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Kein Export von Rehabilitationsgeld bei Hauptwohnsitz in anderem Mitgliedstaat

PIAANDREAZHANG

Dem österreichischen Rehabilitationsgeld kommt gegenüber anderen Leistungen bei Krankheit kein Sondercharakter zu. Die Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 für versicherte Personen, die keine Beschäftigung (mehr) ausüben, bestimmt sich ausschließlich nach dem Wohnort.

Sachverhalt

Der 1975 in Österreich geborene Kl arbeitet von 1.4.2010 bis Mitte 2017 in Deutschland als Außendienstmitarbeiter. Bis Jänner 2010 war der Kl in Österreich berufstätig. Das Dienstverhältnis wurde 2017 nach einem einjährigen Krankenstand beendet. Aufgrund der Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter wohnte der Kl mehrere Jahre in Deutschland. Seit 1.2.2020 wohnt der Kl wieder in Österreich. Seit 1.4.2019 bezieht der Kl eine deutsche Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der Kl erwarb in Österreich 228 Versicherungsmonate.

Verfahren und Entscheidung

Mit Bescheid vom 29.5.2019 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension sowie den Anspruch auf Maßnahmen der Rehabilitation sowie auf Rehabilitationsgeld ab, weil keine Berufsunfähigkeit vorliege.

Der Kl erhob dagegen die Klage und begehrte die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension, weil er seit 4.6.2018 berufsunfähig sei. Die PVA hielt den im Bescheid vertretenen Standpunkt aufrecht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab, stellte aber fest, dass beim Kl ab 1.10.2018 vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliege. Den Anspruch auf Rehabilitationsgeld wies es mit der Begründung ab, dass der Kl seit mehreren Jahren nur der KV in Deutschland und nicht mehr dem österreichischen System der SV unterliege.

Der Kl bekämpfte die Ablehnung seines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld mit Berufung. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl teilweise Folge und wies das Klagebegehren nur für den Zeitraum von 1.10.2018 bis 31.1.2020 ab. Es verneinte den Anspruch auf Export des Rehabilitationsgeldes mit der Begründung, dass der Kl während dieses Zeitraums keinen Wohnsitz in Österreich hatte. Die Revision sei zulässig, weil es noch keine Rsp des OGH zur Frage gebe, ob und inwieweit seine Rsp zum Export von Rehabilitationsgeld nach der in der Rs C-135/19, Pensionsversicherungsanstalt, ergangenen EuGH-E vom 5.3.2020 für Fälle relevant sei, in denen die weit überwiegende Anzahl an Versicherungszeiten im Inland erworben wurden.

Der OGH hielt die Revision des Kl zwar für zulässig, aber für nicht berechtigt. Er kam zum Ergebnis, dass der Kl für den noch strittigen Zeitraum von 1.10.2018 bis 31.1.2020 ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland unterlag und nicht mehr dem österreichischen System der sozialen Sicherheit angehörte. Es bestehe keine Verpflichtung, das österreichische Rehabilitationsgeld an den bis 31.1.2020 in Deutschland wohnenden Kl zu zahlen.

Originalzitate aus der Entscheidung

„1.1 Der Oberste Gerichtshof sah zu 10 ObS 133/15d (SSV-NF 30/79 = SZ 2016/141) und zahlreichen Folgeentscheidungen (RIS-Justiz RS0131207) das österreichische Rehabilitationsgeld grundsätzlich als Geldleistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 an. Diese Einordnung hindere aber nicht die Berücksichtigung des Sondercharakters des – die befristete Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspension ersetzenden – Rehabilitationsgeldes (10 ObS 133/15d Punkt 3.4.4). […]

1.2 Dieser Judikatur lag zugrunde, dass die versicherten Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zuvor von den beklagten österreichischen Sozialversicherungsträgern eine befristete Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension bezogen hatten, an die das Rehabilitationsgeld unmittelbar angeschlossen hätte (10 ObS 133/15d; 10 ObS 10/17v; 10 ObS 12/17p; 10 ObS 17/17y; 10 ObS 31/17g; 10 ObS 57/17f).

2.1 In seinem Urteil vom 5.3.2020, C-135/19, Pensionsversicherungsanstalt (Rehabilitationsleistung), beantwortete der EuGH die vom Obersten Gerichtshof zu 10 ObS 66/18f (RS0132457) gestellte erste Vorlagefrage […] eindeutig so, dass das Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der genannten Verordnung anzusehen ist.325

2.2 Zur zweiten Vorlagefrage stellte der EuGH zu C-135/19 klar, dass die VO (EG) 883/2004 dahin auszulegen ist, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der eine Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung über das Rehabilitationsgeld versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat (siehe dazu Fuchs, NZS-Jahresrevue 2020: Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Sozialrecht, NZS 2020, 121 [121 f]).

2.3 Der EuGH verwies auf die Regel der Einheitlichkeit der Sozialvorschriften in Art 11 Abs 1 sowie die Zuständigkeitsregel des Art 11 Abs 3 lit e der VO (EG) 883/2004, wonach eine Person, die keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, nur den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats unterliegt (Rn 52). […]

3.1 Der Oberste Gerichtshof qualifizierte in dem nach Einlangen der Entscheidung des EuGH zu 10 ObS 35/20z fortgesetzten Anlassverfahren und in mehreren Folgeentscheidungen (10 ObS 54/20v; 10 Ob 41/20g; 10 ObS 64/20i; 10 ObS 38/20s; 10 ObS 36/20x; RS0132457) das österreichische Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004. […]

3.2 Seit der klaren Einordnung des österreichischen Rehabilitationsgeldes als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 durch die Entscheidung des EuGH vom 5.3.2020, C-135/19 und der darauf basierenden österreichischen höchstgerichtlichen Judikatur ist die in der früheren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (10 ObS 133/15d und andere) vertretene Ansicht, dem Rehabilitationsgeld komme aufgrund seiner Berührungspunkte mit Leistungen bei Invalidität ein Sondercharakter zu, nicht mehr aufrecht zu erhalten.

3.3 Nach den unmissverständlichen Vorgaben des EuGH in seiner Entscheidung C-135/19 ist es ausgeschlossen, die Zuständigkeitsregelung des Art 11 Abs 3 lit e der VO (EG) 883/2004 unter dem Aspekt der unionsrechtlichen Freizügigkeit auszulegen und damit den Export des Rehabilitationsgeldes im Sinn der früheren, sich insbesondere an den Überlegungen des EuGH in seinem Urteil vom 30.6.2011, C-388/09, da Silva Martins, orientierenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu rechtfertigen […]

4.1 Hier unterlag der Kläger seit April 2010 während der Ausübung seiner Beschäftigung in Deutschland zufolge Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 sowie seit der krankheitsbedingten Aufgabe der Beschäftigung zufolge Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 ausschließlich den Rechtsvorschriften Deutschlands als Beschäftigungs- bzw Wohnstaat, soweit Leistungen bei Krankheit betroffen sind. Dem österreichischen Rehabilitationsgeld kommt gegenüber anderen Leistungen bei Krankheit im eigentlichen Sinn kein Sondercharakter zu.

4.2 Die Leistungszuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 für versicherte Personen, die keine Beschäftigung (mehr) ausüben, bestimmt sich ausschließlich nach dem Wohnort und nicht danach, in welchem Mitgliedstaat die versicherte Person die meisten Versicherungszeiten erworben hat. Wenn sich der EuGH zu C-135/19 auf den Erwerb des größten Teils der Versicherungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland) bezieht, so antwortet er damit auf die zweite, zu 10 ObS 66/18f gestellte Vorlagefrage. Mit seinen Formulierungen billigt der Gerichtshof dieser Tatsache aber keine Relevanz für den zu klärenden Export des österreichischen Rehabilitationsgeldes zu. Er begründet seine Antwort vielmehr damit, dass die versicherte Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern jenen des Wohnmitgliedstaats. Ein Abweichen von den Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 als Folge einer Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit wird nicht einmal erwähnt. […]

Erläuterung

Der OGH beschäftigt sich in der vorliegenden E abermals mit der Frage des Exports des Rehabilitationsgeldes. Die Besonderheit in diesem Fall ist, dass der Kl im gegenständlichen Zeitraum zwar in Deutschland wohnhaft war und zuvor dort gearbeitet hat, der überwiegende Teil der Versicherungsmonate aber in Österreich gesammelt wurde. Somit unterscheidet sich der Sachverhalt deutlich von jenem, den der EuGH (Rs Pensionsversicherungsanstalt) und in weiterer Folge auch der OGH bereits entschieden hat, weshalb vom Berufungsgericht auch die Revision zugelassen wurde.

Der E des EuGH in der Rs Pensionsversicherungsanstalt lag die Ausgangssituation zugrunde, dass der Kl in Österreich nicht mehr sozialversichert war, nachdem er dort seine Erwerbstätigkeit aufgegeben und den Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat (Deutschland) verlegt hat, in dem er gearbeitet und den größten Teil der Versicherungszeiten zurückgelegt hat. Somit war Deutschland als einziger Mitgliedstaat zuständig und der Kl hatte auch keine Verbindung mehr zum System der sozialen Sicherheit in Österreich. Vergleichbare Sachverhalte lagen auch den anschließenden Entscheidungen des OGH zugrunde.

Im vorliegenden Fall hält der OGH fest, dass das Rehabilitationsgeld gegenüber anderen Leistungen bei Krankheit keinen Sondercharakter habe. Da der Kl im strittigen Zeitraum nach den Regeln der VO 883/2004 ausschließlich den Sozialrechtsvorschrif326ten des Wohnmitgliedstaats Deutschland unterliegt, ist das Rehabilitationsgeld nicht zu exportieren. Eine Abweichung von den Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 aus primärrechtlichen Gründen wird nicht geprüft, da diese auch vom EuGH in der Rs Pensionsversicherungsanstalt nicht erwähnt worden sei.

Anzumerken ist, dass es sich beim Rehabilitationsgeld um eine beitragsabhängige Leistung handelt und somit der vom EuGH entwickelte Grundsatz, dass durch Versicherungsbeiträge erworbene Vergünstigungen durch die Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte nicht verloren gehen dürfen, gilt (vgl EuGH 12.6.2012, C-611/10, Hudzinski; EuGH 30.6.2011, C-388/09, da Silva Martins). Eine Prüfung, ob eine ausreichende Nahebeziehung zu Österreich besteht, die einen primärrechtlich fundierten Anspruch auf Export des Rehabilitationsgeldes begründet, wäre daher durchaus gerechtfertigt gewesen.