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Krisenpflege: Keine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft unter 91 Tagen

KRISZTINAJUHASZ

§ 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24BGBl I 2019/24 kann nicht dahingehend teleologisch reduziert werden, dass bei Krisenpflege, die kürzer als 91 Tage andauert, dennoch eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft angenommen werden könnte.

Sachverhalt

Die Kl betreute 72 Tage lang – von 7.11.2018 bis 17.1.2019 – als Krisenpflegeperson ein Krisenpflegekind. Im Zeitpunkt der Übergabe des Kindes wusste sie nicht, wie lange die Krisenpflege dauern würde. Sie fand sich dazu bereit, das Kind so lange wie nötig in ihrem Haushalt aufzunehmen. In dieser Zeit waren die Kl und das Kind am selben Hauptwohnsitz gemeldet. Die Kl bezog im Dezember 2018 und im Jänner 2019 für das Krisenpflegekind Familienbeihilfe. Im streitgegenständlichen Verfahren ging es um die Frage, ob die Kl auch Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld haben. Zunächst war der Kl Kinderbetreuungsgeld zugesprochen worden.

Verfahren und Entscheidung

Die Bekl widerrief aber die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes und verpflichtete die Kl zum Rückersatz der unberechtigt empfangenen Leistung mit der Begründung, dass die für die Krisenpflege in § 2 Abs 6 KBGG normierte Voraussetzung einer mindestens 91-tägigen Betreuungsdauer nicht erfüllt sei.

Das Erstgericht stellte fest, dass der Anspruch der Bekl auf Rückersatz des an die Kl geleisteten Kinderbetreuungsgeldes nicht zu Recht bestehe. Rechtlich ging es davon aus, dass der Gesetzgeber in § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24einen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für jene Krisenpflegepersonen, die Krisenpflegekinder kürzer als 91 Tage betreuen, nicht ausdrücklich vorgesehen habe. Die sich daraus ergebende Lücke sei durch teleologische Reduktion zu schließen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und begründete seine Entscheidung damit, dass eine Krisenpflegeperson nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24 Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für das Krisenpflegekind nur dann habe, wenn sie es zumindest 91 Tage lang durchgehend in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft betreut. Der Gesetzeswortlaut sei eindeutig. Mangels Vorliegens einer planwidrigen Lücke sei für eine teleologische Reduktion kein Platz.

Die Revision der Kl war zulässig, aber nicht berechtigt. Der OGH kam zu dem Ergebnis, dass die Ansicht des Berufungsgerichts, im vorliegenden Fall einer kürzeren als 91-tägigen Betreuungsdauer des Krisenpflegekindes sei der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zu verneinen, im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut des § 2 Abs 6 KBGG idF der Novelle BGBl I 2019/24BGBl I 2019/24, den Gesetzesmaterialien, den bisher dazu in der Rsp getroffenen Aussagen sowie dem Schrifttum steht.

Originalzitate aus der Entscheidung

„1. Nach § 2 Abs 1 Z 2 KBGG idF BGBl I 2019/24haben ein Elternteil (Adoptivelternteil, Pflegeelternteil) für sein Kind (Adoptivkind, Pflegekind) bzw eine Krisenpflegeperson für ein Krisenpflegekind Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern der Elternteil mit diesem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt.

[…]

2.3 Die Anspruchsberechtigung von Krisenpflegepersonen wurde nach der „alten“ Rechtslage [Anm: BGBl I 2016/53] vom ersten Tag der Betreuung an bejaht, dies unabhängig von der Dauer des gemeinsamen Haushalts. Eine Ex-post-Differenzierung danach, wie lange diese Betreuung tatsächlich dauerte, wurde als nicht relevant erachtet (10 ObS 3/13h SSV-NF 27/12 und 10 ObS 14/13a ua zur Rechtslage vor der Novelle BGBl I 2016/53; 10 ObS 65/19k SSV-NF 33/47 zu § 2 Abs 6 KBGG idF der Novelle BGBl I 2016/53).

2.4.1 Rückwirkend mit 1.7.2018 (§ 50 Abs 23 KBGG) trat die KBGG-Novelle BGBl I 2019/24in Kraft […].

2.4.2 […] Zugleich wurde in § 2 Abs 6 KBGG eine Sonderregelung für Krisenpflegeeltern getroffen, indem dem Abs 6 ein fünfter Satz hinzugefügt wurde. Nach diesem besteht für eine Krisenpflegeperson […] Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für das Krisenpflegekind, sofern sie es mindestens 91 Tage durchgehend in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft betreut. […] Weiters ordnet § 2a KBGG an, dass auf Krisenpflegepersonen – wenngleich sie keine Pflegeeltern im Sinn dieses Gesetzes sind – die auf Pflegeeltern anzuwendenden Bestimmungen sinngemäß anzuwenden sind, es sei denn, das KBGG sieht abweichende Bestimmungen für Krisenpflegepersonen vor. […]

3. Nach den Gesetzesmaterialien zur KBGG-Novelle BGBl I 2019/24 (IA 584/A 26. GP 3) besteht das Wesen der Krisenpflege darin, die betroffenen Kleinkinder (in der Regel unter drei Jahren) für die Dauer der Gefährdungsabklärung (Kindeswohlgefährdung, Ausfall der Betreuungsperson etc) zur vorübergehenden Pflege und Erziehung von Krisenpflegepersonen (in der Regel einige Wochen) versorgen zu lassen, bis entweder über die Rückkehr des Kindes in die Familie oder des319sen Übergabe in Dauerpflege entschieden werden könne. […] Vereinzelt erscheine es erforderlich, Sonderbestimmungen bzw explizite Klarstellungen im KBGG ausdrücklich vorzusehen.

4. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu einem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld einer Krisenpflegeperson nach der KBGG-Novelle BGBl I 2019/24erging bisher nicht. In der Entscheidung 10 ObS 65/19k SSV-NF 33/47 wurde zur Novelle BGBl I 2019/24aber bereits festgehalten, dass damit Krisenpflegeeltern anderen Elternteilen in Bezug auf die Dauer einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft, die notwendig ist, um die gesetzliche Voraussetzung des gemeinsamen Haushalts zu erfüllen, gleichgestellt werden. Auch in der Entscheidung 10 ObS 119/19a (zur Voraussetzung der dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft bei getrennt lebenden Elternteilen im Fall der Inanspruchnahme der Bezugsvariante „365 Tage + 61 Tage“) wurde auf die Sonderregelung des § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG idF BGBl I 2019/24 für Krisenpflegepersonen Bezug genommen und unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien festgehalten, der Gesetzgeber verfolge mit der neuen Regelung den Zweck, der Gruppe der „typischen Kurzzeitpflegepersonen“ keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld einzuräumen.

5.1 Im Schrifttum wird zur Sonderregelung in § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG für Krisenpflegepersonen ausgeführt, dass auch der Anspruch von Krisenpflegepersonen auf Kinderbetreuungsgeld vom Gesetzgeber von einer 91 Tage dauernden durchgehenden Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft abhängig gemacht wird. Hinsichtlich Krisenpflegeeltern liege damit eine Sonderregelung zur 61-tätigen Mindestbezugsdauer nach § 3 Abs 5 KBGG vor (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG3 [2020] § 2 Rz 29; § 3 Rz 13d). […]

6. § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG idF der Novelle BGBl I 2019/24 ist somit zusammenfassend so zu verstehen, dass eine Krisenpflegeperson Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für das Krisenpflegekind nur dann hat, wenn sie es mindestens 91 Tage durchgehend in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft betreut.“

Erläuterung

Gegenstand des Revisionsverfahrens war die Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 7.11.2018 bis 17.1.2019.

Nach § 2 Abs 1 Z 2 KBGG idF BGBl I 2019/24hat eine Krisenpflegeperson für ein Krisenpflegekind Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern diese mit diesem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt.

Nach § 2 Abs 6 KBGG in der hier nicht mehr anwendbaren Fassung BGBl I 2016/53lag ein gemeinsamer Haushalt nur dann vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse lebten und beide an dieser Adresse hauptwohnsitzlich gemeldet waren. Der gemeinsame Haushalt galt bei mehr als 91-tägiger tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer einer Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes jedenfalls als aufgelöst (§ 2 Abs 6 Satz 1 und 3 KBGG idF BGBl I 2016/53). Der Begriff „dauerhaft“ war ein unbestimmter Gesetzesbegriff, dessen Inhalt im Wege der Auslegung ermittelt werden musste (OGH 30.7.2019, 10 ObS 65/19k). Die Ansicht, über einen Umkehrschluss aus § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG, wonach ein gemeinsamer Haushalt nur bei einer Dauer von mindestens 91 Tagen gegeben ist, wurde von der Rsp abgelehnt (OGH 26.3.2019, 10 ObS 17/19a).

Die KBGG-Novelle BGBl I 2019/24 ließ die Voraussetzung eines gemeinsamen Haushalts von Elternteil und Kind unverändert. Die Definition des gemeinsamen Haushalts in § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG wurde aber dahin präzisiert, dass eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft mindestens 91 Tage durchgehend dauern muss. Mit der Normierung einer Mindestdauer von 91 Tagen zur Begründung einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft stellte der Gesetzgeber für den Anwendungsbereich des KBGG klar, dass zusätzlich zur Absicht, eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zu begründen und zu deren tatsächlicher Begründung ein weiteres Element, nämlich eine (Mindest-)Dauer einer solchen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft, getreten ist.

Zudem wurde mit der Novelle in § 2 Abs 1 KBGG erstmals der Anspruch einer Krisenpflegeperson auf Kinderbetreuungsgeld für ein Krisenpflegekind ausdrücklich verankert. Zugleich wurde dieser Anspruch jedoch gem § 2 Abs 6 letzter Satz KBGG an eine Mindestpflegedauer von mehr als 91 Tagen gebunden (R. Müller Kinderbetreuungsgeld für Krisenpflegeeltern? DRdA 2020/35, 371 [375]).

Der durch die Novelle neu eingefügte § 2a KBGG definiert, dass Krisenpflegepersonen Personen sind, die im Auftrag des zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträgers ausgebildet und von diesem mit der vorübergehenden Pflege und Erziehung eines Kindes für die Dauer der Gefährdungsabklärung betraut werden (in § 2a Abs 2 KBGG findet sich eine entsprechende Definition des Begriffs „Krisenpflegekind“). Die Gesetzesmaterialien führen hierzu aus, dass jene Krisenpflegepersonen, die Krisenpflegekinder länger als 91 Tage betreuen, keine Pflegeeltern iSd ABGB und damit auch keine Eltern iSd KBGG sind. Sie gehören auch nicht der Gruppe der typischen Kurzzeitpflegepersonen an. Es erschien daher erforderlich, für die Krisenpflege Sonderbestimmungen im KBGG vorzusehen.

Nach Ansicht des OGH steht die Entscheidung und Begründung des Berufungsgerichts im Ein320klang sowohl mit dem Gesetzeswortlaut des § 2 Abs 6 KBGG (idF BGBl I 2019/24) als auch mit den Gesetzesmaterialien, aber auch mit den bisher dazu in der Rsp getroffenen Aussagen sowie dem Schrifttum. Aus diesem Grund konnte dem Standpunkt der Kl – wonach der Gesetzgeber auch nach der neuen Rechtslage in § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2019/24BGBl I 2019/24 bei kurzzeitiger Krisenpflege einen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld gewähren wollte, weshalb diese Regelung teleologisch dahin zu reduzieren sei, dass bei Krisenpflegepersonen bereits ab dem ersten Tag der Krisenpflege ein gemeinsamer Haushalt begründet werde – nicht gefolgt werden.