AltreiterWoher man kommt, wohin man geht – Über die Zugkraft der Klassenherkunft am Beispiel junger IndustriearbeiterInnen

Campus Verlag, Frankfurt/New York 2019, 308 Seiten, kartoniert, € 39,95

INGRIDMORITZ
„Die Wirkung der Klassenherkunft lässt sich dabei mit der eines Magneten vergleichen. Während bestimmte Faktoren dahingehend wirken, dass Angehörige nicht-privilegierter Klassen von der Schule tendenziell weggelenkt werden, tragen andere Mechanismen dazu bei, dass sie von der Arbeitswelt angezogen werden.“

(Altreiter, S 178)

Das Phänomen des Magneten oder anders formuliert die „Zugkraft der Klassenherkunft“, aus dem Untertitel des Buches von Carina Altreiter, ist das Erkenntnisinteresse ihrer Befragung von 20 jungen IndustriearbeiterInnen zwischen 20 und 34 Jahren aus dem Bereich warenherstellender Industriebetriebe aus verschiedenen Regionen Österreichs. Die Fragen betrafen den Rückblick auf die eigenen Berufswünsche, den Übergang von der Schule in den Beruf, berufliche Erfahrungen, den Blick auf die eigene Kindheit, die Eltern, Schule und Freizeit. Die Studie von Altreiter basiert auf ihrer Dissertation vom September 2017 zu „Subjekt und Klasse. Zur Dialektik von Position und Disposition junger IndustriearbeiterInnen“. Die Befragung fand zwischen Dezember 2014 und Oktober 2016 statt.

Perspektivenwechsel: von der sozialen Klasse zum Subjekt

Einleitend beschreibt die Autorin die Veränderungen der Arbeitssoziologie in Bezug auf den Klassendiskurs an den Universitäten im deutschsprachigen Raum. Soziale Klasse ist im wissenschaftlichen Diskurs verschwunden, ab den 1980er-Jahren werden soziale Phänomene zunehmend aus dem Blickwinkel des Subjektes beleuchtet. Vorherrschend ist die Vorstellung, dass mit Wohlstandszuwächsen, Bildungsexpansion, staatlichen Sicherungssystemen und Arbeitszeitverkürzung die Klassenherkunft an Bedeutung verloren hätte. Altreiter interpretiert das Verschwinden des Klassenbegriffs und die Vorstellung einer Post-Klassengesellschaft in der deutschsprachigen Soziologie als einen Erfolg der privilegierten Klassen bzw der aufstrebenden Eliten an den Universitäten in den 1970er- und 1980er-Jahren. Ausgehend von Großbritannien kam es erst ab der Jahrtausendwende zu einem Revival der Klassenforschung, die sich auf den Entwurf von Bourdieu bezieht.

Bei Bourdieu knüpft auch die Studie von Altreiter an. So ist Bourdieus Klassenanalyse und der von ihm entwickelte Klassenhabitus, welcher sich aus ähnlichen Sichtweisen und Lebensweisen herstellt, die theoretische Basis für ihre Forschung zu den jungen IndustriearbeiterInnen.

ArbeiterInnen als rechtliches Sammelsurium

Altreiter gibt einen historischen, rechtlichen und statistischen Überblick über die soziale Gruppe der ArbeiterInnen. Sie zeigt auf, dass für ArbeiterInnen eine klare rechtliche Definition fehlt und es sich vielmehr um eine Restgröße in Abgrenzung zu Angestellten handelt. Darunter fallen sehr unterschiedliche Berufe wie „Schlosser, LKW-Fahrerinnen, Maschinenbedienerinnen ebenso wie Reinigungskräfte, Kellner oder auch bestimmte Beschäftigte von Wettbüros“ (Altreiter, S 100). Auch drücken die bis heute gültigen rechtlichen Grundlagen aus der Gewerbeordnung Untertänigkeitsverhältnisse aus, die nicht mehr zeitgemäß sind: „Die Hilfsarbeiter sind verpflichtet, dem Gewerbsinhaber Treue, Folgsamkeit und Achtung zu erweisen, sich anständig zu betragen ....“ (Altreiter, S 99).

Selektionsmechanismen und soziale Ordnung

Altreiter interessiert sich für die Frage, wie die Klassenreproduktion vonstatten geht. Aufschlussreich sind die Erklärungen der jungen IndustriearbeiterInnen, wie sie ihre Bildungs- und Berufsentscheidungen begründen: schlechte schulische Leistungen, geringe Bildungsmotivation, Wunsch nach praktischer, körperlicher Tätigkeit. Die Jugendlichen erzählen von ihrer Vorliebe für körperliches, handwerkliches Arbeiten, während sie geistige und im Sitzen zu verrichtende Arbeiten ablehnen.

Die Autorin bringt die Erklärungen der jungen IndustriearbeiterInnen mit den gesellschaftlichen Strukturen in Zusammenhang: Das scheinbar objektive System der 598 Benotung führt zu Selektionsmechanismen und Entwertungen, da die nach sozialer Herkunft unterschiedlichen Erfahrungen mit Lehr-und Lernformen ausgeblendet werden. SchülerInnen werden dann oft als „faul“, „dumm“ oder „unmotiviert“ definiert oder beschreiben sich selbst so. Geringe Erfolgsaussichten werden folglich bei den Entscheidungen vorweggenommen und so wird die soziale Ordnung hergestellt.

Anpassungsleistungen von Frauen, um dazuzugehören

Spannend sind auch die Beobachtungen von Altreiter zu Frauen in der Industriearbeit (für die Befragung konnten sechs Frauen gewonnen werden, die Zielsetzung einer ausgewogenen Repräsentanz konnte nicht erreicht werden). Wie gehen sie damit um, als Frau im exklusiven Männerbereich zu arbeiten, wie werden sie wahrgenommen? Die Autorin merkt an, dass auf Frauen in männerdominierten Berufen Phänomene von Minderheiten in einer Gruppe zutreffen. Sie werden nicht als Individuen gesehen, sondern erhalten symbolische Bedeutung als Stellvertreterinnen. So erleben die jungen Industriearbeiterinnen immer wieder Situationen, wo sie als Eindringlinge wahrgenommen werden. Daran knüpft sich die Zuschreibung, sie würden nicht Gleiches wie Männer leisten.

Frauen reagieren mit dem Erbringen guter Leistung, passen sich an die männliche Arbeitskultur durch die Kleidung, Sprache oder das Auftreten an, um nicht aufzufallen. Sie grenzen sich von weiblichen Zuschreibungen ab.

Aus der Not eine Tugend machen

Wie gehen die jungen IndustriearbeiterInnen mit den Widersprüchen, der Nicht-Passung zwischen Ansprüchen und den tatsächlichen Arbeitsbedingungen um? Dabei werden drei unterschiedliche Handlungsstrategien aufgezeigt, um mit diesen Widersprüchen zurecht zu kommen:

Bei der Adaption geht es iS von Bourdieu darum, aus der Not eine Tugend zu machen. Es werden positive Aspekte der Arbeit wie Bezahlung oder gute Kollegialität hervorgehoben. Auch Begründungen wie mangelnde berufliche Alternativen, finanzielle Verantwortung für die Familie werden für den beruflichen Verbleib ins Treffen geführt. Altreiter weist auf die Ambivalenz der positiven Umdeutung von Arbeit hin: Damit wird die soziale Ordnung aufrechterhalten, die Einzelnen können aber auch unbefriedigende Arbeitssituationen besser bewältigen.

Bei der Strategie der Kompensation kommt es zu einer Verlagerung der Sinnstiftung auf andere Bereiche, etwa private Hobbies, Engagement als BR und damit verbundene Möglichkeiten der Weiterbildung. Bei der Strategie der Transformation wird eine berufliche Veränderung etwa durch Weiterbildung oder Änderung der Tätigkeit angestrebt.

Zusammenfassend ist das Buch von Altreiter eine absolute Leseempfehlung für all jene, die die Handlungsmuster von Menschen mit geringen Bildungsabschlüssen oder in prekärer Beschäftigung besser verstehen wollen. Die Verhaltensmuster lassen sich auch auf andere Beschäftigtengruppen übertragen: Angestellte, deren Arbeitsabläufe vorgegeben sind und die wenig Gestaltungsspielraum bei ihrer Tätigkeit haben, Teilzeitbeschäftigte, die trotz guter Qualifikationen nicht von der Stelle kommen und Frauen in männerdominierten Berufen. Sie alle sind gefordert, mit diesen Widersprüchen umzugehen und ihre realen Spielräume auszuloten.