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Endlich Klarheit in Pflegegeldübergangsfällen

MONIKAWEISSENSTEINER (WIEN)
  1. Die §§ 48b und 48f BPGG sind dahingehend auszulegen, dass eine „wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs“ nur dann angenommen werden kann, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor der Novellierung („alten Rechtslage“) zum Entzug oder der Herabsetzung berechtigt hätte.

  2. Der Anwendungsbereich der §§ 48b und 48f BPGG ist nicht am Bezug einzelner Pflegegeldstufen festzumachen.

  3. Die Schutzwirkung ist nicht nur auf die Stufen 1 und 2 zu beziehen, sie entfalten diese Wirkung auch für eine ehemals gewährte höhere Pflegegeldstufe.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Kl ab 1.1.2017 unter Anwendung der Übergangsbestimmung des § 48f Abs 2 BPGG einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 hat (Standpunkt des Kl) oder ob auf ihn § 48f BPGG nicht anzuwenden ist, sodass ihm Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 zusteht (Standpunkt der Bekl).

Der Kl, bei dem ua ein Zustand nach mehrfachen Wirbelsäulenoperationen besteht, bezog aufgrund eines Vergleichs vom 8.11.2012 [...] Pflegegeld der Stufe 3 (entsprechend einem Pflegebedarf von mehr als 120 Stunden monatlich). Gegenüber dem Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses hat sich sein Pflegebedarf ab 1.1.2017 auf (unstrittig) 94,5 Stunden pro Monat verringert. Infolge eines Wohnungswechsels kann er mit dem Rollstuhl nunmehr alle Wege im Wohnbereich ohne fremde Hilfe zurücklegen, außerdem ist das Anlegen eines Mieders nicht mehr erforderlich.

Mit Bescheid vom 21.11.2016 entzog die Bekl das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Dezember 2016, mit der Begründung, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Pflegegeld lägen nicht mehr vor.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kl die Weitergewährung des Pflegegeldes in der gesetzlichen Höhe, mindestens jedoch in Höhe der Stufe 1 über den 31.12.2016 hinaus. [...]

Das Erstgericht sprach dem Kl das Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von monatlich 157,30 € ab 1.1.2017 zu. Maßgeblich sei die ab 1.1.2015 geltende neue Rechtslage (Voraussetzung für die Gewährung der Pflegegeldstufe 1 mehr als 65 bzw für die Pflegegeldstufe 2 mehr als 95 Stunden Pflegebedarf). [...]

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Mit der Novelle BGBl I 2015/12 seien ab 1.1.2015 die Voraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld der Stufen 1 und 2 verschärft worden (mehr als 65 bzw mehr als 95 Stunden Pflegebedarf), die Voraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld der Stufe 3 seien hingegen mit mehr als 120 Stunden weiterhin unverändert geblieben. [...] Da der Kl das Pflegegeld der Stufe 3 bezogen habe, bestehe auch kein zu schützendes Vertrauen in die bisherigen Grenzen der Pflegestufen 1 und 2. [...]

Gegen diese E richtet sich die Revision des Kl mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass ihm zumindest Pflegegeld der Stufe 2 zugesprochen werde. [...]

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und iSd Abänderungsantrags auch berechtigt.

Der Revisionswerber bringt zusammengefasst vor, der gegenständliche Fall sei mit der E 10 ObS 184/13a (und mit 10 ObS 36/17t) nicht ver-361gleichbar, in der der Kl das Pflegegeld der Stufe 2 erstmalig nach Inkrafttreten der Novelle 2011 zuerkannt worden sei. Die Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 3 umfasse begriffsimmanent auch die Erfüllung der Voraussetzungen für die Gewährung der Stufe 2; der Bezug der Pflegegeldstufe 3 setze immer den Bezug der Pflegegeldstufe 2 voraus. Er selbst habe somit durchgehend seit 1.5.2011 zumindest ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 bezogen. Wollte man die Schutzwirkung des § 48f Abs 2 BPGG nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 beschränken, hätte dies zur Folge, dass er wesentlich schlechter gestellt wäre als ein Pflegebedürftiger, dessen Gesundheitszustand seit 2012 konstant auf 94,5 Stunden geblieben wäre und bei dem keine zwischenzeitliche Verschlechterung eingetreten sei. [...]

Dazu wurde erwogen:

1.1 Durch das Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 2010/111 (BBG 2011) wurde § 4 Abs 2 BPGG dahin geändert, dass der für die Pflegegeldstufen 1 und 2 erforderliche Pflegebedarf mit 1.1.2011 auf mehr als 60 bzw mehr als 85 Stunden pro Monat angehoben wurde. Zuvor reichten mehr als 50 Stunden bzw mehr als 75 Stunden aus.

1.2 Die Übergangsbestimmung des § 48b BPGG idF des BBG 2011 lautet auszugsweise:

„§ 48b. (1) Allen am 1. Jänner 2011 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf Zuerkennung oder Erhöhung des Pflegegeldes sind die bis zum 31. Dezember 2010 jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zugrunde zu legen.

(2) Eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs. 2 in der Fassung des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl. I Nr. 111/2010, ist nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist. [...]

(4) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 3 gelten auch für gerichtliche Verfahren.“

1.3 Die Gesetzesmaterialien zu dieser Bestimmung führen Folgendes aus (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 173 f):

„Auch wegen des besonders schutzwürdigen Personenkreises soll dennoch auf vorhandene Einstufungen der pflegebedürftigen Menschen Bedacht genommen und eine Kürzung der vor Inkrafttreten dieser Novelle zuerkannten Pflegegelder vermieden werden. Dies soll beispielsweise auch für Fälle gelten, in denen im Rahmen einer Nachuntersuchung ein zeitlicher Pflegebedarf festgestellt wurde, der sich aufgrund der geänderten Anspruchsvoraussetzungen bei der Einstufung auswirken würde....Eine Minderung oder Entziehung des Pflegegeldes soll nur dann zulässig sein, wenn eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegegelds eingetreten ist. ...“

2.1 Zu dieser Übergangsbestimmung nahm der OGH erstmals in der E 10 ObS 108/13z, SSVNF 27/64, Stellung. An sich behandelt diese E die Übergangsbestimmung des § 48c Abs 2 BPGG, mit dem die Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenz für das Pflegegeld mit Wirkung vom 1.1.2012 von den Ländern auf den Bund übertragen wurde. § 48c Abs 2 letzter Satz BPGG ordnet aber die sinngemäße Anwendung des § 48b Abs 1 bis 4 BPGG an.

2.2 [...] Der OGH führte aus, dass nach § 48c Abs 2 letzter Satz BPGG iVm § 48b Abs 2 BPGG (damals: bei befristeter Zuerkennung) eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen der Anspruchsvoraussetzungen [...] nur dann zulässig ist, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegegeldes eingetreten ist. Wörtlich führte der Gerichtshof aus:

Den bereits wiedergegebenen Übergangsbestimmungen [...] ist insgesamt der Grundsatz zu entnehmen, dass alleine aufgrund dieser Gesetzesänderung ein Entzug oder eine Herabstufung nicht erfolgen soll. In diesem Sinne kann eine zur Herabsetzung bzw zum Entzug des Pflegegelds berechtigende ‚wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs‘ nur dann angenommen werden, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem 1.1.2011 zu Entzug oder Herabsetzung des Pflegegelds berechtigt hätte.“ [...]

2.4 An dieser Rsp hielt der OGH aber auch in den zur Übergangsbestimmung des § 48b Abs 2 BPGG selbst ergangenen Entscheidungen 10 ObS 107/13b und 10 ObS 146/13p, SSV-NF 27/78, fest [...].

2.5 In der E 10 ObS 107/13b wurde dem damaligen Kl Pflegegeld der Stufe 2 befristet vom 1.2.2010 bis 31.1.2012 zuerkannt. [...] Der Kl beantragte die Weitergewährung des Pflegegeldes über den 31.1.2012 hinaus. Im Verfahren erwies sich, dass der Kl ab 1.2.2012 einen monatlichen Pflegebedarf von nur mehr 60 Stunden hatte, was nach der seit dem 1.1.2011 geltenden Rechtslage nach dem BBG 2011 keinen Pflegegeldanspruch mehr begründet hätte. Dem hielt der OGH die in der E 10 ObS 108/13z herausgearbeiteten Grundsätze zu § 48b Abs 2 BPGG entgegen, was zur Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 1 über den 31.1.2012 hinaus führte, weil nach der maßgeblichen Rechtslage zum 31.12.2010 zwar nicht mehr die Voraussetzungen der Stufe 2, jedoch ein Pflegebedarf der Stufe 1 (mehr als 50 Stunden im Monat) vorlagen.

2.6 Im Hinblick darauf, dass das Berufungsgericht seine Rechtsansicht auf die E 10 ObS 184/13a gestützt hat, obwohl diese eine – hier nicht verfahrensgegenständliche – zwischenzeitige Verschlechterung und damit verbundene Pflegegelderhöhungen betraf, ist auch auf diese E einzugehen:

Die Kl bezog Pflegegeld der Stufe 1 nach dem WPGG ab 1.7.2006. Infolge einer Verschlechterung ihres Zustands gewährte ihr das Land Wien ab 1.5.2011 – daher schon im Anwendungsbereich der Rechtslage nach dem BBG 2011 (bzw der Novelle zum WPGG, WrLGBl 2011/6) – Pflegegeld der Stufe 2. Dem lag ein Pflegebedarf der Kl im Ausmaß von 97 Stunden im Monat zugrunde. Im Anwendungsbereich des BPGG (nach dem Pflegegeldreformgesetz 2012) wurde der Kl das Pflegegeld per 31.12.2012 entzogen. Zu diesem Zeitpunkt bestand bei der Kl ein Pflegebedarf von 54 Stunden im Monat. In dieser E gelangte der OGH zu362 dem Ergebnis, dass die Kl nicht zu dem von § 48b Abs 2 BPGG (iVm § 48c Abs 2 BPGG) begünstigten Personenkreis gehöre, weil ihr Pflegegeld der Stufe 2 nach dem BPGG erst nach Inkrafttreten der Novelle zum WPGG, WrLGBl 2011/6, zuerkannt worden war. [...]

3. Die E 10 ObS 184/13a traf in der Literatur auf Kritik (Greifeneder, Übergangsbestimmung Budgetbegleitgesetz 2011 – eine überraschende Entscheidung des OGH, ÖZPR 2014/50, 81). Greifeneder führt aus, dass die damalige Kl bereits lange vor dem 1.1.2011 Pflegegeld bezogen habe und daher dem begünstigten Personenkreis des § 48b Abs 2 BPGG angehöre. Nach den in den Entscheidungen 10 ObS 107/13b und 10 ObS 146/13p dargelegten Grundsätzen wäre eine Entziehung des Pflegegeldes daher nur möglich gewesen, wenn eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs ein derartiges Ausmaß angenommen hätte, dass die Entziehung auch nach der alten Rechtslage zum 31.12.2010 zulässig gewesen wäre. [...] Die zwischenzeitige Erhöhung des Pflegegeldes auf Stufe 2 (infolge eines höheren Pflegebedarfs) habe nichts daran geändert, dass durchgehend ein Anspruch auf Pflegegeld zumindest in der Pflegegeldstufe 1 bestanden habe.

4.1 Wie bereits ausgeführt, liegt dem nunmehr zu beurteilenden Sachverhalt [...] keine zwischenzeitige Verschlechterung (und damit verbundene Pflegegelderhöhung) zugrunde, sondern ein (erstmaliges) Herabsinken eines zuvor höheren Pflegebedarfs. Bezogen auf diesen – hier zu beurteilenden – Sachverhalt ist im Hinblick auf den maßgeblichen Gesetzeszweck der Übergangsbestimmungen des § 48b bzw f BPGG Folgendes klarzustellen:

4.2 Aus den bereits wiedergegebenen Gesetzesmaterialien zu § 48b Abs 2 BPGG (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 173) ist die Absicht des Gesetzgebers hervorzuheben, eine Kürzung der vor Inkrafttreten des BBG 2011 zuerkannten Pflegegelder zu vermeiden. § 48b BPGG soll insofern den „Besitzstand“ von Pflegebedürftigen wahren, die zum 1.1.2011 bereits Pflegegeld bezogen hatten. Demnach ist nach § 48b Abs 2 BPGG eine Minderung oder Entziehung eines nach der alten Rechtslage rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs eingetreten ist. Eine solche Änderung ist aber nur dann wesentlich, wenn diese „so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der Rechtslage zum 31.12.2010 eine Minderung oder Entziehung zulässig gewesen wäre“ (10 ObS 107/13b, 10 ObS 146/13p; 10 ObS 184/13a; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 Rz 4.125; Greifeneder, Neuerungen beim Pflegegeld – Budgetbegleitgesetz 2011, ÖZPR 2011/11, 12; Greifeneder, Sind die ab 1.1.2011 geltenden strengeren Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegegeldstufen 1 und 2 in Herabsetzungs- bzw Entzugsverfahren maßgeblich? ÖZPR 2011/93, 116; von einer „Wahrung der landes- oder sondergesetzlich zuerkannten Pflegestufe“ [iZm § 48c Abs 2 BPGG] spricht auch Rudda, Pflegereform 2011/2012, SozSi 2010, 483 [486]).

4.3 Entscheidend ist im Anwendungsbereich des § 48b BPGG daher nicht der Bezug eines Pflegegeldes in einer bestimmten Höhe bzw der Bezug einer bestimmten Pflegegeldstufe, sondern – nur – die Veränderung des Ausmaßes eines schon vor dem 1.1.2011 bestehenden Pflegebedarfs. Erst wenn die Veränderung des Pflegebedarfs ein solches Ausmaß erreicht, dass auch nach der bis zum 31.12.2010 geltenden Rechtslage Pflegegeld herabzustufen oder zu entziehen gewesen wäre, ist die Veränderung wesentlich. [...]

4.4 Dass der Gesetzgeber diesen Zweck mit der Übergangsbestimmung des § 48b BPGG verfolgte, hat er in der [...] Übergangsbestimmung des § 48f BPGG zur Novelle des BPGG, BGBl I 2015/12, verdeutlicht, mit der die Anspruchsvoraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 1 und 2 neuerlich verschärft wurden. Anders als § 48b BPGG enthält § 48f Abs 2 BPGG nämlich folgenden zweiten Satz:

„Eine Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs ist wesentlich, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der Rechtslage zum 31. Dezember 2014 eine Minderung oder Entziehung zulässig gewesen wäre.“

Der Gesetzgeber nahm damit ausdrücklich Bezug auf die Rsp des OGH in der E 10 ObS 107/13b, was sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, die auszugsweise lauten (Erläuterungen zum Initiativantrag 833/A 25. GP 29 f):

„Eine Minderung oder Entziehung des Pflegegeldes soll nur dann zulässig sein, wenn eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist. In diesem Sinn kann eine wesentliche Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfes, die zur Minderung oder Entziehung berechtigt, nur dann angenommen werden, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der zum 31. Dezember 2014 geltenden Rechtslage eine Minderung oder Entziehung zulässig wäre. [...]

5. Dafür, an der in den Entscheidungen 10 ObS 108/13z, 10 ObS 107/13b und 10 ObS 146/13p vorgenommenen Auslegung der Übergangsbestimmung des § 48b Abs 2 BPGG auch im vorliegenden Fall festzuhalten, sprechen folgende weitere Überlegungen:

Nach den Gesetzesmaterialien zu § 48b BPGG soll der Grundsatz, dass eine Kürzung der vor Inkrafttreten der Novelle zuerkannten Pflegegelder vermieden werden soll, auch für Fälle gelten, in denen im Rahmen einer Nachuntersuchung ein zeitlicher Pflegebedarf festgestellt wurde, der sich aufgrund der geänderten Anspruchsvoraussetzungen bei der Einstufung auswirken würde. [...] Zudem vermeidet dieses Verständnis der Übergangsbestimmung eine sachlich nicht zu rechtfertigende Differenzierung unterschiedlicher Gruppen von Pflegegeldbeziehern. Wie in der Revision aufgezeigt, wäre der Kl bei einem Zuspruch nur des Pflegegeldes der Stufe 1 wesentlich schlechter gestellt als ein Pflegebedürftiger, dessen Gesundheitszustand seit 2012 konstant einen durchschnittlichen Pflegebedarf von 94,5 Stunden monatlich bedingt hätte. Zu bedenken ist auch, dass der geringere Pflegebedarf des Kl ua auch darauf zurückzuführen ist, dass er363 in eine Wohnung gezogen ist, in der er die Wege mit dem Rollstuhl selbständig zurücklegen kann. Dass ihm der Umzug gegenüber einem Pflegebedürftigen, der diese Veränderung nicht vorgenommen hat, beim laufenden Bezug des Pflegegeldes Nachteile in Zusammenhang mit einer Gesetzesänderung einbringen sollte, wäre mit dem Gesetzeszweck unvereinbar, Pflegegeldbezieher vor Kürzungen der ihnen vor der Novelle zuerkannten Pflegegelder zu schützen.

6. Der dem § 48b BPGG entsprechende § 48f BPGG ist daher dahin auszulegen, dass eine „wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs“ nach dieser Bestimmung auch im Fall einer nach dem 1.1.2015 erfolgten Verringerung des Pflegebedarfs nur dann angenommen werden kann, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem 1.1.2015 zum Entzug oder der Herabsetzung des Pflegegeldes berechtigt hätte. [...] Da die §§ 48b und 48f BPGG nur auf eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs abzielen und ihr Anwendungsbereich nicht am Bezug einzelner Pflegegeldstufen festzumachen ist, ist ihre Schutzwirkung nicht nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 zu beziehen. Vielmehr entfalten sie diese Wirkung auch für eine ehemals gewährte (höhere) Pflegegeldstufe (hier: die Pflegegeldstufe 3).

Zu der Frage, ob im Hinblick auf die Gesetzesmaterialien zu § 48f BPGG [...] an der E 10 ObS 184/13a zur Auslegung des § 48b BPGG bei zwischenzeitigen Verschlechterungen (und damit verbundener Pflegegelderhöhungen) künftig festzuhalten sein wird, ist hier nicht Stellung zu nehmen.

7. Der Kl, dem bereits vor dem 1.1.2015 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zuerkannt worden war, fällt somit grundsätzlich in die Gruppe des von § 48f BPGG besonders begünstigten Personenkreises [...]. Es besteht bei ihm seit der Gewährung des Pflegegeldes – durchgehend – auch über den 1.1.2017 hinaus ein Pflegebedarf von jedenfalls 94,5 Stunden pro Monat. Nach der Rechtslage bis Ende 2014 entspricht dies der Pflegegeldstufe 2, nach der 2017 geltenden Rechtslage entspräche dieser Pflegebedarf der Pflegegeldstufe 1. Nach dem Gesetzeszweck des § 48f BPGG sind aber die nach der Rechtslage zum 31.12.2014 geltenden Zeitwerte [...] heranzuziehen (somit die bis Ende 2014 geltende „alte“ Rechtslage). Diese erfordert die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 2 [...].

ANMERKUNG

Mit der vorliegenden E schafft der OGH erfreulicherweise Klarheit in Fällen der Entziehung bzw Herabsetzung eines vor dem 1.1.2011 bzw vor dem 1.1.2015 gewährten Pflegegeldes (in sogenannten Übergangsfällen). Die Anspruchsgrundlagen für das Pflegegeld der Stufen 1 und 2 wurden innerhalb des letzten Jahrzehnts zwei Mal verschärft. Mit dem Budgetbegleitgesetz (BBG) 2011 (BGBl 2010/111BGBl 2010/111) wurden für ein Pflegegeld der Stufe 1 statt vorher mehr als 50 Stunden Pflegebedarf ab 1.1.2011 mehr als 60 Stunden und für die Stufe 2 statt 75 dann 85 Stunden erforderlich. Seit 1.1.2015 (Änderung des Bundespflegegeldgesetzes [BPGG], BGBl 2015/12BGBl 2015/12) sind zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 4 BPGG für die Stufe 1 mehr als 65 bzw für die Stufe 2 mehr als 95 Stunden Pflegebedarf erforderlich. In beiden Novellen gibt es Übergangsbestimmungen (§§ 48b Abs 2 bzw 48f Abs 2 BPGG), die eine Entziehung bzw Herabsetzung allein durch die geänderte Rechtslage verhindern sollen. Der OGH hat dazu bereits in zahlreichen Entscheidungen Stellung genommen, meistens verbunden mit anderen Rechtsfragen. In der Literatur findet man – wie allgemein beim Pflegegeld – Aufsätze nahezu ausschließlich von Greifeneder (ua Budgetbegleitgesetz 2011 – Maßgeblicher Pflegebedarf bei Weitergewährung, ÖZPR 2014/10; Übergangsbestimmung Budgetbegleitgesetz 2011 – eine überraschende Entscheidung des OGH, ÖZPR 2014/50; Herabsetzung und Entzug eines vor dem 1.1.2011 bzw 1.1.2015 gewährten Pflegegeldes, ÖZPR 2018/107). Dem Ergebnis des OGH in der vorliegenden E ist jedenfalls zuzustimmen, wenn auch die Begründung nicht immer stringent ist. In der nachfolgenden Besprechung wird versucht, die einzelnen vom OGH herangezogenen Sachverhalte und Rechtsfragen getrennt darzustellen.

1.
Entziehung und Herabsetzung des Pflegegeldes allgemein

Pflegegeld wird grundsätzlich unbefristet gewährt. Es ist nur dann befristet zuzuerkennen, wenn im Zeitpunkt der E der Wegfall einer Voraussetzung für die Gewährung mit Sicherheit oder sehr hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann (§ 9 Abs 2 BPGG). Wie bei anderen unbefristeten Leistungen im Sozial(versicherungs)recht stellt sich daher die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Pflegegeld herabgesetzt oder auch zur Gänze entzogen werden kann. Der Gesetzgeber normiert diese Voraussetzungen in § 9 Abs 4 BPGG: Die Entziehung hat beim Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung zu erfolgen. Die Neubemessung (Erhöhung, Herabsetzung) hat bei Eintritt einer für die Höhe des Pflegegeldes wesentlichen Veränderung zu erfolgen. Nach der Rsp ist die Entziehung oder Neubemessung zulässig, wenn eine Veränderung des Zustandsbildes (des Gesundheitszustands) des Pflegebedürftigen und in dessen Folge auch eine Änderung des Pflegebedarfes eintritt (RS0123144). Dabei sind die Änderungen im Pflegebedarf zueinander in Beziehung zu setzen, um feststellen zu können, ob eine wesentliche Änderung mit Einfluss auf die Pflegegeldstufe vorliegt. Es müssen also zwei „Veränderungen“ vorliegen – sowohl im Gesundheitszustand als auch im Pflegebedarf. Allerdings findet man auch OGH-Judikatur dahingehend (OGH 22.10.2015, 10 ObS 59/15x), dass die zwischenzeitige Anschaffung nicht einfacher Hilfsmittel (somit ohne Besserung des Gesundheitszustands) ebenfalls eine Neubemessung rechtfertigen könne. Diese E nimmt Bezug auf Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld (2013) Rz 278. Im Ergebnis war in 10 ObS 59/15x die Neubemes-364sung mangels eines entsprechenden Vorbringens der Pensionsversicherungsanstalt dann doch nicht erfolgreich. Andererseits verweisen Greifeneder/Liebhart in der aktuellen 4. Auflage – Pflegegeld (2017) Rz 4.114 auf den OGH (15.12.1998, 10 ObS 333/98p) und führen auch die Gewöhnung an einen bestimmten (eingeschränkten) Gesundheitszustand als Grund für eine Neubemessung an. Als weiteren Grund für eine Neubemessung nennen sie geänderte Wohnverhältnisse (neue Wohnung, bessere Ausstattung der Wohnung). In diesem Zusammenhang darf meiner Ansicht nach aber § 3 EinstV nicht unbeachtet bleiben: Wenn die Verwendung einfacher Hilfsmittel (zB langer Schuhlöffel, Duschsessel, Gehstock) die notwendigen Verrichtungen ermöglicht und die Verwendung zumutbar ist, besteht kein Pflegebedarf (§ 3 Abs 1 EinstV). Die Verwendung anderer Hilfsmittel ist (nur) zu berücksichtigen, wenn diese vorhanden sind oder deren Finanzierung zur Gänze oder zumindest überwiegend durch einen öffentlichen Kostenträger erfolgt (§ 3 Abs 2 EinstV). In der zu besprechenden E hat sich die Veränderung des Pflegebedarfs ua durch einen Wohnungswechsel ergeben. In der Begründung kommt der OGH nur kurz darauf zurück und führt aus, dass es mit dem Gesetzeszweck der Übergangsbestimmung (!) unvereinbar wäre, wenn dem Pflegebedürftigen dieser Umzug beim laufenden Bezug des Pflegegeldes Nachteile im Zusammenhang mit der Gesetzesänderung einbringen sollte. Eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Rechtsfrage, in wie weit der Wohnungswechsel (für den sich zur Frage der Finanzierung keine Feststellungen finden) zu einer Herabsetzung des Pflegegeldes führen kann, ohne den Bezug auf das Übergangsrecht und die meiner Ansicht nach etwas künstlich hergestellte Verbindung, wäre sachgerechter gewesen.

2.
Entziehung und Herabsetzung in Übergangsfällen

Unklarheiten sind nun im Zusammenhang mit Fällen der Neubemessung des Pflegegeldes nach den eingangs dargestellten Rechtsänderungen entstanden. Fraglich war – wie im vorliegenden Fall –, ob bei Prüfung der wesentlichen Veränderung die geltenden, strengeren Anspruchsvoraussetzungen heranzuziehen sind oder die „alten“ Zeitwerte im Zeitpunkt der letzten E. Dabei scheint bei Prüfung des Wortlauts (§ 48f BPGG, aber auch § 48b BPGG) im Zusammenhang mit den Erläuterungen zu den Novellen die Antwort klar zu sein. Eine wesentliche Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfs, die zur Minderung oder Entziehung berechtigt, kann nur dann angenommen werden, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der zum 31.12.2014 (Anm: nach der alten) geltenden Rechtslage eine Minderung oder Entziehung zulässig wäre (Erläuterungen zu Initiativantrag 833/A 25. GP 29; vgl bereits Rudda, zur Pflegereform 2011/2012, SozSi 2011, 483). Dennoch war das Erstgericht im vorliegenden Fall anderer Auffassung und das Berufungsgericht sah unter (missverstandener) Heranziehung von früheren OGH-Urteilen zu Übergangsfällen den Kl vom Schutzzweck der Übergangsbestimmung als nicht erfasst an, weil diese nur Bezieherinnen der Stufen 1 und 2 in ihrem Vertrauen schützen sollte. Aus diesen Gründen sah sich der OGH unter Bezugnahme auf seine Vorjudikatur zu einer ausführlichen Klarstellung veranlasst.

2.1.
Zusätzliche Herausforderungen

In den meisten Übergangsfällen spielten – wie bereits angedeutet – auch andere Rechtsfragen eine Rolle, die nicht immer strikt getrennt wurden und vielleicht deshalb zur Unsicherheit bei den Entscheidungsträgern und Gerichten beigetragen haben.

2.2.
Zuständigkeitsübergang; Anspruch für subsidiär Schutzberechtigte

Die erste Übergangsentscheidung (OGH 12.9.2013, 10 ObS 108/13z) erging eigentlich zu § 48c BPGG (Pflegegeldreformgesetz 2012, BGBl 2011/58BGBl 2011/58), der den Übergang von Pflegegeldansprüchen der Länder auf den Bund regelt. Gem § 48 c Abs 2 BPGG sind § 48 b Abs 1 bis 4 sinngemäß anzuwenden. Ein subsidiär Schutzberechtigter hatte unter Nachsicht vom Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft Pflegegeld nach dem Wiener Pflegegeldgesetz (WPGG) bezogen (mehrfach befristet für die jeweilige Dauer der Aufenthaltsberechtigung). Das BPGG sieht die Nachsichtmöglichkeit von der Staatsbürgerschaft nicht vor. Das in § 48b BPGG normierte Verschlechterungsverbot habe auch in diesem Fall zu gelten: Der Kl habe Anspruch auf Pflegegeld nach § 48c BPGG, wobei die Veränderung des Pflegebedarfs im Hinblick auf die alte Rechtslage zu prüfen sei, weshalb sich ein Eingehen auf die Frage des Anspruchs für subsidiär Schutzberechtigte erübrige. Diese Frage wurde vom OGH erst in einer späteren E mit der Begründung bejaht, dass das Pflegegeld europarechtlich eine Leistung bei Krankheit darstellt und für subsidiär Schutzberechtigte gem § 3a Abs 2 Z 1 BPGG iVm Art 28 RL 2004/83/EG daher Anspruch als den österreichischen StaatsbürgerInnen Gleichgestellte besteht (ua OGH 17.12.2013, 10 ObS 153/13t und 10 ObS 161/13y).

2.3.
Schutz auch in Befristungsfällen

Tatsächlich zur Übergangsbestimmung des § 48b BPGG erging die OGH-E vom 19.11.2013, 10 ObS 107/13b, in der ein Weitergewährungsantrag nach einer Befristung zu beurteilen war. Unter Bezugnahme auf das Schrifttum (wieder Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld) bestätigt der OGH die Rechtsauffassung des OLG, dass auch bei einem befristet gewährten Pflegegeld nur dann eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs vorliegt und daher eine Minderung oder Entziehung gerechtfertigt ist, wenn auch nach der alten Rechtslage eine Minderung oder Entziehung gerechtfertigt wäre.365

2.4.
Zwischenzeitige Verschlechterung; Strukturanpassungsgesetz 1996

Zu Recht kritisiert wurde die OGH-E vom 28.1.2014, 10 ObS 184/13a, auf die das OLG im vorliegenden Fall Bezug genommen hat (vgl Greifeneder, Übergangsbestimmung Budgetbegleitgesetz 2011 – eine überraschende Entscheidung des OGH, ÖZPR 2014/50). Eine Kl bezog zuerst (ab 2006) Pflegegeld der Stufe 1, dann (ab 2011) Stufe 2. Im Entziehungsverfahren zog der OGH die Rechtslage idF des BBG (somit die „neue“ Rechtslage) heran, weil die letzte E eben im Jahr 2011 getroffen wurde. Ebenfalls eine zwischenzeitige Verschlechterung betraf die OGH-E vom 25.4.2017, 10 ObS 36/17t, in der die betragsmäßige Herabsetzung der Höhe des Pflegegeldes der Stufe 1 durch das Strukturanpassungsgesetz (BGBl 1996/201) für zusätzliche Verwirrung sorgt. Im nun vorliegenden Fall nimmt der OGH bedauerlicherweise zur Frage einer zwischenzeitig eingetretenen Erhöhung des Pflegegeldes infolge Veränderung des Pflegebedarfs nicht Stellung, weil der zu beurteilende Fall anders liege und eben keine zwischenzeitige Änderung eingetreten ist. Die vom OGH nun selbst zitierte OGH-E vom 15.12.2015, 10 ObS 129/15s, betrifft im Grunde genommen aber keinen Fall des Verschlechterungsverbots, sondern eine „Stichtagsverschiebung“ in einem anhängigen Sozialgerichtsverfahren auf einen Zeitpunkt nach dem 1.1.2015, wofür es keine ausdrückliche Übergangsbestimmung gibt und somit die neue Rechtslage zur Anwendung kommen muss.

Der OGH stellt nun eindeutig klar: Erfasst vom Schutz sind jedenfalls auch BezieherInnen höherer Pflegegeldstufen (der Kl bezog seit 2012 Stufe 3), weil andernfalls eine nicht zu rechtfertigende Differenzierung entstünde; §§ 48b und 48f BPGG zielen nur auf eine wesentliche Änderung ab und ihr Anwendungsbereich bezieht sich nicht nur auf die Stufen 1 und 2. Die §§ 48b und 48f BPGG sind dahingehend auszulegen, dass eine „wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs“ nur dann angenommen werden kann, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor der Novellierung („alten Rechtslage“) zum Entzug oder der Herabsetzung berechtigt hätte. Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass die Zeitwerte nach der bis zum 31.12.2014 geltenden (alten) Rechtslage als Beurteilungsmaßstab heranzuziehen sind.

3.
Fazit

Durch die vorliegende E ist weitgehend Klarheit betreffend das Übergangsrecht der §§ 48b, 48c und 48f BPGG hergestellt. Die vom OGH nicht ausdrücklich beantwortete Frage in Fällen vorübergehender Verschlechterung kann meiner Ansicht nach nur so beantwortet werden, dass es nicht auf eine zwischenzeitige Verschlechterung bzw zeitweilig gewährte höhere Stufe beim maßgeblichen Vergleichszeitpunkt ankommen kann. Der Schutzzweck der beiden Übergangsbestimmungen kann nur erfüllt werden, wenn bei der ersten (durchgehenden) Gewährung angesetzt wird.

Wünschenswert ist nach meiner Ansicht, dass sich auch andere AutorInnen mit dem Gebiet des Pflegegeldes und den durchaus spannenden Rechtsfragen auseinandersetzen.366