, welche Artikel jeweils zu entnehmen und einer bestimmten Sendung zuzuteilen sind. Das Gerät zeichnet jedoch gleichzeitig ununterbrochen und präzise die vom AN zwischen den Regalen zurückgelegten Wege samt den zugehörigen Wegzeiten auf. Als „Hilfestellung“ schlägt die aus den Zeit-Weg-Diagrammen lernende Künstliche Intelligenz dem Arbeiter für das Zusammenstellen weiterer Lieferungen optimierte, kürzere Wege vor. Was zunächst unterstützenden Charakter beansprucht, entpuppt sich rasch als tayloristische Rationalisierung des Einsatzes menschlicher Arbeitskraft: Sukzessive werden den Lagerarbeitern immer knappere Zeitvorgaben für das Befüllen der Pakete gemacht und der Personalstand wird dementsprechend reduziert. Die permanente Beobachtung Schritt auf Tritt und die Druckausübung in Richtung perfekter Nutzung der menschlichen Arbeitszeit macht den AN hier in hohem Ausmaß vom handelnden Subjekt zum bloßen Objekt der Profitmaximierung.

Im österreichischen Arbeitsrecht würde dieses Beispiel in die Rubrik „Berühren der Menschenwürde“ (wenn nicht sogar Verletzung der Menschenwürde) fallen und daher als Kontrollmaßnahme gelten, die der AG nur mit – auch gerichtlich nicht ersetzbarer – Zustimmung des BR einführen darf (§ 96 ArbVG). Inwieweit hier die Möglichkeiten des digitalen Wandels tatsächlich zur Unterstützung des arbeitenden Menschen oder aber zur Optimierung des Ausnutzens der menschlichen Arbeitskraft eingesetzt werden, unterliegt damit im österreichischen Betrieb mit BR einem Aushandlungsprozess. Viel problematischer stellt sich freilich die Situation im betriebsratslosen Betrieb dar: Dort reicht nämlich zur Einführung von Kontrollmaßnahmen, die die Menschenwürde berühren, die individuelle Zustimmung des einzelnen AN aus (§ 10 AVRAG). (Gegen Maßnahmen, die die Menschenwürde sogar verletzen, kann die Sittenwidrigkeit der entsprechenden Vereinbarung ins Treffen geführt werden.) Da AN, die auf ihren Arbeitsplatz angewiesen sind, im betriebsratslosen Betrieb derartigen Ansinnen des AG in aller Regel wenig entgegenstellen werden können, ist diese Gesetzeslage höchst unbefriedigend. Aus AG-Sicht kann dies übrigens umgekehrt für den mit BR ausgestatteten Betrieb behauptet werden: Da die Zustimmung des BR nicht ersetzbar ist, können Betriebsräte auch den maßvollen Einsatz digitaler Technik sogar ohne Angabe von Gründen blockieren, sobald die Menschenwürde berührt ist – und das bloße Berühren der Menschenwürde wird von der Judikatur relativ schnell bejaht.

Beträchtliche Schutzmängel auf der einen Seite, mögliche Totalblockade auf der anderen Seite – es stellt sich die Frage, ob hier nicht über einen Kompromiss zwischen den Interessenvertretungen der AG und AN nachgedacht werden könnte: Möglich wäre etwa, nach dem Regelungsmodell von § 96a ArbVG (über die Verarbeitung von Personaldaten) auch im Geltungsbereich des § 96 bei unsachlicher Verweigerung der Zustimmung des BR diese durch Gerichtsurteil ersetzbar zu machen, sodass der Einsatz digitaler Technik, wo er die Interessen beider Seiten ausgewogen berücksichtigt, nicht gänzlich verunmöglicht werden kann. Im Gegenzug müsste der Schutz der AN im betriebsratslosen Betrieb etwa dadurch erhöht werden, dass die Zustimmung des einzelnen AN zusätzlich der Zustimmung der zuständigen Gewerkschaft bedarf, um den betreffenden Einsatz digitaler Technik zu erlauben. Auch die Gewerkschaftszustimmung wäre in diesem Modell bei unsachlicher Verweigerung durch das Gericht ersetzbar.

Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich festgestellt, dass die österreichische Gewerkschaftsbewegung dem digitalen Wandel von Anfang an konstruktiv und mit dem Willen zur Mitgestaltung begegnet ist, weil sie auf die Säulen des sozialpartnerschaftlichen Dialogs und eines hochentwickelten Arbeitsrechts bauen kann. Die drei dargestellten vom digitalen Wandel ausgehenden Problemlagen, die die dem Arbeitsrecht zugrunde liegende Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gefährden können, müssen aber entsprechend bearbeitet werden, damit das genannte Vertrauen und dementsprechend die Einstellung der AN-Seite zum digitalen Wandel nicht zum Kippen gebracht werden:

  1. Gewissen Wünschen der AG-Seite, den Schutz, den der Arbeitsvertrag bietet, durch eine Aushöhlung des AN-Begriffs zugunsten vermeintlicher unternehmerischer Freiheiten abzubauen, muss entgegengetreten werden.

  2. Die Rolle und die Wirkmöglichkeiten der kollektiven Mächte im Arbeitsleben (BR, Gewerkschaften mit ihrer Kollektivvertragskompetenz) müssen von der nationalen und europäischen Gesetzgebung angesichts klassische betriebliche Strukturen auflösender und nationale Grenzen überschreitender digitaler Entwicklungen erhalten und bewahrt werden.

  3. Die rechtlichen Regeln, die den AN davor schützen, durch den Einsatz digitaler Instrumente und hier vor allem der Artificial Intelligence zum bloßen Objekt degradiert und zum gläsernen AN zu werden, müssen deutlich verbessert werden.

Wir leben in einer Zeit, in der Sorgen und Ängste rasch in irrationale Empörung bis hin zu Gewaltausbrüchen umschlagen können, wie Gelbwestenproteste, der Sturm auf das Kapitol und jüngst die Bewegung von Corona-Leugnern und Impfgegnern zeigen. Eine ernstlich gelebte Sozialpartnerschaft und ein starkes, auf technische und gesellschaftliche Entwicklungen reagierendes Arbeitsrecht sind die besten Garanten dafür, dass der digitale Wandel auch in der Arbeitswelt seine Produktivkräfte entfalten kann und nicht zum Anstoß irrationaler Maschinenstürmerei wird. 192