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Einbeziehung der persönlichen Gesamtsituation einer arbeitslosen Person bei der Prüfung von Nachsichtsgründen iSd § 10 Abs 3 AlVG zulässig

REGINAZECHNER

Mit Bescheid vom 23.11.2017 verhängte das Arbeitsmarktservice (AMS) eine sechswöchige Sperre des Leistungsbezuges gem § 38 iVm § 10 AlVG, da der Beschwerdeführer sich nicht auf eine zumutbare Stelle beworben und damit eine Arbeitsaufnahme vereitelt habe.

Das BVwG gab seiner Beschwerde mit E vom 18.11.2019, W164 2182733-1, statt und stellte zunächst fest, dass die Stelle rechtswirksam zugewiesen wurde. Dem Beschwerdeführer wurden während eines Beratungsgespräches vier Vermittlungsvorschläge ausgehändigt. In der mündlichen Verhandlung räumte er ein, für Vermittlungsvorschläge keine Mappe zu führen, sondern diese nach dem Beratungsgespräch ins Auto zu geben und sie dann zu Hause kurz anzuschauen. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass er sich – nach einem Konkurs – seit Jahren in einer finanziell schwierigen Situation befand und überdies seine Frau schwer erkrankte (2017 Pflegestufe 2) und auf seine Betreuung angewiesen war. Das BVwG folgerte, dass das Verhalten des Beschwerdeführers ein Verlorengehen von Vermittlungsvorschlägen begünstigen würde und er damit die Chancen auf das Zustandekommen der ihm in Aussicht gestellten verfahrensgegenständlichen Beschäftigung entscheidend verringert habe. Unter Berücksichtigung seiner Gesamtsituation sei sein Verhalten jedoch als fahrlässig und nicht als dolos, auch nicht iS eines dolus eventualis zu beurteilen.

Der VwGH gab der gegen die E erhobenen Amtsrevision des AMS mit Erk vom 14.5.2020, Ra 2020/08/0008, statt und hob das Erk des BVwG auf. Auf Grundlage der getroffenen Feststellungen hätte das BVwG den Vorsatz des Beschwerdeführers nicht verneinen dürfen. Aus den ins Treffen geführten Gründen könne sich jedoch ein Nachsichtsgrund iSd § 10 Abs 3 AlVG ergeben, sofern dem Arbeitslosen sein – wenn auch in Bezug auf die Weigerung bzw Vereitelung vorsätzliches – Verhalten ausnahmsweise aus besonderen Gründen im Einzelfall nicht vorgeworfen werden könne.

Mit E vom 2.7.2020 gab das BVwG der Beschwerde erneut statt und sprach aus, dass der Beschwerdeführer den Anspruch auf Notstandshilfe im Zeitraum 16.11. bis 27.12.2017 gem § 38 iVm § 10 AlVG verloren habe, dass ihm dieser Anspruchsverlust gleichzeitig aber gem § 10 Abs 3 AlVG zur Gänze nachgesehen werde. Von den im wesentlichen gleichen Feststellungen wie im Vorverfahren ausgehend führt das BVwG weiter aus, dass sich der Beschwerdeführer zur Zeit der verfahrensgegenständlichen Zuweisung bereits einige Zeit in einer für ihn belastenden privaten Situation befunden und sich damit über einen längeren Zeitraum latent überfordert habe. Dafür spreche etwa, dass er den Gesundheitszustand seiner Frau und die ihn treffenden Belastungen dem AMS gegenüber nie erwähnt habe. Auch habe er erst mit Unterstützung des AMS bzw eines Kooperationspartners des AMS eine geeignete Betreuung für seine Frau gefunden und einen Antrag auf ein höheres Pflegegeld für seine Frau gestellt. Das alles weise darauf hin, dass er kein ausgeprägtes Geschick darin gehabt habe, aus eigenem Antrieb aktiv die Hilfe und Unterstützung anzustreben, die er zur Bewältigung seiner belastenden privaten Situation gebraucht hätte. Auch wenn der Umgang des Beschwerdeführers mit den Vermittlungsvorschlägen den bedingten Vorsatz erfülle, könne ihm dieses Verhalten ausnahmsweise nicht vorgeworfen werden, da er sich in einer für ihn sehr belastenden und ihn latent überfordernden Ausnahmesituation befunden habe. Eine ordentliche Revision schloss das BVwG aus.

Das AMS erhob abermals eine Amtsrevision und führte dabei die Rsp des VwGH ins Treffen, wonach ein berücksichtigungswürdiger Fall iSd § 10 Abs 3 AlVG (nur) dann vorliegen könne, wenn der Arbeitslose entweder selbst ein Verhalten gesetzt hat, welches den potenziellen Schaden, der durch seine Nichteinstellung entstanden ist, ganz oder teilweise wieder beseitigt (also insb durch alsbaldige tatsächliche Aufnahme einer anderen Beschäftigung), oder wenn ihm sein Verhalten ausnahmsweise aus besonderen (jedenfalls nicht auf Dauer vorliegenden und auch die Verfügbarkeit oder die Arbeitsfähigkeit nicht ausschließenden) Gründen im Einzelfall nicht vorgeworfen werden kann (VwGH 20.10.2010, 2007/08/0231). Die finanzielle Situation des Beschwerdeführers, die Erkrankung seiner Frau und die zwei Jahre nach der Vereitelungshandlung aufgetretene Erkrankung des Beschwerdeführers seien keine zeitraumbezogenen Ausnahmesituationen, sondern sie würden auf Dauer vorliegende Umstände und damit keine berücksichtigungswürdigen Nachsichtsgründe für das Unterlassen einer Bewerbung darstellen. 28

Der VwGH wies die außerordentliche Revision des AMS zurück. Bei der Prüfung von Nachsichtsgründen ist eine einzelfallbezogene Beurteilung vorzunehmen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung könnte im Zusammenhang damit nur dann aufgeworfen werden, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre oder zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis führen würde (VwGH 12.4.2018, Ra 2018/04/0082; VwGH 19.11.2019, Ra 2018/09/0081).

Im vorliegenden Fall sieht es der VwGH aber nicht als unvertretbar an, dass das BVwG – nach Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung – eine mindere subjektive Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Mitbeteiligten angenommen und darin einen Nachsichtsgrund iSd § 10 Abs 3 AlVG gesehen hat. Zwar ist es richtig, dass dauerhaft vorliegende Umstände grundsätzlich keinen solchen Nachsichtsgrund darstellen können, sondern in der Systematik des AlVG schon zuvor bei der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zumutbarkeit von Beschäftigungen zu berücksichtigen wären. Das schließt allerdings nicht aus, bei der Beurteilung eines konkreten Verhaltens die Gesamtsituation des Betroffenen miteinzubeziehen und dabei auch eine längerfristige Perspektive einzunehmen. In diesem Sinn durfte das BVwG die – möglicherweise für seine spätere eigene Erkrankung ursächliche – Belastung des Beschwerdeführers durch die Erkrankung seiner Frau in Verbindung mit einer anscheinend bereits zu geringen Pflegegeldeinstufung ebenso berücksichtigen wie den Umstand, dass der Beschwerdeführer einerseits noch nie eine Vereitelungshandlung gesetzt hatte und andererseits letztlich nach entsprechender Beratung die nötigen Schritte unternommen hat, um – insb durch einen Antrag auf höheres Pflegegeld – potentielle Hindernisse für eine erfolgreiche Arbeitssuche zu beseitigen. Auch wenn es – entsprechend der Zielsetzung des gesamten Arbeitslosenversicherungsrechts, den arbeitslos gewordenen Versicherten möglichst wieder durch Vermittlung in eine ihm zumutbare Beschäftigung einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten (VwGH 1.6.2017, Ra 2016/08/0120) – erforderlich ist, beim Tatbestand der Vereitelung nach § 10 Abs 1 AlVG einen strengen und allgemein gültigen Maßstab anzulegen, ermöglicht § 10 Abs 3 AlVG zur Vermeidung unnötiger Härten eine Bedachtnahme auf die persönliche Situation der Betroffenen. Dabei kann auch der Frage Bedeutung zukommen, ob im Einzelfall tatsächlich ein (voller) Anspruchsverlust notwendig ist, um der arbeitslosen Person die Bedeutung ihrer Pflichten nach dem AlVG vor Augen zu führen (vgl zum „disziplinierenden Zweck“ des Anspruchsverlusts nach § 10 AlVG VwGH 11.4.2018, Ro 2017/08/0033, Rn 25). Auch in dieser Frage ist die Beurteilung des BVwG im gegenständlichen Fall für den VwGH nicht unvertretbar. Da das AMS nicht vorgebracht habe, dass das BVwG sein Ermessen, eine gänzliche oder teilweise Nachsicht zu gewähren, missbraucht hätte und auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art 133 Abs 4 B-VG vorlag, wurde die Revision daher zurückgewiesen.