Kampeter (Hrsg)Sozialpartnerschaft 4.0 – Tarifpolitik für die Arbeitswelt von morgen

Campus Verlag, Frankfurt/Main 2019, 168 Seiten, gebunden, € 22,–

HANNESSCHNELLER (WIEN)

Mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) teilt sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) das Geburtsjahr 1949. Vor rund 70 Jahren also war der zentrale AG-Dachverband unseres Nachbarlandes und wichtigsten Wirtschaftspartners (wieder-) gegründet worden. Der Hauptgeschäftsführer der BDA, Steffen Kampeter, hat aus Anlass dieses Jubiläums 18 prominente AutorInnen um Statements zur Sozialpartnerschaft und deren Zukunft gebeten. Ein Unterfangen, das leicht zu einer leichtgewichtigen Jubel-Anthologie hätte geraten können.

Dass dem nicht so geschah, ist der im Untertitel erkennbaren Zielrichtung des Buchs zu verdanken: Alle AutorInnen – beginnend mit dem Arbeitsminister sowie dem Wirtschaftsminister der BRD, von AG-Verbandsvorsitzenden über ArbeitsrechtsprofessorInnen, vom DGB-Vorsitzenden (sowie einigen Vorsitzenden von Fachgewerkschaften) bis zu arbeitsrechtlichen Fachanwälten und Think-Tank-Experten – erörtern aus der Perspektive ihrer jeweiligen Funktion wirtschaftspolitisch bedeutsame Phänomene wie Tarifbindung, Tarifflucht, Verhandlungskultur, Stärkung des Tarifsystems und ähnliches. Im Zentrum der einzelnen Kommentare steht oft die Frage, wie es in der BRD zu einem drastischen Absinken der Tarifbindung, zu einer Erosion des (Flächen-)Tarifvertrags kommen konnte. Wurden in den 1990er-Jahren noch vier von fünf AN nach Tarif bezahlt, ist es heute (Stand 2019) nur noch jeder zweite (Reiner Hoffmann, Vorsitzender des DGB, S 91).

Als Herausforderungen an die Sozialpartnerschaft der Zukunft werden unabhängig von der weltanschaulichen Verortung der AutorInnen genannt: Alterung der Gesellschaft, Klimawandel und dadurch bedingte Ökologisierung/Nachhaltigkeit/Dekarbonisierung der Wirtschaft (und Ausstieg aus der Atomkraft als besonders ehrgeizige Zielsetzung unseres Nachbarstaats), Mindestarbeitsbedingungen in der Lieferkette (soziale Verantwortung), Pluralisierung von Lebensstilen 600 sowie Individualisierung. Die beiden letztgenannten Veränderungen scheinen keinen guten Boden für die Sozialpartnerschaft der Zukunft abzugeben. Der dem kollektiven Arbeitsrecht, der sozialen Marktwirtschaft und dem Sozialstaat zugrundeliegende Konsens über eine „Realverfassung“ von Kompromissen der AN- und AG-Verbände schwächelt seit rund drei Jahrzehnten zunehmend – und das wird nicht zuletzt an der Flucht aus dem Tarifvertrag, an der Zunahme von „OT-Verbänden“ sichtbar. Beide Seiten, die BDA ebenso wie der DGB, sind mit sinkenden Mitgliederzahlen und dem gleichzeitigen Entstehen von Partikular-Interessenvertretungen (die sich bloß um „Haus-Tarifverträge“ kümmern) konfrontiert.

Auf die wirtschafts- und sozialpolitischen sowie rechtlichen Gründe, warum in Deutschland die Tarifbindung in den letzten drei Jahrzehnten so rapide abnahm, und warum das etwa in Österreich nicht so ist (98-99 % Kollektivvertragsabdeckung, wenn man die Erfassung durch Satzungen, also „Allgemeinverbindlicherklärungen“ hinzurechnet), kann im Rahmen dieser knappen Rezension nicht eingegangen werden. Die Schlagworte „Außenseiterwirkung“ und „solidarische Pflichtmitgliedschaft“ sollen aber genannt sein.

Nach der Rsp des Bundesarbeitsgerichts kommt tariflich festgelegten Arbeitsbedingungen eine „Richtigkeitsgewähr“ zu: Das kollektivrechtlich herbeigeführte (ungefähre) Verhandlungsgleichgewicht von AG- und AN-Seite führt zur Rechtsvermutung, dass die vereinbarten Regelungen beiden Interessenlagen gerecht werden. Ist einer der Partner deutlich schwächer als der andere (gewerkschaftlicher Organisationsgrad der Arbeitnehmerschaft nur noch 18 % und bei Jüngeren noch einmal geringer), dann sei die für die Tarifautonomie erforderliche Repräsentativität gefährdet, meint Univ.-Prof. Rudkowski in ihrem lesenswerten Beitrag. Gewerkschaftlich schwer organisierbare „volatile“ Erwerbsbiografien, zunehmende Individualisierung und staatliche Mindestarbeitsbedingungen einschließlich Mindestlohn sieht sie als Hauptgründe für die abnehmende Attraktivität solidarisch-kollektiver Interessenbündelung.

Lena Rudkowski holt aber weiter aus in ihrer Betrachtung des Systems Sozialpartnerschaft, das sich schon ab etwa 1850 zu etablieren begann: Die damaligen Betriebs- und Branchenpartner (in der Phase der rasant wachsenden Industrialisierung und des Beginns der ArbeiterInnenbewegung) hätten es ebenso wie die Sozialpartner nach dem Ersten Weltkrieg sowie nach der Wirtschaftswunderzeit der 1950er- bis 1970er-Jahre verstanden, auf fundamentale technologisch-wirtschaftliche Umbrüche konsensorientiert zu reagieren. Sie hätten Anpassungsfähigkeit gezeigt und es meist geschafft, die widerstreitenden Interessen zumindest im Grundsätzlichen auszugleichen. Einem AN, der am Beginn seines Arbeitslebens mit einem stabilen Erwerbsverlauf (oft bei einem einzigen AG „auf Lebenszeit“) rechnen konnte, war die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft nahezu zwingend als zielführend erschienen. Bei den Erwerbstätigen von heute, die sich von Trainee-Jobs über befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit usw verdingen müssten, sei das aber gänzlich anders, weshalb sie die Repräsentativität von deren Verband (Gewerkschaft) gefährdet sehe. Reinhard Göhner, Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie ehemaliger Staatssekretär, ergänzt: Je geringer die Tarifbindung, umso mehr wird der Gesetzgeber regeln; je mehr der Gesetzgeber regelt, desto geringer die Tarifbindung.

Es verwundert also nicht, wenn in Deutschland in den letzten fünf bis zehn Jahren gesetzliche Mindestlöhne anstelle der tariflichen Entgelte zur Realität wurden. Eine Entwicklung, der ausgerechnet der deutsche Handwerkerverbands-Präsident Wollseifer eine Absage erteilt („Gesetzgeber ist kein besserer Sozialpartner“ 165 f). Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil konstatiert (84 ff), dass der gesetzliche Mindestlohn keine Errungenschaft der Sozialpartner, sondern vielmehr das Ergebnis ihrer geschwundenen Verhandlungsmacht sei. Er bringt den Wunsch zum Ausdruck, dass sich AN- und AG-Vertreter wieder mit mehr Selbstbewusstsein an den Verhandlungstisch setzen mögen, sie wüssten am besten, was gut für ihre Branche ist. Gleichzeitig sei über ein „Tariftreuegesetz“ auf Bundesebene nachzudenken: Unternehmen, die nach Tarif bezahlen, würden davon profitieren.

Fazit: Ein warnendes Buch, ein nachdenklich stimmender Jubiläumsband mit zaghafter Hoffnung auf die Rückkehr einer starken sowie selbstbewussten Tarif- und Sozialpartnerschaft angesichts von Klimawandel, Digitalisierung und Wertepluralismus.