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Bleibeprämie bei Insolvenz des Arbeitgebers als Sonderzahlung gesichert

MARGITMADER

Die Kl war ab 1.3.2018 bei der späteren Schuldnerin als Produktionsangestellte beschäftigt. Sie verfügte über facheinschlägige Erfahrung aus ihrer früheren Tätigkeit und arbeitete, um den hohen Arbeitsaufwand bewältigen zu können, täglich 10 bis 12 Stunden oder mehr. Mit Schreiben vom 11.4.2019 unterbreitete die AG der Kl das Angebot einer „Bleibeprämie (Stay-on Bonus)“ in Höhe von 30 % des jährlichen Bruttogehalts, die der Kl einen Anreiz bieten sollte, im Unternehmen beschäftigt zu bleiben. Als Voraussetzungen für die Auszahlung wurden das Vorliegen einer uneingeschränkten Betriebsbewilligung (im August 2019 erteilt) und eine aktive Beschäftigung der Kl bis zum 31.3.2020 genannt. Die Zahlung erfolge als einmalige freiwillige Leistung ohne Rechtsanspruch für die Zukunft. Bei langen Abwesenheiten im Dienst sowie bei DG-Kündigung vor Ablauf der Wartezeit stehe die Prämie nur aliquot zu. Bei längerem Krankenstand werde sie dem gesetzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch entsprechend gekürzt bzw entfalle sie nach dessen Ende. Die Kl nahm dieses Angebot am 3.5.2019 an. Im August 2019 wurde allen Mitarbeitern überraschend eröffnet, dass sie Auflösungsvereinbarungen zu schließen hätten und die Dienstverhältnisse sofort beendet würden. Da die Kl die einvernehmliche Auflösung nicht unterschreiben wollte, wurde sie 459zum 30.11.2019 gekündigt. Mit Beschluss vom 2.12.2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der AG eröffnet. Die Kl begehrte da­raufhin Insolvenz-Entgelt für offene Entgelt- und Beendigungsansprüche sowie für die der Höhe nach unstrittige aliquote Bleibeprämie. Die bekl IEF-Service GmbH wies mit dem bekämpften Teilbescheid den Antrag auf Insolvenz-Entgelt für die Bleibeprämie ab. In der dagegen erhobenen Klage wurde von der Kl ua vorgebracht, bei der Bleibeprämie handle es sich um eine Zuwendung aus dem Arbeitsverhältnis mit Entgeltcharakter, die nach § 1 Abs 2 Z 3 IESG gesichert sei. Die Bekl wandte ein, die Bleibeprämie sei eine freiwillige Leistung, deren Zweck außerhalb des arbeitsvertraglichen Synallagmas stehe und die keiner Anspruchskategorie nach dem IESG zugeordnet werden könne.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Eine Bleibeprämie als Geldleistung für die Nichtinanspruchnahme des Kündigungsrechts sei kein Anspruch, der seinen Entstehungsgrund im Arbeitsverhältnis habe und zähle deshalb nicht zu den gem § 1 Abs 2 Z 3 IESG gesicherten Ansprüchen. Aufgrund ihres Zwecks sei sie am ehesten einer freiwilligen Abfertigung gleichzuhalten, was rechtlich aber zum selben Ergebnis führe.

Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Kl keine Folge. Es folgte der rechtlichen Begründung des Erstgerichts und führte ergänzend aus, die Kl habe die Bleibeprämie als einen sonstigen Anspruch gem § 1 Abs 2 Z 3 IESG angemeldet, sodass es ihr aufgrund der sukzessiven Kompetenz der Gerichte verwehrt sei, sie nun unter einem anderen Rechtsgrund, nämlich als Entgelt iSd Abs 2 Z 1 leg cit, geltend zu machen. Weiters handle es sich nicht um einen Anspruch, auf den die AN im Fall der Insolvenz des AG typischerweise zur Bestreitung des Lebensunterhalts angewiesen sei.

Der OGH gab der dagegen gerichteten Revision der Kl statt.

Gem § 1 Abs 2 IESG sind aufrechte, nicht verjährte und nicht ausgeschlossene Ansprüche (Abs 3) aus dem Arbeitsverhältnis durch den IEF gesichert, auch wenn sie gepfändet, verpfändet oder übertragen worden sind. Die gesicherten Anspruchsarten – wie Entgeltansprüche (insb auf laufendes Entgelt und aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses), Schadenersatzansprüche, sonstige Ansprüche gegen den AG sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten – werden taxativ aufgezählt. Ein nach den ­Bestimmungen des IESG geltend gemachter Anspruch muss daher einer der im Gesetz normierten Kategorien an gesicherten Ansprüchen zugeordnet werden. Es muss sich also entweder um Entgelt, Schadenersatz, einen sonstigen Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis oder um Verfahrenskosten handeln.

Der Begriff des Entgelts iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG setzt ein Synallagma zu den vom AN tatsächlich erbrachten Arbeitsleistungen voraus. Zu den laufenden Entgeltansprüchen gehören insb Lohn, Gehalt, unregelmäßige Einkünfte wie Provisionen, Zulagen, Prämien, sonstige leistungsbezogene Entgelte, Überstundenentlohnung, Sonderzahlungen sowie Vergütungen für Diensterfindungen.

Sonstige Ansprüche gegen den AG iSd § 1 Abs 2 Z 3 IESG haben nach der Rsp zwar ihre Wurzel im Arbeitsverhältnis, entspringen jedoch nicht der Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung. In diese Kategorie fallen insb vertraglich zugesicherte, echte Aufwandsentschädigungen sowie der Ersatz von Auslagen, die dem AN aus der Erbringung der ihm obliegenden Arbeitsleistung erwachsen sind.

Sogenannte Bleibe- oder auch Halteprämien sind Zusagen an bestimmte AN oder AN-Gruppen, die der Mitarbeiterbindung dienen sollen. Ziel ist es, jene AN, deren Weiterbeschäftigung in der gegebenen Situation von besonderer Bedeutung ist, zur Sicherung des Unternehmenserfolgs für einen bestimmten Zeitraum im Unternehmen zu halten. Bei den Bleibeprämien handelt es sich in der Regel um Sonderzahlungen, die in Voraussetzungen und Zweck einer Treueprämie ähnliche sind. Sie können sowohl als reine Entgeltzusagen ausgestaltet sein als auch ausschließlich die Betriebstreue belohnen oder einen Mischcharakter aufweisen.

Die mit der Kl vereinbarte Bleibeprämie war als Einmalzahlung – abgesehen von der unternehmensseitigen Voraussetzung der Erteilung der uneingeschränkten Betriebsbewilligung – nur an die Bedingung eines Kündigungsverzichts der Kl bis zu einem vorgegebenen Stichtag geknüpft. Darüber hinaus sollte die Prämie nur für Zeiträume ausbezahlt werden, in denen die Kl ihre Arbeitsleistung tatsächlich erbringt. Bei längerdauernder, nicht lediglich urlaubsbedingter Abwesenheit hätte die Prämie nur aliquot gebührt, bei längerem Krankenstand hätte sie das Schicksal des Entgeltfortzahlungsanspruchs geteilt. In dieser Bedingung kam das Interesse der AG zum Ausdruck, die Kl nicht nur als AN zu halten, sondern sich vor allem ihre für das Unternehmen zur Bewältigung der Auftragslage wichtige Arbeitsleistung weiterhin zu sichern. Die Ansicht der Vorinstanzen, die Bleibeprämie sei nur eine Belohnung für den Verzicht auf die Ausübung des Kündigungsrechts und als freiwillige Leistung außerhalb des arbeitsvertraglichen Synallagmas zu qualifizieren, wurde daher unter diesem Aspekt seitens des OGH ausdrücklich abgelehnt. Nach Ansicht des OGH fällt die hier zu beurteilende Bleibeprämie, die von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig war und sich auf den Zeitraum von etwa einem Jahr bezog, unter 460den Begriff des Arbeitsentgelts iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG und ist einer Sonderzahlung gleichzuhalten.

Die Kl berief sich zwar ausdrücklich auf den Sicherungstatbestand als „sonstiger Anspruch“ iSd § 1 Abs 2 Z 3 IESG, brachte aber auch vor, dass die Bleibeprämie eine zusätzliche Vergütung der erbrachten Arbeitsleistung bezwecke und insofern Entgeltcharakter habe. Da die Kl die Bleibeprämie als „sonstigen Anspruch“ iSd § 1 Abs 2 Z 3 IESG geltend gemacht hat, wurde die Sicherung der Bleibeprämie von den Vorinstanzen nur nach § 1 Abs 2 Z 3 IESG, nicht aber nach der Z 1 leg cit als „laufendes Entgelt“ geprüft. Nach Ansicht der Vorinstanzen stelle dies eine unzulässige Abweichung von der ursprünglichen Anmeldung dar. Für eine Forderung, über die im Verwaltungsverfahren nicht entschieden wurde, sei der Rechtsweg nicht zulässig.

Nach stRsp sind im Sozialrechtsverfahren nach § 65 Abs 1 Z 7 ASGG quantitative und qualitative Änderungen der Klage gegenüber den im Insolvenzverfahren angemeldeten und im Verwaltungsverfahren bei der Bekl beantragten Forderungen unzulässig. Die Kl habe jedoch ihren Anspruch in jeder Phase des Verfahrens auf die wörtlich festgestellte Prämienvereinbarung gestützt. Diese Anspruchsgrundlage wurde im gerichtlichen Verfahren weder geändert noch um zusätzliche Sachverhaltselemente erweitert. Ob dieser Anspruch unter den Begriff des Entgelts nach § 1 Abs 2 Z 1 IESG, des sonstigen Anspruchs nach Z 3 leg cit oder unter keinen dieser Tatbestände zu subsumieren ist, bildet eine vom Gericht zu beurteilende Rechtsfrage und hindert die Zulässigkeit des Rechtswegs nicht.

Der OGH folgte daher der Ansicht der Vorinstanzen aus den dargelegten Gründen nicht und sprach der Kl das beantragte Insolvenz-Entgelt zu.