SteinerEin verlässlicher Partner für‘s Leben – Soziale Sicherheit von der industriellen Revolution bis ins digitale Zeitalter

Verlag des ÖGB, Wien 2018, 480 Seiten, kartoniert, € 29,90

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger hat – nach eigenem Bekunden im Vorwort von Präsident und Generaldirektor – in den letzten Jahren seine eigene Geschichte vor dem Hintergrund der Geschichte der österreichischen SV in einer Buchreihe aufgearbeitet, die „unter dem Dach des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien“ (so der Autor in seinem Vorwort) entstanden ist. Nach „60 Jahre ASVG“, „60 Jahre Hauptverband“ und Studien über Johann Böhm, Karl Maisel, Anton Proksch und Josef Resch sowie einer Darstellung der bäuerlichen SV schrieb Guenther Steiner gleichsam als Schlussstein dieser Serie eine Sozialgeschichte der österreichischen gesetzlichen SV von ihren Vorläufern im 19. Jahrhundert bis zu Vorhaben wie ELGA, Rehabilitation vor Pension und die Gesundheitsreform 2013. Wenn die derzeitige Bundesregierung alle ihre Vorhaben nach dem Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG) verwirklichen können sollte, könnte dieses Buch zugleich ein Schwanengesang nicht nur für den Hauptverband bisheriger Prägung, sondern auch für die gesetzliche SV werden, wie wir sie bisher gekannt haben. Eine einmalige Erfolgsgeschichte – wie sie im Buch einleitend zurecht genannt wird – könnte durch puren Mutwillen an ihr Ende gebracht worden sein.

Das Kritische zuerst: Der Titel ist nach meinem Geschmack völlig missglückt. „Ein verlässlicher Partner für‘s Leben“. Wenn damit „die“ Soziale Sicherheit gemeint sein sollte, dann stimmt schon das Geschlecht nicht. Da dieser Titel auch das Cover (grafisch mit einem großen angeschnittenen Frauenantlitz im Vorder- und einem kleineren vergilbten Männer-Portrait im Hintergrund gestaltet) klar dominiert, lässt die äußere Erscheinungsform für den Betrachter alles andere vermuten, nur keine Geschichte der Sozialen Sicherheit. Daran ändert auch der Untertitel nichts, der auf dem Cover – in zartem Grün gehalten – zwischen dem Titel und den Bildern ein ziemlich unauffälliges Dasein fristet. Erst wenn man das Buch umdreht, findet man auf der letzten Cover-Seite die Information darüber, was einen zwischen den Buchdeckeln erwartet.

Und das halte ich für hervorragend gelungen: Wir haben es mit einer – nach Selbstzeugnis des Autors – Sozialgeschichte (also nicht Rechtsgeschichte) der Sozialen Sicherheit zu tun, die nicht in erster Linie für ExpertInnen geschrieben ist, sondern durch die lesbaren Texte und die grafisch sehr geschickte Gestaltung und der Einschaltung zahlreicher graphischer Darstellungen auch interessierte LaiInnen ansprechen sollte.

Didaktisch geschickt werden zuerst die weltweit vorkommenden Systeme der Sozialen Sicherheit und386 die Unterschiede zu unserem System, auch „Bismarck-Modell“ genannt, erklärt. Ein grober Überblick über die Regelungsfelder der SV, ihre wesentlichen Merkmale und die bislang bestehende Organisation ergänzen diese Einleitung, die man gut und gern jedem Studenten in die Hand drücken sollte, ehe er beginnt, sich mit der Abgrenzung des Dienstvertrages vom Werkvertrag zu beschäftigen.

Der geschichtliche Überblick führt Fakten zusammen, die in dieser Form auch im Internet nicht leicht zu finden sind: Der Bogen, den Steiner spannt, beginnt mit den Bruderladen und reicht über kirchliche Einrichtungen, über die mittelalterlichen Stiftungen von Kaufleuten, das Zunftwesen bis zum „Bettel“ als eine im Mittelalter „anerkannte und tolerierte Lebensform“ (41).

Es werden die soziale Sicherung für Soldaten ab der Regentschaft Karls VI. sowie die ersten Versorgungsregelungen für Beamte um die Mitte des 18. Jhd. bis zum Pensionsnormale Josephs II. dargestellt, welches mit geringfügigen Änderungen im Wesentlichen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Geltung stand.

Die Gesundheitsreform Josephs II., die ua das erste allgemeine Krankenhaus bescherte, führte auch zu Vorschriften, nach denen in den Haushalt aufgenommene Mitglieder des Gesinde im Krankheitsfall nicht nur zu Hause gepflegt, sondern im Bedarfsfall auf Kosten des Dienstherrn in die dritte Klasse des Krankenhauses gebracht werden mussten. Eine Regelung, die prägend für das frühe Arbeitsrecht, vor allem für die Gesindeordnungen wurde, wobei als „Mutter aller Gesindeordnungen“ für rund 100 Jahre die Wiener Gesindeordnung vom 1.5.1810 gelten kann. Im ausgehenden 18. Jahrhundert gab es in Wien und in den Vorstädten schätzungsweise rund 40.000 DienstbotInnen, das sind rund 15 % der Bevölkerung, ein Prozentsatz, der sich bis in den Vormärz konstant hielt; in der Stadt selbst betrug der Anteil des Hauspersonals an der Wohnbevölkerung in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts rund 45 % (Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien [1992-1997] Stichwort Hauspersonal mwN).

Die sozialpolitische Bedeutung einer solchen Regelung für die damalige Zeit kann also gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das zeigt sich auch in der Entwicklung organisierter Krankenvorsorge, an deren Beginn Steiner wohl zurecht das Berggesetz 1854 mit der Verpflichtung zur Einrichtung von Bruderladen stellt. Die Sanktion für das Unterlassen einer solchen Einrichtung hat übrigens darin bestanden, dass der DG andernfalls jene Verpflichtungen zu erfüllen hatte, wie sie in den Gesindeordnungen vorgeschrieben waren. Der Weg von den Genossenschaftskrankenkassen der Gewerbeordnung 1859 über die Vereinskrankenkassen, die zwischen 1867 und 1882 errichtet werden durften, bis zum Krankenversicherungsgesetz 1888 (KVG) wird sehr lebendig und interessant geschildert. Der Autor versäumt es aber auch nicht, die gesellschaftliche Entwicklung während der Zeit der Industrialisierung, die Entstehung der „Arbeiterschaft“ (51 ff), die als politische Kraft die Vorherrschaft der Liberalen ablöste, und deren politische Organisation in Gewerkschaft und Sozialdemokratie nachzuzeichnen, bis hin zur sozialen Sicherheit als jene Staatsaufgabe, als die sie sich erstmals im Unfallversicherungsgesetz (UVG) 1889 und im KVG 1888 manifestierte. Die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft mit den „Almosen“ der gesetzlichen KV, wie sie im Hainfelder Programm zum Ausdruck kam (63), macht die Relativität der Neuregelungen deutlich, welche in erster Linie zu einer Entlastung der Armenfürsorge der Gemeinden und der Verpflichtungen der DG, aber zunächst einmal zu keiner substantiellen Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft führte.

Das Scheitern der Altersversorgung der ArbeiterInnen, zuerst am Kriegsausbruch 1914, die schrittweise Einführung einer Altersversorgung für Angestellte und die Schaffung des Sozialministeriums 1917 (bis dahin ressortierte die soziale Sicherheit zum Innenministerium) sind weitere Meilensteine der Entwicklung bis 1918, wobei die erstmalige Einführung eines Pensionsalters mit der 1. Novelle zum Pensionsgesetz 1906 zugleich die Tradition eines um fünf Jahre unterschiedlichen Pensionsalters für Männer und Frauen begründet hat, das ab 2024 schrittweise abgeschafft werden wird. Dafür wurden im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Begründungen vorgebracht (wie zB die Doppelbelastung sowie eine allfällige erhöhte körperliche Beanspruchung der Frau oder aber auch biologische Gründe – vgl VfGH 1990/VfSlg 12.568). Die bei Steiner gegebene – nur mit Sekundärliteratur aus den späten 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts belegte – Begründung dürfte nicht allgemein bekannt sein: Da nur die Witwe nach dem Tod des Versicherten Anspruch auf Witwenpension hatte, nicht aber umgekehrt der Witwer nach der verstorbenen Ehefrau, beide aber Beiträge in gleicher Höhe bezahlten, sei zum Ausgleich dieses Ungleichgewichts das Pensionsalter für Frauen um fünf Jahre herabgesetzt worden (103). Hinter diese Begründung ist insofern ein Fragezeichen zu setzen, als nach der Begründung der Materialien der betreffenden Novelle zum Pensionsgesetz 1906, wie sie bei dem Zeitgenossen Korkisch (Kommentar zum Pensionsversicherungsgesetz3 [1915] 20) zitiert werden, Frauen „aus mannigfachen Ursachen“ deutlich früher invalid würden als Männer.

Die Periode 1918 bis 1933 beginnt mit Ferdinand Hanusch im Staatsamt für soziale Fürsorge, erläutert die wirtschaftlichen Probleme der über 400 Krankenkassen, die vor allem in der geringen Größe der meisten Kassen gelegen waren, und den Versuch, durch das Kassenkonzentrationsgesetz deren Zahl deutlich zu verringern. Die durch die Hyperinflation geborene Not führte zur Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle unselbständig Erwerbstätigen mit der 7. Novelle zum KVG im Jahre 1921 und man erfährt (153), dass dies – schon damals, möchte man sagen – auf den Widerstand der Ärzteschaft stieß, die in der Einschränkung ihrer Privatpraxen „eine schwere Bedrohung ihres Standes sah“. Die Einbeziehung der Land-und ForstarbeiterInnen in die KV führte übrigens zu einem politischen Konflikt und einem Verfahren vor dem VfGH, der diese Regelung 1924 (wenige Monate vor dem Inkrafttreten des Kompetenztatbestandes „Sozialversicherungswesen“ in Art 10 B-VG als Bundeskompetenz in Gesetzgebung und Vollziehung) noch auf dem Boden der Kompetenzverteilung aus 1867 als kompetenzwidrig aufgehoben hat (160). Steiner skizziert im Übrigen auch nach, wie groß der Widerstand gegen die SV in bäuerlichen Kreisen war, die in der staatlichen KV eine Bedrohung ihrer patriarchalischen Stellung erblickten (159).

Steiner weist dann dem Krankenkassenorganisationsgesetz, das sich nur auf die KV der ArbeiterInnen387 bezogen hat, eine Rolle beim politischen Streit um die Beteiligung der DG in der Selbstverwaltung der DN zu (172 f), der sich aber eher im Vorfeld des Angestelltenversicherungsgesetzes 1926 und im Anschluss an die Regierungsvorlage zu diesem Gesetz ab 1923 abgespielt hat, wobei dessen Ergebnisse (Kundmachung AngVersG BGBl 1926/388) die Weichen auch für das Arbeiterversicherungsgesetz und das Krankenkassenorganisationsgesetz (jeweils 1927) gestellt hatten.

Die politische Auseinandersetzung um die Wohlstandsklausel, an der die PV für ArbeiterInnen bis 1938 an der Mittelstandspolitik der Regierung (welche die wesentlich geringere Zahl der Angestellten bevorzugte) scheitern sollte, und die stattdessen mit dem X. Hauptstück zum Arbeiterversicherungsgesetz eingeführte (später auf LandarbeiterInnen ausgedehnte) Altersfürsorge wird ebenso eingehend dargestellt (188 ff) wie die Weiterentwicklung der UV durch die Einführung des Versicherungsfalls der Berufskrankheit mit der XVII. Novelle zum UVG 1889.

Die 1930er-Jahre werden im Zeichen einer finanziellen Reform der SV geschildert, die zu Beitragserhöhungen und Leistungskürzungen, auch in der UV und zur Auflassung der Bruderladen führte. Das GSVG 1935 kodifizierte das Sozialversicherungsrecht und enthielt massive Leistungskürzungen auf allen Ebenen (Kürzung des Krankengeldes, dreitägige Wartezeit auf das Krankengeld, Einschränkung des Kreises der anspruchsberechtigten Familienangehörigen, Kürzung der Verletztenrente in der UV, Kürzung der Pensionen), sodass die SV ihren Zweck der Existenzsicherung zu verfehlen begann und zu heftigen Reaktionen der mittlerweile illegalen Sozialdemokratie führte (248).

Zum dritten Reich erfährt man über die Umorganisation der SV und jene Systemänderungen, die schließlich in das Sozialversicherungsrecht der 2. Republik übernommen werden sollten, wie jene der freien Arztwahl mit Krankenschein und die PV für Arbeiter, die jedoch kaum das Niveau des GSVG überstiegen hat, zum Teil sogar hinter diesem zurückblieb (264). Nicht in die 2. Republik übernommen wurde das gleiche Pensionsalter für Männer und Frauen; schon 1948 wurde der alte Fünfjahresabstand wieder hergestellt. Man hatte freilich mit mehreren Rechtsschichten zu kämpfen, aus denen die ausbezahlten Renten stammten, die daher zum Teil eine ganz unzureichende Kaufkraft hatten. Es sollte bis in die 60er-Jahre dauern, diese Unterschiede einigermaßen auszugleichen (näheres siehe Müller, Das österreichische System der Pensionsanpassung, SoSi 2013, 516).

Der politische Kampf konservativer Kreise gegen die (traditionell rote) SV ging indes unvermindert weiter, wie der Autor anhand eines Inserates des Hauptverbandes (292) aufzeigt, in dem abenteuerlichen Anschuldigungen gegen die Krankenkassen (Diktatur der Krankenkassen, Betteln um Leistungen, keine Arztwahl, kostspielige Büropaläste, hohe Verwaltungskosten – „Fake News“ damals wie heute) entgegengetreten werden musste. Die Entstehung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes und die Entwicklung seither bilden den letzten Teil der Sozialgeschichte der SV.

Ein roter Faden zieht sich durch diese Geschichte der SV hindurch: der politische Abwehrkampf, der immer wieder um die Erhaltung des Systems gegen wirtschaftsliberale und konservative Kreise geführt werden musste, naturgemäß an vorderster Front von der Sozialdemokratie, in deren maßgeblicher politischer Verantwortung unter demokratischen Verhältnissen der Vollzug der sozialen Sicherheit seit 130 Jahren nun einmal liegt, und der – wie die derzeitige politische Situation und das SV-OG 2018 zeigen – offenbar immer wieder aufs Neue geführt werden muss; im Buch Steiners kann man es nachlesen: Eine Parität der DG in der Selbstverwaltung der KV der unselbständig Erwerbstätigen hat es in der Geschichte noch nie gegeben, welche politische Konstellation auch immer am Ruder war. Die bis zum SV-OG bestehende 4:1-Mehrheit der DN wurde 1927 vom regierungsnahen Berichterstatter in der parlamentarischen Behandlung damit begründet „dass bei Versicherungsinstituten, welche ausschließlich [DN] gegen Krankheit versichern, den [DN] ein entsprechendes Überwiegen ihres Einflusses sichergestellt werden muss, damit es so möglich wird, dass die [DN] diesen Instituten auch das entsprechende Vertrauen entgegenbringen“ (Zitat S 176 – im Original ging es nur um „Arbeiter“). Goldene Worte. Allen Beteiligten ans Herz gelegt.

Eine lesbare historische Darstellung der Entwicklung der Sozialen Sicherheit zu schreiben, ist eine Kunst. Es entwickeln sich Institutionen, es verändern sich der Kreis der Versicherten und die Leistungen, die Entwicklung einzelner Sparten ist nachzuzeichnen und das Ganze vor den Hintergrund der politischen Ereignisse zu stellen und dazu in Bezug zu setzen. Die vielen parallelen Ereignisstränge miteinander zu verknüpfen, ist dem Autor mit seiner Schwerpunktsetzung auf „Organisation, Kreis der Versicherten, Leistungen und Aufbringung der Mittel“ (10) im Großen und Ganzen sehr gut gelungen. Kleine Fehler (wie beim AngVG 1927) tun dem keinen Abbruch. Die in den Text an zeitlich jeweils passender Stelle eingestreuten Kurzbiographien von für die Entwicklung bedeutenden Persönlichkeiten geben dem Geschehen quasi Gesicht, Namen und Adresse, im positiven wie im negativen Sinn. Auch wenn der Autor betont, eine Sozialgeschichte und kein rechtshistorisches Werk geschrieben zu haben (12), so lässt sich die Rechtsgeschichte naturgemäß nicht ausklammern. Der Vorteil dieses Werkes ist, dass es für jeden an der SV historisch Interessierten, aber auch für den rechtshistorisch Interessierten eine Fülle von Details bereithält, die man so noch nicht kannte und dass es gleichzeitig mit seinem wissenschaftlichen Apparat viele Wege für vertiefende Studien weist. Es ist zugleich ein Leistungsnachweis der Institutionen der SV seit mehr als 130 Jahren. Dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger ist zu dem gesamten Projekt und auch zu seinem hiemit vorgelegten Schlussstein zu gratulieren. Es ist zu hoffen, dass die Entwicklung der nächsten Jahre nicht dazu führt, dass es zugleich ein Schwanengesang geworden ist. Ein gut gemachtes und wohlfeiles Buch, das in keiner Bibliothek fehlen sollte.388